Wie Frau Lureley mit ihren sieben Töchterlein ihn zu seinem Urvater, dem Mondenschäfer Damon, fährt, und wie dieser nebst den andern Altvätern begraben wird; wie er seine Mutter findet und die Rückreise antritt.
Als ich hinabgesunken, stand ich in einer grünen Laube von Wasserbinsen geflochten; die vier Pfähle, worauf sie ruhte, waren vier Korallenbäume; rings herum standen sieben Wasserlilien, und auf jeder saß eine sehr traurige Jungfrau; in der Mitte aber saß dasselbe holdselige Weib, das ich auf dem Felsen gesehen hatte, als unser Boot unterging. Ich war in ihren Anblick ganz verloren, sie aber schien mich nicht zu bemerken und sang also –
Frau Lureley:
Es fahren die Lebenden über den See,
Sie bringen den Toten nach Haus;
Es hebt sich ein Wetter am Berg in die Höh,
Der Wind macht die Wellen so kraus:
Töchterlein, Töchterlein Herzeleid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Herzeleid:
Ich habe gesponnen manch Kissen reich
Von Gold und Seide und Samt,
Drauf liegt des Helden Haupt gar weich,
Dem dieses Haus entstammt.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Liebesleid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Liebesleid:
Ich habe gesponnen drei Särge breit,
Drei Särge von Elfenbein,
Sie stehen und harren schon lange Zeit –
Drei Greise steigen hinein.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Liebeseid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Liebeseid:
Ich habe gesponnen von Gold so rot
Ein Herz im dunklen Haus;
Der treu gestorben den Liebestod,
Des Beinlein füllen es aus.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Liebesneid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Liebesneid:
Ich habe gesponnen zwölf Mühlstein rund –
Zwölf Mühlstein im dunkeln Haus,
Die wider die Liebe geschworen den Bund,
Zwölf Knappen füllen sie aus.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Liebesfreud!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Liebesfreud:
Ich habe gesponnen den Perlenkranz
Gesponnen den Perlenstrauß,
Der schmücket die holde Braut zum Tanz,
Der schmücket die Liebste zu Haus.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Reu und Leid!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Reu und Leid:
Ich habe gesponnen die goldne Kron,
Die Krone im dunklen Haus,
Die reichet dem Vater zu Dank der Sohn
Und ziehet den Pelzrock ihm aus.
Frau Lureley:
Töchterlein, Töchterlein Mildigkeit!
Was hast du gesponnen so lange Zeit?
Mildigkeit:
Ich habe gesponnen drei Krönelein,
Drei Krönelein im dunklen Haus,
Zu schmücken die artigen Söhnelein,
Goldfischlein und weiße Maus.
Als sie so gesungen hatten, stand die schöne blonde Frau auf und sprach zu mir: »Nun, lieber Radlauf, komm!« – und da nahm sie mich mit einer überaus holdseligen Miene an der Hand und führte mich durch die Wellen, die wie zwei Mauern von Kristall fest neben uns hinliefen; vor uns aber ging erst Herzeleid mit ihrem schöngestickten Samtkissen, dann Liebesleid, neben der die drei Elfenbeinsärge herschwammen, ihr folgte Liebeseid mit einer goldnen herzförmigen Kapsel, Reu und Leid mit einer goldnen Krone, Mildigkeit mit drei kleinen Kronen, Liebesfreud mit Perlenkranz und Perlenstrauß. Dann ging ich an der Hand des lieben blonden Wasserfräuleins, und hinter uns ging Liebesneid mit einer Rute und trieb die zwölf Mühlsteine wie eine Herde Schafe vor sich her. Bald kamen wir an einen Felsen, der sich auftat, und nun stiegen wir viele Treppen hinan, bis wir in einem gewölbten Saale ankamen; da stand ein großer Tisch von gewachsenem Erz, und oben an dem Tisch saß ein uralter Mann; er stützte sein bleiches Angesicht auf seine zwei Hände, seine Ellenbogen ruhten auf dem Tisch, sein silberweißer Bart war durch den Tisch durchgewachsen und glänzte wie Asbest, seine Augenbrauen waren auch sehr lang, und seine Augen sahen unter ihnen durch eine große blitzende Brille wie zwei traurige Gefangene hervor; er hatte einen Schäferrock an von dem zartesten Lammfell, einen breiten goldgelben Schäferhut auf, auf dem die Fürstenkrone befestigt war, und um seinen Nacken hing ein Lamm, dessen Beine über seine Brust zusammengebunden waren; in seinem Arm lehnte ein hoher weißer Schäferstab; an seiner Seite hing ein Dudelsack von einem schwarzen Bocksfell; neben ihm saß ein zottiger Schäferhund mit seiner Laterne im Maul. – Er war ganz still und schien mit offnen Augen zu schlafen; zu seiner Rechten saß der Grubenhansel in seinem Knappenhabit, dann saß der Kautzenveitel in seinem Eulenwams, und dann der Kohlenjockel in seiner Kohlenjacke; alle in derselben Stellung, alle ganz still; die zwölf Knappen aber saßen ringsum auf der Erde mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
Erstaunt über diesen Anblick wollte ich fragen, ob dieser alte wunderbare Schäfer mein ältester Ahnherr sei, und ob alle meine andern Urväter hier tot seien oder nur schliefen. Aber die liebe blonde Frau Lureley hielt mir den Mund zu und winkte mir mit dem Finger, zu schweigen; hierauf begann sie mit einer hellen Silberstimme zu singen:
Heil dem, der die Zeit erfüllet,
Der die ewgen Maße mißt
Und die Pein mit Schlaf umhüllet,
Wenn die Schuld versühnet ist.
