Eine weite Wiese im nebeligen, dunkelblauen Schatten von unendlichen Wäldern, in die kein Vogel dringt!… In ihrer Mitte fließt ein azurblauer Bach … Tausende von Pferden und Stuten tollen im goldigen Licht der neuaufgehenden Sonne… Hunderttausende von Schafen blöken. Gebrüll und Gewieher! [156]In weiter Ferne erheben sich unzählige Gipfel schneebedeckter, hoher Berge, die silbergekrönten Häuptern gleichen, in den Himmel. In der Mitte ein Schloß. Vor der Tür des Gartens, der es umgibt, stehen bewaffnete, berittene Helden und bellen Hunde.
Das ist der Wohnort eines türkischen Bejs.
Der Besitzer dieses Heims ist der fünfundzwanzigjährige Hassan Bej. Er kennt nicht die Zahl seiner Schafe, Pferde, Kamele und seiner in alle Welt ziehenden Karawanen. Die Grenzen seines Besitzes sind unbekannt. Aus Azerbaidschan, Turkistan, Bagdad, Syrien, Anatolien, aus der europäischen Türkei kommen Briefe seiner Leute und sagen: „Mehr als die Hälfte der Welt gehört Hassan Bej.“ Die Reisenden erzählen, daß vom Osten bis zum Westen sein Name genannt wird.
Hassan Bej, der sein Vermögen und seinen Besitz nicht kennt, besaß zwei Zwillingskinder im Alter von sechs Jahren, Turgud und Korkud. Die schönste Frau der Welt, Uludsch Begum hatte sie Hassan im Jahre, da sie ihn geheiratet, geboren. Jeder hielt sie für Feenkinder. So schön waren sie, daß ihre großen schwarzen Augen, die sich gänzlich glichen, zu sehen, die Frauen von den Stämmen, die mehr als einen Monat entfernt wohnten, kamen und Uludsch Begum beglückwünschten.
Hassan Bej war der einzige Sohn seines reichen, heldenhaften Vaters, der vor drei Jahren gestorben war. Jeden Tag ging er auf die Jagd, spielte Polo, dankte Gott für den unzählbaren Reichtum, den ihm das Geschick gegeben, unterstützte die Armen, half den Hilfesuchenden, kurz tat nichts anderes als Gutes, Großes und Heldenhaftes.
Obgleich er so reich war, gab er doch nicht seinen Gelüsten nach, trank nicht, brachte sein Leben mit seiner geliebten Uludsch Begum und seinen Kindern zu, ging früh zu Bett und stand früh auf. Er war sehr glücklich.
Aber eines Nachts erschien ihm im Traum ein Derwisch und fragte ihn:[157]
„Hassan Bej, dir wird ein großes Unglück zustoßen. Soll es in deinem Alter oder in deiner Jugend kommen?“
Er gab keine Antwort und sagte, als er aufwachte: „Hoffentlich läuft es gut ab.“ Er umarmte Turgud und Korkud, die vor ihm aufgewacht waren und küßte sie. An dem Tage war er bis zum Abend weder auf der Jagd noch beim Polo aufgelegt. In der Nacht konnte er in seinem Bette nicht einschlafen. Gegen Morgen kam eine Müdigkeit über ihn. Kaum waren seine Augenlider zugefallen, als der gestrige Derwisch wieder vor ihm stand und, während sein langer Bart sich bewegte, fragte:
„Hassan Bej, über dich wird ein sehr großes Unglück kommen. Soll es in deinem Alter oder in deiner Jugend kommen?“
Wieder fuhr er empor und wachte auf. Seine Kinder und ihre geliebte Mutter schliefen noch. Er sah sie an. Also dieses Heim, dieses heilige Nest, sollte von der grausamen Hand des Schicksals zerstört werden. Aber jetzt oder später? Er fing an nachzudenken. Er konnte sich nicht entschließen, zu sagen: „Jetzt … in meiner Jugend.“ Sollte er nicht Mitleid haben mit einer solchen Frau und solchen zwei schönen Kleinen? Mögen sie groß werden, mag es dann in seinem Alter kommen, was es auch sein möge.
