Das Märchen von dem Hause Starenberg und den Ahnen des Müllers Radlauf
Radlauf erzählt, wie er den Kohlenjockel, den Kautzenveitel und den Grubenhansel fand, auch von der alten Mühle und den zwölf Mühlknappen und wie er mit dem Leichenzug des schwarzen Hans vom Wasser verschlungen wurde.
Lieben Männer und Frauen von Mainz, vor allem muß ich euch erzählen, wo ich so lange gewesen bin; nun höret also:
Schon seit mehreren Jahren hatte ich einen schönen schwarzen Starmatz in einem Käficht auf meiner Mühle; er war mir von freien Stücken zugeflogen und war gleich so vertraut mit mir gewesen, als kennten wir uns von Kindesbeinen auf; wenn ich in meiner Mühle herumging, hüpfte er mir von einem Sack zum andern nach; wenn ich aß, saß er auf meinem Tisch. Nie beschmutzte er etwas; wenn ich ihm abends den Käficht nicht verschlossen, fand ich ihn morgens oft dicht neben meinem Kopfe auf meinem Bett sitzen. Kurz, er war voll Freundschaft zu mir, und sozusagen verständig wie ein Mensch; nur eine Eigenschaft aller übrigen Staren vermißte ich an ihm, die Lust zu schwätzen; nie ließ er einen Laut von sich hören, ich mochte ihm vorplaudern, vorpfeifen, sein Schnabel blieb verschlossen. Wenn ich manchmal gar zu sehr in ihn drang, sich doch vernehmen zu lassen, oder wenn ich ihn gar einen recht dummen stummen Vogel nannte: glaubte ich ihm traurig seufzen zu hören und sah ihn den Kopf schütteln. So hatte ich mich ganz an sein Wesen gewöhnt, und wir verstanden uns vollkommen. An dem Tag aber, da ich meine geliebte Braut Ameley aus dem Wasser zog und in meine Mühle führte, war mein schwarzer Hans auch ganz ungewöhnlich traurig; er hing die Flügel und den Kopf, als sollte er sterben. Die Prinzessin machte in der Stube und ich in der Kammer den Küchenzettel; wie erschrak ich nicht, als mein Vogel plötzlich anfing zu sprechen; er sagte mir, daß er der Fürst von Starenberg sei, und daß er die Prinzessin Ameley noch einmal sehen wollte und dann sterben; dabei sah er so vornehm aus und hatte eine so adelige melancholische Miene, daß ich ihm meinen Respekt nicht genug bezeigen konnte; ich öffnete ihm die Türe, er ging zu der Prinzessin Ameley, sagte ihr abermal, er sei der junge Fürst von Starenberg und wolle nun sterben; dabei zog er vor ihren Augen eine goldne Nadel, die er unter dem Flügel trug, hervor und stach sie sich durchs Herz, daß sie vor Schrecken ohnmächtig niedersank. Wir rupften und brieten und aßen den liebenswürdigen Selbstmörder unter bittern Tränen, und ich habe ihn nie vergessen können.
Als ich nun glücklich hier aus des bösen Königs Kerker entkommen war, fand ich auf meiner Mühle einen Mehlsack, worauf mir des seligen Herrn von Starenberg Hochwohlgeborne Gnaden ihren letzten Willen geschrieben; ich sollte mit diesem Sack und dem Siegelring, den ich im Käficht fand, nach dem Schwarzwald gehen und mich bei dem Grubenhansel als seinen Erben melden; und dahin machte ich mich nun auf den Weg, und daher komm ich nun zurück. Nun hört aber zu.
Nach vielen Tagereisen sah ich endlich ein dunkles waldiges Gebirge wie eine Gewitterwolke vor mir aufsteigen; je näher ich kam, je höher ward es; nun kamen mir eine Menge Bauernwägen mit Holz entgegen; ich fragte einen nach dem andern, ob dies der Schwarzwald sei. »Ja«, sagten sie. »Wo wohnt denn der Grubenhansel?« fragte ich; das wußte aber keiner.
Ich ging nun bergan; da krochen arme Weiber und Kinder unter den Bäumen herum und suchten sich Reiserholz zusammen. »Ihr guten Leute, wo wohnt der Grubenhansel?« Sie wußten es nicht. Ich ging in einer wilden Waldschlucht an einem Bächlein hinauf; da grasten Ziegen, und Kinder saßen dabei und schnitzten Kienspäne. »Ihr Kinder, wo wohnt der Grubenhansel?« Aber kaum, daß ich diese Worte gesagt, flohen sie mit großem Geschrei vor mir in die Gebüsche.