Damon, der den Fluch gewecket,
Blicke auf und schlafe ein,
Auf die Kissen ausgestrecket
Bettet dich Frau Mondenschein.
Hans, der treulos auch mißtrauet,
Blicke auf und schlafe ein,
Dir ward auch ein Sarg gebauet.
Dich begräbt Frau Edelstein.
Veit, dein Trug kam an die Sonne,
Blicke auf und schlafe ein,
Dir ward auch ein Sarg gesponnen,
Dich begräbt Frau Federschein.
Jockel, der nicht Wort gehalten,
Blicke auf und schlafe ein,
Dich legt wie die andern Alten
In den Sarg Frau Feuerschein.
Während diesem Liede ging Frau Lureley an dem Tische umher und stieß die vier Alten an: da erwachten sie, sahen sich einander und die Frau Lureley und mich gar innerlich freudenselig an und lächelten und weinten und nickten mir freundlich und küßten mich der Reihe nach auf die Stirne; und auch ich mußte heftig weinen; dann aber sang Frau Lureley wieder, und alle sangen mit:
Heil dem, der die Zeit erfüllet,
Der die ewgen Maße mißt
Und die Pein mit Schlaf umhüllet,
Wenn die Schuld versühnet ist.
Und unter diesem Gesang schliefen die vier wundersamen Greise einer nach dem andern wieder ein und sanken mit ihren Häuptern auf den Tisch nieder. Nun tat sich hinter ihren vier Sesseln die Felsenwand in vier Türen auf, und vier schöne wunderbare Frauen, jede mit einem Gefolge von seltsamen Jungfrauen kamen herein. Hinter dem Stuhle des Urahngroßvaters Damon trat eine schlanke Frau mit schneeblonden Haaren auf; sie hatte einen schneeweißen Schleier an, der sie ganz bedeckte bis auf ihre silbernen Schuhe, ihr Angesicht glänzte wie der Mond, und um die Stirne hatte sie einen Kranz von weißen Nachtviolen mit einer Menge von Johanniskäfern besetzt; sie ging auf meine Führerin zu, und sie grüßten einander folgendermaßen –
Frau Mondenschein:
Grüß dich Gott, Frau Lureley fein!
Mit deinen sieben Töchterlein;
Ich möchte gern wissen,
Ob fertig die samtenen Kissen?
Ihr antwortete Frau Lureley:
Schön Dank, schön Dank, Frau Mondenschein!
Mit deinen sieben Jungfräulein:
Mit Palmenkätzchen und Spinnenseil,
Mit Blumenfädchen und Schneckenpfeil,
Mit Mottenflügel, Johannislicht,
Altweibersommer vergeß ich nicht.
Die Sammetkissen sind bereit
Von meinem Töchterlein Herzeleid.
Hierauf nahm Frau Mondenschein nebst ihren Mägdelein die samtnen Kissen; sie schnitt dem alten Mondschäfer den Bart mit einer silbernen Schere vom Tische ab, und sie legten dann den alten Herrn auf die Kissen und trugen ihn stille zu ihrer Türe hinaus. Nun nahte sich die Frau, die hinter dem Grubenhansel stand, meiner Führerin; sie war auch sehr schön, aber doch eines ernsthafteren Anblicks als Frau Mondenschein; ihre Haut war schneeweiß, ihre Haare schön goldfarb; ihre Augen schillerten ins Grüne; Mund und Wangen waren lichtrot; groß war sie nicht, aber ungemein rüstig und fest in ihren Bewegungen; auch trug sie eine Schürze von Goldstoff und einen Brustharnisch von geschlagenem Gold mit Edelsteinen besetzt; ihr Kopf aber schimmerte von tausendfarbigen Edelsteinen; sie nahte sich mit ihren sieben Begleiterinnen der Frau Lureley und sprach –
Frau Edelstein:
Grüß dich Gott, Frau Lureley fein!