An dem Tage ging er nicht aus. Er saß wie ein Kranker zu Hause. Gegen Abend änderte sich allmählich sein Entschluß. So reich wie Hassan Bej war, so tapfer war er auch. Wie er sich vor keinem Feinde fürchtete, so fürchtete er sich auch nicht vor dem Unglück. Warum sollte er dies Unglück in seinem Alter wünschen? Wenn indessen das Unglück in seiner Jugend über ihn käme, würde er das ihm entgegentretende Unglück mit der Kraft seines Armes erhellen können. Er vertraute auf sich. Da das Unglück ihm nun einmal bestimmt war, sollte es in der Zeit der Kraft und des Feuers, in der Jugend, über ihn kommen.[158]
Sobald er den Entschluß gefaßt hatte, schlief er gut. Im Traum kam wieder der Derwisch und wiederholte seine Frage:
„Hassan Bej, über dich wird ein sehr großes Unglück kommen. Soll es in deinem Alter oder in deiner Jugend kommen?“
Hassan Bej rief: „In der Jugend, in der Jugend“ und wachte auf.
Uludsch Begum und die Zwillinge wachten auf. Er aber sagte ihnen nur: „Schlaft nur. Ich habe im Traum gerufen. Macht es euch nur bequem.“
Bis zum Morgen schloß er kein Auge. Als es Morgen wurde, befahl er die Pferde zu satteln. Er wollte frische Luft schöpfen und einen längeren Ritt machen. Während er mit seinen Leuten aus der Tür des Hauses ging, sah er fünf bis zehn Bettler. Ihre Kleider waren zerrissen. Durch die Risse ihrer Mäntel waren ihre verwundeten Körper zu sehen. Sie schwankten, da sie sich vor Hunger nicht mehr aufrecht halten konnten. Er steckte seine Hand in seinen Busen und zog eine Handvoll Goldstücke heraus und warf sie unter die Armen als Almosen.
Er dachte, sie würden gierig danach greifen. Jedoch keiner rührte sich. Da sagte Hassan Bej: „Ihr Unglücklichen, warum nehmt ihr nicht mein Geschenk?“
Alle riefen einstimmig: „Wir sind keine Bettler.“
Hassan fragte erstaunt: „Woher kommt euer Elend? Wer seid ihr denn?“
Da trat einer von ihnen vor, öffnete die Hände und sagte: „Mein Bej, sieh mich an. Wenn du deutlich hinsiehst, wirst du mich erkennen. Wir waren Verwalter deiner Waren im Osten.“
Hassan Bej war erstaunt, erkannte sie alle und rief aus: „Was ist aus euch geworden? Wie kommt ihr in diesen Zustand?“
Die Leute, die er für Bettler hielt, erklärten ihm genau, was ihnen zugestoßen war.[159]
Chinesen, Räuber, persische Reiter hatten im Osten alles geplündert. Alle Türken, die sie in die Hände bekommen konnten, hatten sie getötet. Mit tausend Mühen und Entbehrungen hatten sich nur diese fünf bis zehn Leute retten können. Der Schaden ließ sich nicht abschätzen.
Hassan Bej verzweifelte nicht und sagte: „Sorgt euch nicht, einem Unglück gegenüber, das von Gott kommt, gibt es nichts anderes als sich fügen.“
Einen ganzen Monat lang kamen jeden Morgen haufenweise Fremde und Bettler und sagten, daß sie zum Hause gehörten. Hassan Bej war nichts übriggeblieben. Alle seine unermeßlichen Waren in Azerbaidschan, im Kaukasus, in Turkistan, Bagdad, Syrien und der europäischen Türkei waren vernichtet und geraubt.
Jeden Tag regnete Unglück über dies Haus.