Ich zog immer weiter in den Wald; es ward immer dichter und wilder und stiller. Da hörte ich eine Weiberstimme singen; ich ging auf sie los; sie suchte Arzneikräuter und grub Wurzeln, und war eine Frau von etwa fünfzig Jahren; ich fragte sie freundlich, wo der Grubenhansel wohne. Sie lachte mir ins Gesicht und sprach: »Das weißt du gewiß so gut als ich, du willst meiner nur spotten« – und so oft ich ihr auch versicherte, daß ich es nicht wisse, sprach sie immer wieder: »Du willst mich zum Narren halten, wer wird das nicht wissen.«
Unwillig über sie ging ich tiefer in den Wald; da kam ich auf einen offnen Platz, wo Kohlen gebrannt wurden; ich suchte rings herum nach dem Köhler, konnte ihn aber nicht finden; endlich hörte ich etwas schluchzen und weinen; die Stimme kam aus einem hohlen Baum. Als ich nahe hinzutrat, fand ich einen alten greisen Mann, wohl siebzig Jahre alt, in dem Baume stecken; er drehte das Gesicht weg, so daß er mich nicht sah, und schrie immer: »Kautzenveitel! schlag den Kohlenjockel nicht mehr.«
Mit vieler Mühe überzeugte ich ihn, daß ich der Kautzenveitel nicht sei und ihn auch nicht schlagen wolle; und da der alte wunderliche Mann endlich aus dem Baum herausgekrochen war, sperrte er vor Erstaunen über mich das Maul auf.
Ich fragte ihn, warum er weine. »Ach!« sagte er, »mein Vater hat mir Schläge gegeben.« – »Wer ist den Euer Vater?« sagte ich. »Ich bin der Kohlenjockel,« erwiderte er, »mein Vater ist der Kautzenveitel.« Hierauf fragte ich ihn, wo der Grubenhansel wohne. »Eine Stunde von hier«, sagte er. »Führt mich doch zu ihm«, sprach ich. »Behüte Gott!« erwiderte er, »wenn mich mein Vater erwischte, daß ich spazieren ging, er schlüge mir Arm und Bein entzwei.« Nach diesen Worten lief er an seinen Kohlenhaufen und arbeitete ängstlich.
Höchst verwundert über dieses alte Kind ging ich tiefer in den Wald; selten erblickte ich ein wenig blauen Himmel über mir; die Eiche deckte mit ihren breiten Armen alles zu, aber die Vögel sangen und schrieen laut durcheinander, und es gellte ihr grelles Pfeifen von den Felsen ringsum zurück.
Nun bemerkte ich hie und da Sprenkel und Dohnen und sonst allerlei Schlingen gestellt, in denen sich verschiedene Vögel gefangen hatten; dann kam ich an einen Vogelherd; dann an eine Krähenhütte; zuletzt aber an einen ziemlich hohen blätterlosen Baum, auf welchem ein so entsetzlich großer Eulenkauz saß, daß ich ihn vor Schrecken kaum ansehen konnte.
Die Vögel groß und klein: Auerhahnen, Birkhähne, Kraniche, Trappen, Fasanen, Tauben und alle Arten Singvögel flogen um das Ungeheuer herum und schrieen es an; wenn sie sich aber auf den Baum setzten, der mit Vogelleim bestrichen und mit vielerlei Schlingen behängt war, waren sie gefangen; und wie erschrak ich nicht, als der große Eulenkönig einen Arm mit ordentlichen Fingern unter dem Flügel hervorstreckte und nach den gefangenen Vögeln griff.
Ich tat vor Schrecken einen lauten Schrei, worauf der Kauz mich bemerkte und zusammenfahrend mir entgegenrief: »Nun, nun, Bengel! erschreck die Leute nicht so; du jagst mir ja alle Vögel hinweg.« Nach diesen Worten kam das Untier den Baum herabgeklettert; meine Angst war nicht klein, und ich wollte eben entfliehen; aber die Frau, die ich früher Kräuter suchen sah, trat mir in den Weg: »Ha, ha, Landsmann! bist du auf dem Weg?« sagte sie mir, und somit wendete sie sich gegen den großen Kauz, den ich nun in der Nähe als ein steinaltes Männchen erkannte, das aus einem Kittel von Eulenfedern herausguckte.
Sie küßte ihm die Hand und sprach, indem sie ihm einen Bündel Wurzeln und Kräuter gab: »Guten Abend, lieber Großpapa Kautzenveitel! Der Papa Kohlenjockel läßt seinen untertänigen Respekt vermelden und schickt Ihnen hier die verlangten Kräuter herbas und die Wurzel radix; er läßt Euch nochmals recht sehr um Verzeihung bitten, daß er dem lieben Großpapa ungehorsam war und die Kräuter erst heut geschickt; ach! er hat den ganzen Nachmittag geweint, weil ihn der liebe Großpapa geschlagen; ach! ich bitte recht sehr für ihn um Verzeihung« – und dabei schmiegte sich das Weib an den Alten, wie ein schmeichelndes Kind, und strich ihm den Bart.