Mit deinen sieben Töchterlein;
Ich möchte gern berichtet sein,
Ob fertig der Sarg von Elfenbein?
Da antwortete ihr Frau Lureley:
Schön Dank, schön Dank, Frau Edelstein!
Mit deinen sieben Erdfräulein:
Zinnober, Naphtha und Asbest,
Quecksilber, die keine Ruhe läßt,
Spiesglanz und auch Marienglas,
Kobold, die lacht ohn Unterlaß.
Nimm hin den Sarg, er steht bereit
Bei meiner Tochter Liebesleid.
Nun nahm Frau Edelstein einen von den drei Särgen, die bei der Jungfrau Liebesleid standen, und legte dann mit Hilfe ihrer sieben Mägdelein den Grubenhansel hinein, worauf sie mit demselben durch die Türe hinwegzogen.
Die Frau, welche hinter dem Kautzenveitel stand, hatte schöne braune Locken und blaue lustige Augen; ihr ganzes Wesen war fröhlich und leicht und sanft und heftig zugleich; sie hatte einen Mantel von lauter Pfauenfedern an, und in jedem Ohre einen Kolibri hängen; auf dem Kopfe trug sie einen roten Kranz von Vogelbeeren, der, mit glänzenden Federn umsteckt, eine Krone bildete. Sie sprach zu Frau Lureley –
Frau Phönix Federschein:
Grüß dich Gott, Frau Lureley fein!
Mit deinen sieben Töchterlein;
Ich hätte gern von dir Bescheid,
Ob mir auch ward ein Sarg bereit?
Da antwortete ihr Frau Lureley:
Schön Dank, schön Dank, Frau Federschein!
Mit deinen sieben Luftfräulein:
Mit Pfauenauges Farbenblitz,
Mit Reiherbusch und Schwalbenwitz,
Mit Turtel, Flämmchen, Nachtigall
Und Schwanenliedes Trauerschall.
Nimm dir den Sarg, er steht bereit
Bei meiner Tochter Liebesleid.
Frau Phönix Federschein empfing nun den zweiten elfenbeinernen Sarg von Jungfer Liebesleid, legte mit ihren Luftfräulein den alten Kautzenveitel hinein und zog mit ihm zu ihrer Türe hinaus.
Nun war nur noch die Frau hinter Kohlenjockels Sitz übrig; aber sie füllte mit ihrem Gefolge doch die ganze Stube aus; denn sie waren meistens von einer lebendigen Art und konnten mit Geräusch und Hin- und Herzucken gar nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte hochrote Locken, die ihr wie Flammen um das bewegliche Köpfchen spielten; ihr Antlitz glänzte wie eine Sonne, und blaue Adern schossen wie Schlangen unter ihrer weißen Haut hin und her, und war sie so hastig und lebendig, daß man ihr das Herz unter ihrem Röcklein von Asbest hüpfen sah. Sie stürzte auf Frau Lureley zu und sprach –
Frau Feuerschein:
Grüß dich Gott, Frau Lureley fein!
Mit deinen sieben Töchterlein;
Nun sag mir gleich, sag mir geschwind,
Wo ich den Sarg bereitet find?
Da antwortete ihr Frau Lureley:
Schön Dank, schön Dank, Frau Feuerschein!
Mit deinen sieben Glutfräulein:
Mit Flämmlein und mit Fünklein klein,
Mit Lichterloh und Ascherlein,
Mit Hitzenblitz und Rußerauch
Und Fräulein Kohlenschwärzel auch.
Der dritte Sarg steht dir bereit
Bei meiner Tochter Liebesleid.
Da fuhr Frau Feuerschein mit ihrem Gefolge schnell auf den Sarg los; sie faßten den alten Kohlenjockel und legten ihn hinein und eilten mit ihm ihre Türe hinaus.