Eines Tages empörten sich auch die Leute Hassan Bejs, plünderten, verbrannten, zerstörten, raubten alles, was ihnen in die Hände kam. Hassan Bej leistete ihnen mit ein paar treuen Dienern Widerstand. Er rettete seine Frau und die Kinder, war aber gezwungen sein Vaterhaus zu verlassen. Zwei Tage und zwei Nächte durchquerten sie Berge und Hügel. Endlich kamen sie in eine türkische Stadt. Dort kaufte er von dem Gelde, das er bei sich hatte und von den kostbaren Waffen ein Haus. So tapfer wie er war, so gelehrt war er auch. Er sammelte Schüler um sich und wurde Lehrer an einer neuen Schule der Stadt. In seinem Hause waren nur seine Frau und die Zwillinge. Jeden Abend kam er nach Hause und da er dachte, daß dies das Unglück wäre, das ihm in seiner Jugend zustoßen sollte, dankte er Gott.
Eines Tages war er in der Schule. Uludsch Begum hatte ihre Zwillinge spazierengehen lassen. Da hörte man „Feuer, Feuer“ rufen. Die Bevölkerung der Stadt eilte nach dem Viertel, wo Hassan Bej wohnte. Auch Hassan Bej lief. Was sieht er auf einmal? Sein Haus brennt.[160]
Indem er sagte „Einem Unglück gegenüber, das von Gott kommt, bleibt nichts anderes übrig als sich zu fügen“, umarmte er seine Kinder, die ihm in die Arme liefen.
Der Sommer war gekommen. Im Sommer zerstreuten sich die Schulkinder. Da ihm kein Platz zum wohnen geblieben war, zog sich Hassan Bej in ein Dorf zurück. Dort fand er für sich eine kleine Hütte und wurde Rinderhirt. Dies Dorf lag an einer großen Straße. Jeden Tag kamen Reisende und Karawanen vorbei.
Uludsch Begum blieb tagsüber mit den Zwillingen zusammen in der Hütte und wusch die Wäsche der Reisenden und gab ihnen Airan30 und Joghurt. Das Dorf bestand aus fünf bis zehn Häusern und fünfundzwanzig bis dreißig Hütten. Hassan Bej sammelte frühmorgens seine Schafe, Ziegen und Rinder und ging aus dem Dorf. Gegen Sonnenuntergang kam er wieder.
Eines Tages war der persische Gesandte, der aus dem Abendland zurückkehrte, in dem größten Gebäude des Dorfes, einem Steinhause, eingekehrt und hatte seine Wäsche der Frau des Hassan Bej geschickt, um sie zu waschen. Uludsch Begum hatte diese Wäsche gewaschen und am nächsten Tage, nachdem sie sie getrocknet hatte, dem Burschen des Gesandten gegeben. Als der Bursche durch die Hecke der Hütte die Uludsch Begum sah, war er erstaunt, lief sofort zu seinem Herrn und sagte: „Ach, Mirza, wenn du diejenige, die diese Wäsche gewaschen hat, sähest, würdest du rasend.“ Er beschrieb ihm die Schönheit der Uludsch Begum, daß der Gesandte sich, ohne sie zu sehen, in sie verliebte.
Hassan Bej hatte, wie jeden Morgen, seine Herde gesammelt und war der aufgehenden Sonne entgegen gegangen. Da wurde an die Hecke der Hütte geklopft.