Er sagte nun zu ihr: »Ja, ja, ich weiß schon, wenn er etwas angestellt hat, schickt er dich immer, Abbitte zu tun, du Schmeichelkatze! weil er weiß, daß ich dir, du närrische Wurzelgrete! nichts abschlagen kann; nu geh nur hin und sage dem Vater, es solle alles gut sein; da bring ihm den Braten mit« – und somit gab er ihr einen Trappen und einen Kuß; sie nahm den Vogel wie eine Puppe auf den Arm, küßte dem lieben Großpapa die Hand und ging singend ab.
Ich war ganz stumm vor Verwunderung über diese Leute und stand dem Kautzenveitel gegenüber, der ganz ruhig die Kräuter betrachtete und dazu sang: »Was man doch mit seinen Kindern für tausenderlei Sorg und Plage hat« – dabei schlug er einen langen Triller wie eine Nachtigall, und als er fertig war, sagte er: »Was willst du?« – »Ach Gott!« sagte ich, »ich möchte gern zum Grubenhansel; können mir der Herr Kautzenveitel nicht sagen, wo er wohnt?« – »Tölpel,« erwiderte er, »ich werde doch wissen, wo mein Papa wohnt; übrigens ist es gut, daß Ihr dahin wollt, so könnt Ihr ihm die Kräuter mitnehmen, und ich brauche nicht selbst hinzulaufen; der gute Mann fängt an und kömmt in die Jahre, und hat immer etwas zu predigen; solchen Leuten kann man nichts recht machen; er hat mich gestern erst geschlagen, und drum hab ich den Kohlenjockel heut früh recht ausgeklopft; denn Kinderzucht muß sein in dieser argen Welt; geht nur immer den Pfad nach, hier habt ihr die Kräuter, vermeldet ihm meinen gehorsamsten Respekt.« Als er dies gesagt, wendete er sich von mir und kletterte wie eine wilde Katze in ein paar Sprüngen den Baum hinauf, wozu er sang: »Ich bin erst hundert Jahre alt, unschuldig und nichts weiter.« Ich ging mit meinen Kräutern schnell fort, denn der Kautzenveitel machte mir angst und bang.
Als ich eine halbe Stunde durch die bewachsenen Felsen durchgezogen war, rauschte mir ein kleiner Fluß entgegen, an dem sich der Weg verlor; ich wußte nun nicht mehr wohin, auch getraute ich mich nicht durchzuwaten, weil das Wasser reißend und tief war; die Sonne war bereits untergegangen, nur an den höchsten Baumgipfeln hing noch ein wenig Glanz, und es wurde sehr schaurig im Wald; ich setzte mich nieder und holte ein Stück Brot aus der Tasche und gedachte schon mein Nachtlager hier in der Wildnis zu halten. Das Rauschen des wilden Flusses zu meinen Füßen, die Ruhe und Einsamkeit erinnerten mich an den Rhein und an Ameley und ich sang mir ein Abendlied:
Weit bin ich einhergezogen
Über Berg und über Tal,
Und der treue Himmelsbogen,
Er umgiebt mich überall.
Unter Eichen, unter Buchen,
An den wilden Wasserfall
Muß ich nun die Herberg suchen
Bei der lieb Frau Nachtigall,
Die im brünstgen Abendliede
Ihre Gäste wohl bedenkt,
Bis sich Schlaf und Traum und Friede
Auf die müde Seele senkt.
Und ich hör dieselben Klagen,
Und ich hör dieselbe Lust,
Und ich fühl das Herz mir schlagen
Hier wie dort in meiner Brust.
Aus dem Fluß, der mir zu Füßen
Spielt mit freudigem Gebraus,
Mich dieselben Sterne grüßen,
Und so bin ich hier zu Haus.
Echo nimm dir recht zu Herzen
Und erlern die Melodei
Meiner Freuden, meiner Schmerzen:
Ameleya! Ameley!
Blühet stolz, ihr Königskerzen,
Ameleya! Ameley!
Als mir das Echo vom jenseitigen Ufer diese Worte immer entgegenrief, fand ich ein solches Vergnügen an der Wiederholung dieses Namens, daß ich ihn wohl eine halbe Stunde lang in süßer Träumerei bald leiser aus tiefster Seele, bald laut aus voller Kehle durch die Stille der Einsamkeit ertönen ließ, und mein Herz wuchs mir dabei in der Brust, als wolle es sie zersprengen.