»Diese alten Herren haben nun alle ihre Ruhe,« sagte Frau Lureley, »und nun muß ich den zwölf frechen Mühlknappen, die mich so oft verhöhnt und verraten haben, auch ihren Lohn geben«; da befahl sie ihrem Töchterlein Liebesneid, welche die zwölf Mühlsteine bereitet, sie sollte vor jeden dieser Knappen einen der Steine hinwälzen. Liebesneid trieb die Steine vor sich her, und vor jedem Knappen blieb einer stehen. Da sprach Frau Lureley:
So viel Narren, so viel Kappen;
Auf, ihr alten frechen Knappen!
Fahret durch die breiten Kragen,
Die ihr sollt wie Ratsherrn tragen,
Setzt euch um den Tisch herum,
Sinnt und denkt und bleibet stumm.
Nach diesen Worten fuhren die zwölf Knappen mit ihren Köpfen durch die Löcher der Mühlsteine durch und setzten sich wie zwölf Ratsherren mit breiten Kragen um den Tisch ganz stockstill herum, als hätten sie eine große Sorgenlast auf den Schultern. Nun zog Frau Lureley mit mir und ihren sieben Töchterlein durch die Türe hinweg, durch welche Frau Mondenschein gegangen war. Wir traten in eine schöne Kirche von wunderbar künstlicher Bauart; sie bestand aus fünf Kapellen, die in der Gestalt eines Kreuzes aneinander gebaut waren. Die mittelste war höher und aus ihr überschaute man die vier andern. Die Kapelle in der Mitte war ganz dunkelblau und mit einem Schimmer von Mondenschein durchgossen; denn die Kuppel von blauem Glas war von einem vollen Monde und vielen Sternen erleuchtet; ihr Boden war mit lebendigen Blumen besät und schien ein zarter Rasen zu sein. Lämmer von Alabaster lagen um einen marmornen Sprudelquell, der zu den Füßen eines künstlichen Felsens von Blumen umwachsen murmelte; in diesem Felsen aber lag in einer Höhle der Leib des Mondenschäfers mit dem Samtkissen, die mit Thymian und Würzkräutern ausgefüllt waren, und man konnte den alten Herrn sehr wohl durch einige Kristallscheiben, die vor der Höhle angebracht waren, betrachten; auf dem Felsen aber ruhte ein Schäfer von Marmor; er hatte eine Flöte und einen Hund neben sich und schien über dem Gemurmel der Quelle in angenehmen Träumen entschlummert; über dem Eingange dieser Kapelle aber standen folgende Worte:
Hier ruht Damon, der gute Hirt, der
erste Fürst von Starenberg, er verlangt
nichts mehr zu wissen.
Die Kapelle gegen Mitternacht war ganz finster, und Wände und Kuppel waren mit unzähligen Erzstufen, Edelsteinen und Mineralien bedeckt, und der goldene Sarg, worin der Grubenhansel lag, stand unter einem Gebäude von Kristall, auf dem ein Bergknappe saß von gediegenem Gold, der mit einem silbernen Grubenlichte auf dem Kopfe einen wunderbar zauberischen Schimmer über die funkelnden Wände warf; über dem Eingang dieser Kapelle standen die Worte:
Hier ruhet Johannes, der emsige Bergmann,
zweiter Fürst von Starenberg, er verlangt
nichts mehr zu wissen.
Hier traten wir in die Kapelle gegen Morgen; sie war ganz eine große Laube von Marmor in durchbrochener Arbeit, und die Räume zwischen den Zweigen und Blättern waren mit durchsichtigen roten und saferanfarbigen Edelsteinen ausgefüllt; von außen aber war die Kapelle mit unzähligem Rankengewächs umzogen, und man glaubte, wenn man in der Mitte stand, in einer von der Morgenröte durchschimmerten Laube zu stehen; in der Mitte der Kapelle stand in einem goldenen Käficht von der schönsten Arbeit der Sarg, in welchem man den Leichnam des Kautzenveitel in seiner Vogelstellertracht ruhen sah; über dem Käficht aber erhob sich ein silberner Baum mit goldnen Blättern und Vogelbeertrauben von Rubin. Mitten in diesem Baume saß ein Jüngling von Alabaster mit einer Eule auf der Hand, und alle Zweige des Baumes waren mit den schönsten und künstlichsten Vögeln bedeckt, die aus mancherlei Federn und Edelsteinen bunt zusammengesetzt waren. Über dem Eingang der Kapelle aber stand:
Hier ruht Veit, der Vogler, dritter Fürst
von Starenberg, er begehrt nichts mehr
zu wissen.