Uludsch Begum gab Torgud und Korkud zu essen. Sie eilte zur Türe, weil sie glaubte, daß wieder ein Reisender Wäsche gebracht habe. Es war jedoch der Bursche des Gesandten. Dieser sagte: „Frau, mit der Wäsche, die du gewaschen [161]hast, war seine Exzellenz der Gesandte sehr zufrieden. Er will dir diesen Backschisch geben.“ Dabei zeigte er ihr einige Goldstücke, die er in der Hand hatte. Uludsch Begum wollte sie nicht nehmen. Der Bursche drang in sie. Als sie schließlich, um sie zu nehmen, errötend ihre Hand durch den Türspalt steckte, ergriff der Bursche sie und zog sie hinaus. Uludsch Begum schrie und versuchte Widerstand zu leisten. Sie hatte keine Waffen. Auf den Lärm kamen auch die Kinder herbei. Einige Perser erschienen noch und stürzten sich auf Uludsch Begum, banden sie, verstopften ihr den Mund, setzten sie auf den Sattel eines Pferdes, schlossen sich im Galopp dem vorausreitenden persischen Gesandten an und verschwanden in den Gebüschen des Weges, der nach Persien geht, und in dem Staub, den sie aufgewirbelt hatten.
Am Abend kehrte Hassan Bej, nachdem er seine Herden entlassen, in seine Hütte zurück. An der Tür fand er Torgud und Korkud. Beide sagten einstimmig: „Vater, heute hat der persische Gesandte unsere Mutter geraubt und ist mit ihr entflohen.“
Hassan begriff, daß jetzt das schlimmste Unglück ihn getroffen habe, aber er war nicht niedergeschlagen und weinte nicht und sagte: „Einem Unglück gegenüber, das von Gott kommt, bleibt nichts anderes übrig als sich zu fügen.“
Er faßte seine Kinder an die Hand, legte in seinen Rucksack etwas Brot und ging den Blick zur Erde, die Schultern gebeugt langsam nach Persien. Sie folgten den Spuren der Hufe, die noch nicht verwischt waren.
Als Hassan Bej in Gedanken versunken dahinging, freuten sich seine Kinder in dem Gedanken, daß sie ihre Mutter suchten. Nacht und Tag, Morgen und Abend gingen sie geradeaus über Berge und Hügel. Sie schliefen in den Höhlen der Wälder und tranken das Wasser aus den Quellen, die sie fanden.
Eines Tages sah Hassan Bej, daß vor ihrem Wege ein breiter Strom floß. Auf der rechten Seite des Stromes war [162]ein Wald. Er fand eine Furt. Wenn er beide Kinder in den Arm nähme, würde er die Furt nicht durchschreiten können. Er dachte: „Zuerst werde ich einen von ihnen hinüber bringen und drüben lassen, dann umkehren und den anderen holen.“
Er nahm Torgud in die Arme und sagte zu Korkud: „Mein Junge, passe auf uns auf. Ich werde deinen Bruder drüben lassen und dann zu dir umkehren.“
Er ging ins Wasser. Das Wasser reichte ihm bis an die Hüfte und kam allmählich bis an die Schultern. Er gab Acht, daß er nicht von der Strömung ergriffen würde. Da hörte er hinter sich ein jämmerliches Geschrei. Der am Ufer zurückgebliebene Korkud schrie. Er wandte den Kopf um und sah, daß ein großer Bär das Kind ergriffen hatte und mit ihm in den Wald ging. Er beeilte sich, wieder die Waldseite zu erreichen. Dabei stieß er an einen Stein, schwankte, fiel und Torgud, den er im Arm hielt, wurde vom Wasser ergriffen und fortgerissen. Wie sehr er sich auch bemühte, ihn durch Schwimmen zu erreichen, es glückte ihm nicht.
Schließlich kam er ganz allein drüben an, setzte sich auf einen Stein, stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. In einem Augenblick hatte er beide Kinder verloren, die er noch vor fünf Minuten in seinen Händen hielt. Trotzdem wurde er nicht mutlos und weinte nicht, sondern sagte: „Einem Unglück gegenüber, das von Gott kommt, bleibt nichts anderes übrig als sich zu fügen“, und setzte den Weg nach Persien, den er zur Hälfte zurückgelegt hatte, fort.