Nun stieg der volle Mond über den Bäumen herauf, und es war mir, als sei es das Antlitz meiner lieben Ameley, und meine Wirtin, die liebe Frau Nachtigall, begann von neuem süßer als je zu locken; und fest entschlossen, dem Mond so lang ins Auge zu schauen, bis ich entschlief und morgens erwachend ihn in die Sonne verwandelt sähe, sang ich, um zwischen Mond und Sonne, diesen zwei leuchtenden Bergen, in die wundervolle Gruft der Träume niederzusteigen, folgende Strophen:
Wunderinseln, selge Augen,
Die ein liebes Antlitz sehn
In dem Monde untertauchen,
In der Sonne auferstehn.
Sonn und Mond, ihr lichten Hügel,
Schließet ein die irdsche Kluft,
Und das Leben senkt den Flügel
In des Traumes Zaubergruft,
Wo die Tiefe sich entsiegelt
Und die Liebe frank und frei
In der ganzen Seele spiegelt
Ameleya! Ameley!
Hierauf gab das Echo eine wunderliche Antwort, es sang nämlich:
Heiapopeia, Heiapopei
Ei ja, Ei ja, Ei! Ei! Ei!
Welch ein einerlei Geschrei!
Hierüber verwundert sprang ich auf und sah auf dem jenseitigen Ufer einen langen alten Mann mit einem großen weißen Bart stehen, der ihm wie ein Wasserfall über die Brust herabwallte; er hatte einen Stock, oder vielmehr einen ziemlichen jungen Baumstamm, in der Hand, und da er mich erblickte, sagte er: »Liebster Freund und Gönner, du verführst ja einen gewaltigen Lärm mit deinem Wiegenliede; es kann ja weder Mensch noch Vieh vor deinem ewigen Heiapopeia schlafen; das währt ja schon eine geschlagene Stunde; ich glaube, wenn man mir vor hundertzwanzig Jahren, da ich noch ein Kind war, dergleichen vorgesungen hätte, ich wäre noch nicht aufgewacht. Wer bist du aber, und was suchst du hier?« Da sagte ich ihm, daß ich zum Grubenhansel wollte und nicht über den Fluß könnte.
Auf diese Worte ging der Alte schnurstracks durch das Wasser auf mich zu, nahm mich wie ein leichtes Bündel unter seinen Arm und trug mich nicht nur durch das Wasser zurück, sondern auch ein gut Stück weiter bis vor seine Hütte, wo er mich mit den Worten niedersetzte: »Nun bist du bei dem Grubenhansel, nun richte deinen Auftrag aus.« Er führte mich bei der Hand in seine Wohnung, die in einem Felsenkeller bestand, dessen Wände mit den wunderbarsten Kristallen, Edelsteinen, Gold- und Silbererzstufen ausgelegt waren, welche von der Beleuchtung einer Lampe so herrlich durcheinander schimmerten, daß einem das Herz lachte.
Ich gab ihm die Kräuter des Kautzenveitels, wobei er sehr auf diesen zankte und ihn einen naseweisen, faulen Jungen nannte; sodann gab ich ihm meinen Mühlknappenbrief und den Sack, worauf der schwarze Hans sein Testament geschrieben, und kaum hatte er dies gelesen, als er mich scharf anblickte und mich dann mit großem Ungestüme umarmte. »Ach, Gott sei Dank!« sagte er, »so sehe ich doch endlich ein Kind meines lieben unglücklichen Ur-Ur-Ur-Urenkels bei menschlichem Leibe; nun kann ich doch endlich hoffen, des langweiligen Lebens loszuwerden und einmal zu sterben.« Dabei lachte er und weinte er und trocknete sich die Tränen immer mit seinem Barte ab. »Ach, Gott!« sagte ich, »Ihr wäret also mein Ur-Großältervater?« – »Ja,« erwiderte er, »und morgen sollst du meinen Vater sehen; das ist erst ein respektabler Mann, gegen den bin ich nur ein junger Aufschößling zu nennen.«
»Liebes Ahnherrchen!« sprach ich mit inniger Angst, »wann hat es denn ein Ende? Wird der mir denn auch einen Vater zu zeigen haben?« – »Ach!« erwiderte der Alte, »das kann er nicht, er ist eine arme Waise seit seiner frühesten Jugend; aber jetzt mußt du schlafen gehen, und zwar in deiner Mühle, in deines Vaters Mühle, in meiner Mühle. Morgen früh hole ich dich; komme mit, es ist kaum hundert Schritte von hier; ich war erst vor sechzig Jahren drin, und es wird noch alles in Ordnung sein; doch muß ich bitten, alles so zu machen, wie es einem rechtschaffenen Müllerburschen zukömmt.«
Ich war so erstaunt, daß ich, ohne ein Wort zu reden, mitging. Er führte mich einen steilen Weg hinab, und neben uns brauste der Strom. Da führte er mich durch einen Garten, in dem die ungeheuersten Eichen standen, in eine Mühle, die meines Vaters Mühle am Rhein wie zwei Tropfen Wasser glich, und hier sagte er mir gute Nacht und verließ mich.