Hierauf betraten wir die Kapelle gegen Mittag; sie war aus glänzenden Schlacken erbaut und mit mancherlei Schmelzwerk ausgeziert; ihre Kuppel bestand aus feuerfarbenem Glase, durch das die Sonne in wunderbarem Glanze hereinstrahlte; in der Mitte stand der Sarg des Kohlenjockels, von goldenen Flammen umgeben, und über ihm stand ein Jüngling von Erz, der in den Händen ein Becken voll lebendigen Feuers trug – über dem Eingang standen die Worte:
Hier ruht Jakob, der Köhler, der vierte
Fürst von Starenberg, er verlangt nichts
mehr zu wissen.
Alle diese Kapellen war ich an der Seite der schönen Frau Lureley durchwandelt, und nun traten wir in die letzte gegen Abend. Sie war von weißem Marmor und ruhte auf goldnen Säulen, welche Garben vorstellten; in der Mitte durchfloß sie eine lustige Quelle, die ein silbernes Mühlrad trieb, das, mit harmonischen Schellen behängt, ein liebliches Getön hervorbrachte; sonst war noch kein Sarg hier und kein anderes Bild, auch keine Inschrift stand über dem Eingang.
Als die blonde Frau hereintrat, ward sie sehr traurig und weinte, und sagte zu mir: »Radlauf, gib mir die Gebeine des schwarzen Hans.« Ich gab sie ihr, sie benetzte sie mit ihren Tränen, legte sie in die goldne herzförmige Kapsel, die ihr Mägdlein Liebeseid gesponnen hatte, und hängte sie über dem Rade an einer silbernen Kette auf, die von der Decke herabhing. In dem Augenblick stürzte ein ungeheurer Schwarm von Staren mit durchdringendem Geschrei durch die offne Kuppel der Kapelle, und Lureley sprach zu ihnen:
»Die Tage der Rache sind zu Ende, ihr treuen Diener eures unglücklichen Herrn! Geht auf den Hof des Schlosses, ich will euch seinen frommen Sohn vorstellen.« Nach diesen Worten hoben sich die Stare von dannen, und sie sprach zu mir: »Mein teurer Radlauf, erschrecke nicht über das, was ich dir sagen werde, unterbrich auch nicht meine Rede mit Worten und Fragen und Ausrufungen; sobald du redest, muß ich dich verlassen, und du zerbrichst ein Werk, was dich und mich beglücket; reiche mir deine Hand, umarme mich, o komm an mein Herz, ich bin deine Mutter.« Hier schloß sie mich in ihre Arme; Schauer und Entzücken nahmen mir die Sinne; aber sie benetzte mein Antlitz mit dem Quell, und mir ward unendlich wohl – dann fuhr sie fort: »Der schwarze Hans, den wir hier begraben haben, ist dein Bruder; hier diese Kapelle ist die Grabstätte deines Vaters, noch ruht er nicht hier, noch lebt er, du wirst ihn noch einmal umarmen; noch mehr Geschwister hast du, du sollst sie alle sehen; in wenigen Stunden muß ich dich verlassen; drum bleibt mir nicht die Zeit, dir alles zu erklären, was dich heute mit Erstaunen erfüllt; aber bald sehe ich dich wieder, und du lernst mich kennen; jetzt folge mir, daß ich dich deinen Untertanen vorstelle, die dich erwarten.«
Stumm und erschüttert, mehr durch ihre Erzählung, als durch ihr Gebot zu schweigen, folgte ich ihr in der Begleitung ihrer sieben Jungfrauen. Wir gingen aus der Kirche hinaus; auf schönen reinen Treppen stiegen wir zu heiteren Terrassen, mit mancherlei Bildsäulen und schönen Gefäßen, aus denen Wasser sprudelte, geschmückt; so gelangten wir durch geräumige Vorsäle in prächtig geschmückte Gemächer, die, bequem und vornehm aneinander gereiht, auf bunten Teppichen durchwandelt wurden, bis sie auf einer großen Marmorgalerie wieder zu Tage liefen. Von diesem Standpunkte übersah man den grünen Spiegel des Sees und das jenseitige Waldgebirge, das sozusagen erst die Folge dieser Säle beschloß; aber, hinausgetreten auf den Balkon, erblickte ich den Hof des Schlosses und die ihn umgebenden Gärten und Terrassen mit einer Menge von Menschen bedeckt, die mit Hüten und Tüchern wehend einem freudig stürmenden, jauchzenden Meere glichen, das mit tausend Wogen des Jubels an mein bestürztes Herz schlug und immer: »Heil! Heil! unserm Fürstensohne, Heil! Heil! seiner Mutter!« rief.