Als er nach Persien kam, fragte er nach dem Gesandten und ließ überall suchen. Niemand kannte ihn. Es hieß, er sei jetzt nach Indien gegangen. Zehn Jahre lang durchwanderte er Persien, fand aber keine Spur von seiner Frau. Schließlich kam er in die Hauptstadt und suchte sie dort.
Eines Tages ging er an einer Versammlung vorbei. Drinnen stritten sich die Lehrer und Gelehrten. Er hörte zu [163]und gab Acht. Es sollte auf Befehl des Schahs als Gegenstück zu dem persischen Heldenbuch ein turanisches31 Heldenbuch geschrieben werden. Die Weisen stritten sich untereinander, indem jeder sagte: „Du kannst das nicht schreiben, ich werde es tun.“ Hassan Bej sagte sofort: „Brüder, ich bin auch schreibgewandt. Wenn ihr wollt, werde ich es schreiben.“
Die Gelehrten und Dichter hielten alle den Hassan Bej für verrückt, lachten und sagten: „Kerl, du bist ein Türke und verstehst nichts anderes als reiten und das Schwert zu gebrauchen. Geh an deine Arbeit.“
Hassan Bej antwortete: „Ich bin ein Türke, aber ich kann die Feder ebenso gut wie das Schwert gebrauchen. Macht einen Versuch. Ich werde es schreiben. Wenn es euch nicht gefällt, zerreißt es, werft es weg und jagt mich davon.“
Die Gelehrten, Fürsten und Lehrer gaben diesem seltsamen Türken ein Blatt und Feder, um sich über ihn lustig zu machen. Hassan Bej setzte sich hin und schrieb in einem Anlauf das erste Lied des turanischen Heldenbuches. Alle, die es lasen, waren erstaunt.
Die Perser gaben dies Gedicht, gleich als ob sie es selber geschrieben hätten, dem Schah. Der Schah war ein sehr schöner, alter Mann, der den Grad der Fähigkeiten und Geschicklichkeit seiner Dichter sehr wohl kannte, und sagte: „In unserem Lande ist keiner, der ein solches Gedicht schreibt. Sucht den, der es geschrieben und bringt ihn zu mir.“
Da konnten die Perser die Wahrheit nicht verbergen und gaben den Hassan Bej an. Der Schah machte ihn zur Belohnung für seine Begabung zu seinem Hofdichter und trug ihm auf, das turanische Schahname zu schreiben.
Hassan Bej war jetzt von aller Not befreit, aber er dachte nicht an Reichtum und Besitz, sondern konnte seine geliebte Frau Uludsch Begum und Torgud und Korkud nicht vergessen. Er verbrachte sein Leben in dem Palast des [164]Schahs gleichwie in einem Gefängnis verzweifelt und bedrückt zu.
Der Bär, der Korkud ergriffen hatte, hatte seine Beute nicht gefressen und nicht getötet, sondern ihn in seine Höhle gebracht und gefüttert. Das Kind fand im Sommer die Gelegenheit in ein Dorf zu entwischen. Dort kam es auf das Gut eines Bejs. Torgud, den der Strom fortgerissen hatte, war nicht ertrunken. Der Strom hatte ihn in das Rad einer Mühle getrieben. Als das Rad stillstand, war der Müller hingelaufen und hatte dies Kind, das ihm der Strom zugeführt hatte, als Sohn angenommen.