Da stand ich nun allein in einem wildfremden Hause; kein Licht hatte ich, und sollte doch zu Bette gehen. Nachdem ich ein paar Minuten stillegestanden, wurde es mir, als sei ich zu Hause am Rhein; ich ging links an den kleinen Schrank, wo dort das Feuerzeug stand, und siehe da! ich fand den Schrank, ich fand das Feuerzeug; schnell schlug ich Licht und ging mit dem brennenden Schwefel nach der Stelle, wo am Rhein die Lampe an einen Pfeiler hing; ich fand den Pfeiler und die Lampe; aber es war kein Öl drinnen, ich steckte daher einen Kienspan an, und wie das Licht um mich herleuchtete, sah ich alles, alles rings um mich: Treppen, Räder, Mühlbeutel, Türen und Hausrat wie zu Hause; ja der Mondschein fiel durch einen Spalt der Stubentüre auf den Hausflur wie zu Haus; ich eilte in die Stube selbst: da stand der Tisch, der Stuhl, das Bett wie zu Haus. Ich war wie in einem Traum und eilte nun noch hinaus auf den Mühldamm, um zu sehen, ob denn auch der Rochusberg mir gegenüberstehe und ob ich denn wirklich am Rhein sei. Alle kleinen Gänge und Stufen bis zu dem Damm waren dieselben. Gegen mir über war ein Berg mit einem hochgetürmten Schloß; es war aber nicht die Rochuskapelle, und vor mir breitete sich der weite Spiegel eines Sees aus, und es war der Rhein nicht; doch machte die Gegend mir einen ähnlichen Eindruck, nur stiller, einsamer, weiter und ernsthafter. Lang saß ich und sah in die grünen Wellen des Sees, den Mond und die Sterne an; aber die Augen sanken mir, ich vergaß ganz, wo ich war, und ging in meine Stube zurück, betete und legte mich aufs Bett.
Ich hatte die Gewohnheit zu Hause, indem ich mich niederlegte, an der Klingel zu ziehen, um meine Mühlbursche zu erwecken, und so griff ich denn auch hier im Dunkeln nach der bekannten Schelle, fand sie, klingelte und legte mich nieder.
Kaum aber hatte ich wenige Minuten gelegen, so hörte ich ein verwirrtes Plaudern und Lärmen in der Mühle, das mich nicht wenig ängstigte. »Kunz, steh auf!« schrie einer, »die Reihe ist an dir; fülle den Trichter auf!« – »Ei, Dietz!« schrie der andere, »du hasts verschlafen, du bist dran.« – »Martin! Martin! das ist ein dummer Spaß,« rief ein anderer zornig, »das hast du getan, mich so in Haare einzuwickeln.« Endlich schrie ein anderer: »Was ist das? Die Mühle steht ja still! Wartet, ihr Schelme, wenn das Meister Radlauf merkt!« Und so ward das Gespräch immer heftiger, und bald ward es ein lautes Getös und Schimpfen.