Sommer und Winter waren vergangen. Nach zehn Jahren waren die Kinder erwachsen und immer schöner geworden. Wohl weil sie Zwillinge waren, erinnerten sich beide zu gleicher Zeit, daß sie einst eine Mutter gehabt hatten, daß diese von dem persischen Gesandten geraubt sei und daß ihr Vater, um diesen Gesandten zu suchen, nach Persien gegangen sei. Eines Tages machten sie sich beide auf den Weg nach Persien und trafen sich. Nachdem sie sich begrüßt hatten, fragten sie sich:
„Bist du ein Türke, Bruder?“
„Ja, ich bin ein Türke.“
„Dann sind wir ja stammverwandt.“
„Sicherlich.“
„Wohin gehst du?“
„Nach Persien.“
„Ich auch.“
„Dann können wir ja zusammengehen und Reisegenossen sein.“
„Sehr wohl.“
„Sehr wohl.“
Dann durchwanderten sie Täler und Höhen und kamen schließlich in die Hauptstadt Persiens. Diese jungen Reisenden waren so schön, so gesetzt, daß selbst das Schloß von ihrer Schönheit hörte und der Schah sie an den Hof holte.[165]
Das Türkentum und die Stammesliebe verband sie beide so sehr, daß sie, obwohl sie nicht wußten, daß sie die gleichen Eltern hatten, sich nicht voneinander trennten. Sie ritten zusammen, lernten ihre Aufgaben zusammen und machten ihre Übungen zusammen.
Inzwischen war ein Jahr vergangen. Die beiden Lieblinge des Hofes waren siebzehn Jahr alt geworden. Jetzt war ihre Tapferkeit und ihre Geschicklichkeit im Reiten, im Waffengebrauch, im Bogenschießen ebenso berühmt wie ihre Schönheit geworden. Eines Tages wünschte ein Gesandter, der ins Abendland ging, zwei Helden, um seinen Palast zu schützen. Der Schah wollte seinen alten Gesandten erfreuen und gab ihm diese beiden Helden, die er am meisten liebte. Der Gesandte nahm diese beiden einander ähnlichen Helden, die der Schah ihm schenkte, an, brachte sie in seinen Palast und gab ihnen die Schlüssel zu seinem Harem. Er selbst stieg zu Pferde und ging auf seinen neuen Posten.
Torgud und Korkud wohnten seit drei Monaten als Wächter im Palast des persischen Gesandten. Der Sommer kam, die Nächte wurden kürzer und die Nachtigallen fingen an zu singen. Vor der Tür des Harems war ein mit eingelegter Perlmutterarbeit verzierter Vorraum. Bei Mondschein setzten sich die beiden dorthin, schauten in das silberne Wasser, das aus dem Springbrunnen eines gegenüberliegenden Beckens sprang, und in den Widerschein des Mondes darin und erzählten sich von diesem und jenem. Gerade über diesem Sitzplatze war ein vergitterter Balkon.
Wieder stieg der Mond empor, indem er die Wolken verscheuchte und tauchte alles in ein blaues Licht. Torgud und Korkud standen in den Geruch, der aus den Blumen emporstieg, und in das blaue Dunkel, das unter den Zweigen der Bäume herrschte, versunken.
Beide waren geborene Dichter. Die Muse der Inspiration erwachte in ihnen. Torgud sagte:[166]
„Einst glänzte mir des Lebens Sonnenschein.
Ich nannte Vater, Mutter, Bruder mein.
Die Mutter haben Perser mir gefangen.
Nicht weiß ich, wo der Vater hingegangen.
Noch vor dem Frühling ist der Herbst schon da;
Nacht ist’s, noch eh das Morgenrot ich sah.
Der Strom hat mich ans Mühlenrad getrieben.
Was tat der Bär wohl mit Korkud, dem lieben?“
Korkud antwortete folgendermaßen:
„Dein Funken hat in mir ein Licht entfacht,
Das wie ein Blitz erhellt des Dunkels Nacht.
Beim Bären einst ich lange Zeit verweilte,
Sein Lager jahrelang ich mit ihm teilte.
Sag’, Freund, bist du Torgud, der Bruder mein?
Bist du’s, so sag’, wo mag der Vater sein?
Die Eltern suchend zog ich in die Weite.
Beim ersten Schritt standst du an meiner Seite.“
Als die beiden Brüder sich erkannten, sagten sie: „Ach, Bruder“ und umarmten sich und weinten. Nach kaum einer Minute hörten sie unter Tränen ein Geräusch. Sie hielten an und hörten genau hinan.
Eine ungeduldige Hand schlug an das Gitter des Balkons. Als das Geräusch sich gelegt hatte, hörten sie die Stimme einer schluchzenden Frau folgende Worte sagen:
„Zehn Jahre lang bin ich in fremden Landen.
Der Ehre wegen liege ich in Banden.
Die Kinder sind gekommen, mich zu retten,
Zu lösen mich aus meines Feindes Ketten.
Mein Torgud und Korkud, ihr meine Freude.
Ich setze meine Hoffnung auf euch beide.
Ach, kommt und gebt mir meine Freiheit wieder!
Matt ist mein Geist und müde sind die Glieder.“
Die beiden Brüder sprangen auf, zerbrachen die Tür des Köschks32 und stiegen nach oben, öffneten die Tür des Zimmers und traten ein. Eine bleiche Frau, deren Haare über die Schultern fielen, streckte ihre in Ketten liegenden [167]Arme der Türe entgegen und wartete auf sie unter Tränen. Sie stürzten sich sofort in diese heiligen Arme.
Die Frau sagte: „Ach, meine Kinder, ich bin eure Mutter.“
Sie waren verwirrt, konnten es nicht glauben und hielten es für einen Traum.
Es war jedoch kein Traum, sondern Wahrheit. Der Gesandte, der Uludsch Begum geraubt hatte, hatte sie, weil sie ihrem Manne treu blieb, in seinem Harem eingekerkert. Der Gesandte ließ immer, wenn er wegging, für seinen Palast zwei Wächter zurück. Uludsch Begum, die sich in zehn Jahren dem Perser nicht hingegeben hatte und in den Nächten aus Kummer über ihre Kinder nicht hatte schlafen können, hatte der Poesie der unten plaudernden jungen Wächter zugehört und erkannte, daß es ihre Söhne seien. Sie holte sie hinein, und sie fingen an zusammenzuleben. Der Gedanke an ihren unglücklichen Vater Hassan Bej minderte ihre Freude. Sie beteten, daß er gesund sein möge.
Uludsch Begum tröstete ihre Kinder und sagte: „Sorgt euch nicht. Ich glaube nicht, daß er gestorben ist, da wir uns ja wiedergefunden haben. Der große Gott wird uns auch mit ihm vereinigen.“
Die Tage des Glücks vergehen schnell. Eines Tages kam der Gesandte. Als er erfuhr, daß die beiden Wächter im Harem seien, hielt er es vor Zorn und Wut nicht einmal mehr nötig, Untersuchungen anzustellen, sondern lief in das Schloß, beklagte sich beim Schah und flehte, daß die beiden Wächter, die seine Ehre angegriffen hätten, und die Frau sofort hingerichtet werden sollten. Der Schah war ein sehr weiser und bedächtiger Mann und sagte: „Ohne richterliches Verfahren gibt es keine Hinrichtung. Wir wollen sie hierher holen und fragen, warum sie dies Verbrechen begangen haben. Nachdem wir ihre Antwort angehört haben, wollen wir sie aufhängen.“
Der Gesandte konnte nicht widersprechen. So wurde denn ein Rat zusammengerufen. Die Soldaten gingen hin und holten Uludsch Begum und ihre beiden Söhne. Die [168]Untersuchung verlief sehr tragisch. Als Uludsch Begum auseinandersetzte, wie sie ihre Kinder gefunden und wie der Gesandte sie aus ihrem Heim geraubt habe, weinte die ganze Versammlung.
Währenddessen stand der Hofdichter des Schahs, Hassan Bej, auf und umarmte Uludsch Begum und seine beiden Söhne mit den Worten: „Ach, meine Frau, ach, meine Söhne!“
Der Schah war über dies Ereignis so aufgeregt, daß er, ohne auf die Fürbitte Hassan Bejs zu hören, sofort den Gesandten aufhängen ließ, seinen Palast dem Hassan Bej schenkte und ihn zum Großvezir machte.