Ich geriet darüber in eine wunderliche Unruhe, weil ich geglaubt, die Mühle sei ganz unbewohnt; da ich nun endlich meinen Namen Meister Radlauf hörte, ermannte mich und, trat mit dem Licht an die Türe und rief heraus: »Nur die Räder sollen in der Mühle lärmen, die Knappen aber fein ehrbar und züchtig sein; tretet alle herein und sagt mir euern Streit, damit ich Gerechtigkeit handhabe.« Kaum hatte ich dies gesprochen, als zwölf wunderbar alte Männer zu mir hereintraten, ich erstaunte aber kaum so sehr über dieselben, als sie selbst über einander und über mich; ja sie waren vor Schrecken über die langen grauen Bärte, die sie hatten, und über ihre alten Gesichtszüge ganz außer sich und gerieten endlich in eine solche Angst, daß sie wie die Kinder weinten. Mit Mühe brachte ich es endlich dahin, daß einer von ihnen für alle die andern folgendermaßen sprach:
»Liebster Meister! wir müssen wohl erschrocken sein, und wundert es mich, daß Ihr selbst nicht bestürzter erscheint; seht uns an, wir sind durch Hexerei grau und alt geworden; gestern tanzten wir auf der Kirchweihe alle andern Bursche nieder; wir waren die letzten auf dem Platz, und alle Mägdlein gaben uns den Preis und banden uns die Bänder von ihren Mützen um die Hüte; ach Gott! noch höre ich das Hackbrett zimpern und den Dudelsack summen; noch ist mir, als wenn der Tanzboden sich mit mir umdrehte, und nun, da wir durch Eure Klingel erweckt wurden, finden wir uns alt, müd, verdorrt und verrunzelt und in unsere langen grauen Bärte verwickelt; und seht den Jammer nur an! Seht hier den Kirmskuchen, den wir gestern frisch mit nach Hause brachten, er ist so hart als unsere Mühlsteine; da jeder erwachend nach seinem Kuchen griff, bissen sich mehrere die alten Zähne aus und schlugen dem andern ein Loch mit dem Kuchen in den Kopf, weil jeder glaubte, der andere habe ihm einen Schabernack angetan. Ach! und Ihr selbst, Meister! seid so ganz ruhig, als sei nichts geschehen; seht Euch doch einmal näher an; Ihr habt ja eine ganz wunderliche Tracht auf dem Leibe und habt die Haare zugestutzt, wie ich mein Tage nichts gesehen.«
Ich sagte ihm, daß dies bei mir zu Lande am Rhein die gewöhnliche Kleidung der Müller sei, daß sie im Gegenteil Jacken anhätten wie mein seliger Vater, als er vor vierzig Jahren an den Rhein gezogen. »Euer seliger Vater?« sagte der alte Knappe verwundert, »vor vierzig Jahren an den Rhein gezogen? Das ist wieder wunderbar gesprochen, Euer Vater ist ja frisch und gesund und hat gestern auf der Kirmes mitgetanzt; er war sein Lebtag nicht am Rhein; er ist noch nie von seiner Köhlerhütte weggekommen.« Nun ward mir endlich der Wirrwarr zu groß, und ich sagte, um sie loszuwerden: »Schweigt und tut eure Pflicht, bringt die Mühle in Gang, der Tag wird alles erklären.« Aber lange ward ich sie nicht los, sie stürzten schnell wieder herein und versicherten mich, der Teufel müsse sein Spiel mit der Mühle gehabt haben, denn es seien ganz dicke Bäume quer durch das Mühlrad von der entgegengesetzten Felsenwand durchgewachsen und das Rad sei halb verfault. Unter solchen Klagen und Verwirrungen brach der Tag an, die Schwalbe begann in dem Nest zu schwätzen, und ein frischer kühler Wind strich über den See und kräuselte seine Wellen, und wie es heller ward, begrüßten die alten Mühlknappen alles um sich herum mit neuem Erstaunen. Der eine sah das Korn aus dem Mühltrichter herauswachsen, der andere sah ein Loch im Dach, die Säcke waren vermodert und geplatzt; der Wind, der durch die verfallene Mühle gestrichen war, hatte die Körner durch die ganze Gegend geweht, und rings um die Mühle standen dichte Ährenfelder; vor allem aber ward ihr Schrecken groß, als sie statt der beiden wachsamen Hunde vor der Mühle zwei glänzende, von Regen und Sonne weißgebleichte Gerippe in den Hütten an Ketten liegen sahen. Da fühlten sie zuerst tiefer, daß es seit gestern wohl lange her sein müsse, und als sie in den Stall kamen und die sechs Esel des Müllers auch nichts mehr waren als Gerippe, durch deren Rippen Distelstöcke, die sie sonst gefressen, frei durchwuchsen, brachen sie in ein lautes Jammern aus. Als ich so ihren seltsamen Klagen zuhörte, sah ich den Grubenhansel herankommen und hoffte, daß er diese närrischen alten Knappen zur Ruhe bringen würde. Als sie ihn erblickten, schrieen sie alle: »Ach, Urgroßväterchen, was seid Ihr gealtert seit gestern!« – Er aber hieß sie schweigen, grüßte mich freundlich und bezeugte eine große Freude, daß ich meinem Vater so ähnlich sei; hierauf wollte er gleich mit mir fort, um mich zu seinem Vater zu bringen; die Knappen aber wollten ihn nicht loslassen und drangen darauf, er müsse ihnen sagen, wie sie zu den Bärten gekommen und wie sie so alt geworden.
»Meine lieben Kinder!« sagte er, »seit vierzig Jahren ist keine Seele in der Mühle gewesen, und ihr habt einen guten Schlaf gehabt; der Jüngling, der hier vor euch steht, ist euer Meister Radlauf nicht; es ist dessen Sohn, den er am Rhein erzeugte und der seit gestern diese Mühle erst betreten. Vor vierzig Jahren ist Meister Radlauf hier von der Mühle verschwunden, und ihr habt wegen naseweiser Reden, die ihr auf der Kirchweihe geführt, bis heut geschlafen.«
»Was wir geredet, muß der Wirt noch wissen«, sprach der eine; »wir waren alle bei Verstand, da wir es sagten; wir haben nichts gesagt, was wir nicht verantworten könnten, nichts, worüber man einen vierzig Jahre lang um das liebe Leben bestiehlt.« »Was haben wir gesagt, das nicht recht wäre?« schrie ein anderer; »um das, was wir gesagt, laß ich mir kein graues Haar wachsen, viel weniger einen grauen Bart, wie wir ihn alle haben.« – »Jawohl!« schrieen sie alle durcheinander und machten ein ungeschicktes Geschrei und sagten, sie wollten hin und dem Wirt, der sie gewiß verschwätzt habe, die Fenster einschlagen. »Geht hin,« sprach der Grubenhansel, »ihr werdet euch verwundern; doch wenn ihr unterwegs die schöne Bäuerin wieder begegnet, die vor vierzig Jahren oder gestern, wie ihr meint, die Erdbeeren in dem Walde suchte und eurem Meister in die Mühle trug, so seid gewarnt, nicht wieder schlechte Reden zu führen.« – »Aha, die ist es also, die uns eingewiegt«, sprach einer der Kecksten unter ihnen; »so war sie doch eine Hexe und hat den Herrn ins Unglück gebracht; als wir sie sahen, saß sie in einem Bache, es war am Sonnabend; ich hörte in dem Schilf was rauschen; ich dachte, da es Abend war, vielleicht ein wildes Entennest da auszuheben, und schlich heran: da merkte ich im Mondschein zwischen dem grünen Schilf die hübsche Jungfer sich im Bad erkühlen, und von der Brust herab war sie eine –« Kaum hatte er so weit gesprochen, als die Sonne sich verfinsterte, eine Wolke von schwarzen Staren senkte sich über die Knappen nieder, und die schrieen und hackten dermaßen auf sie ein, daß sie sich gar nicht erwehren konnten und mit großem Angstgeschrei in die Mühle flohen und die Türe zumachten; aber die Stare stürzten von allen Seiten durch die Öffnungen der zerfallenen Mühle ihnen nach und quälten sie so, daß ihr Lamentieren mich rührte und ich den Grubenhansel bat, ihnen zu helfen. »Ei,« sagte dieser, »Ich kann den Staren nicht gebieten; aber du selbst kannst sie wohl zur Ruhe bringen, hast du doch den Käficht, worin der schwarze Hans gelebt, und seine Gebeine bei dir; fordere sie laut auf zum Leichenbegängnis.« Da trat ich auf einen Mühlstein und rief mit lauter Stimme:
Ihr schwarzen tapfern Kriegsgesellen,
Ich bitt den Kampf jetzt einzustellen;
Du schwarz gefiedertes Gewitter,
Hör an den rheinischen Leichenbitter;
Ich komme, um euch einzuladen
Zur Totenfeier Ihro Gnaden,
Des Starenberger schwarzen Hans,
Der mit dem Mute eines Manns
Aus treuer Lieb, vor wenig Wochen,
Das Herz am Rhein sich abgestochen;
Im Käficht, den ich bei mir trage,
Durchlebt' er seine letzten Tage;
Seht! hier in diesem Schächtelein
Trag ich sein edeles Gebein;
Laßt ab vom Kampf, es ist genug,
Und folgt mir mit dem Leichenzug!
Kaum hatte ich diese Worte laut und vernehmlich ausgesprochen, als unter den Staren ein wehklagendes Geschrei entstand, als ob sie sich untereinander den betrübten Todesfall erzählten; und sodann sammelte sich der ganze Schwarm, hob sich in die Höhe, schwenkte einmal mit dem Klagegeschrei durch die umliegende Gegend und kam wohl noch einmal so groß zurück, und soeben wollte er über meinem Haupte niedersinken, was mir bei aller ihrer guten Meinung doch bange machte. Aber der alte Kautzenveitel und der Kohlenjockel kamen den Berg herunter zu uns, und die Stare blieben vor dem Kautzenveitel in einer ehrerbietigen Entfernung; der Grubenhansel zankte seinen Sohn, den Kautzenveitel, daß er so spät gekommen sei, und dieser zankte wieder seinen Sohn, den Kohlenjockel, daß er ihn so lange habe warten lassen. Hierauf stellte mich der Grubenhansel dem Veitel als Urenkel, dem Jockel als Enkel vor und erzählte ihnen, warum ich hier sei, bat sie auch beide, dem Leichenbegräbnisse des schwarzen Hans zu folgen.
»Wer ist denn dieser schwarze Hans gewesen?« sagte Kautzenveitel, »daß so viel Lärmen um ihn ist.« – »Ein Star«, sagte der Grubenhansel mit solchem Nachdruck, daß der nasenweise Kautzenveitel sich nicht weiter zu fragen getraute.
Hierauf ordnete der Grubenhansel den Leichenzug an. Die zwölf alten Mühlknappen mußten herauskommen und taten es mit großer Angst vor den Staren. Der Grubenhansel aber beruhigte sie und gab ihnen Befehl, sogleich das Boot, welches bei der Mühle lag, mit dunklen Tannenzweigen zu schmücken und sich selbst zwölf junge Stämme als Ruder abzuhauen. Sie griffen rasch zu, und während der halben Stunde, die sie damit zubrachten, suchten wir das ganze Leichenbegängnis zu ordnen. Zuerst zog ein Schwarm Stare, jeder mit einem Tannenzweiglein im Schnabel; hierauf folgte ich mit einer jungen Tanne, woran der Mehlsack mit dem Testament des Hansen als eine Fahne befestigt war; hierauf folgte wieder ein Schwarm Stare, jeder mit einer reifen Kornähre im Schnabel; und hierauf folgte der Grubenhansel, der auf seinem langen Bart, den er wie ein silbernes Kissen zusammengelegt hatte, das Schächtelein mit den Gebeinen des Verewigten trug, und auf seinen Schultern saßen zwei Stare, von welchen einer ein Myrten-, der andere ein Lorbeerzweiglein im Schnabel hatte; hinter ihm kam wieder ein Schwarm Stare, welche Thymian und Rosmarin und allerlei Würzkräuter trugen; dann folgte der Kautzenveitel mit dem Käficht, der offenstand und in welchem ein Star, den Kopf unter den Flügel steckend, als ein Bild des Todes saß; hierauf folgte wieder ein Schwarm Stare, jeder mit einem Wachholderästchen; und nun kam der Kohlenjockel, er trug das Freßtröglein des Hansen, ein alter Star saß darauf und hatte den Siegelring im Schnabel; den ganzen Zug aber beschlossen die noch übrigen Stare, die überhaupt in so ungeheurer Menge den Zug umgaben, daß dadurch alles schwarz und trauernd aussah. Anfangs wollten die Stare alle zu Fuß gehen; es ging aber zu langsam von der Stelle; sie mußten also an ihrer bestimmten Stelle fliegen. Da nun die alten Knappen den Kahn bereitet hatten, begaben wir uns hinein; die leidtragenden Vögel umgaben uns teils, teils saßen sie auf der Tannenlaube des Schiffes; und wer das Schiff vom Lande gesehen, mußte es wohl für einen lebendigen Trauerwagen halten, so war es in die Trauerfarbe gehüllt; auch machten die Stare mit ihrem Flügelschlag einen solchen Wind, daß das Schiff mit vollen Segeln den breiten See durchschnitt.
Als wir in der Mitte des Sees waren, stieg eine dunkle Wolke über dem entgegengesetzten Schloßberge auf, welche sich donnernd über den Himmel verbreitete; zugleich begann sich der See zu bewegen und immer heftigere Wellen zu schlagen; umsonst bemühten sich die zwölf alten Knappen mit angestrengtem Rudern das Boot noch hinüberzuführen; der Gegenwind hielt uns immer zurück. Da es zu regnen begann, so steckte ich das Schächtelein mit den Gebeinen des schwarzen Hans und seinen Käficht und Siegelring in den Testamentsack, und dachte in der drohenden Todesgefahr ununterbrochen an die liebe Ameley, und meine Trauer war, daß, wenn ich ertrinken sollte, es nicht am Rhein sei, daß ich nicht in ihrer Nähe umkommen sollte.
Während dem schwankte unser Schiff immer heftiger, und die Stare, das Wetter scheuend, stiegen mit lautem Geschrei in die Höhe und stürzten durch die noch schwärzere Luft nach dem Ufer; wir waren in diesem Augenblicke einigen Felsen sehr nah, zwischen welchen der See einen heftigen Wirbel bildet, und indem die rudernden Knappen von denselben mit Gewalt ablenken wollten, schrien sie laut auf: »Ei sieh da! da ist die schöne Hexe wieder, die uns so lang schlafen gemacht.« Ich wendete meine Augen nach dem Fels, da sah ich eine wunderschöne junge Frau sitzen; ganz schwarz ihr Röcklein, weiß ihr Schleier, blond ihre Haare, und in tiefster Trauer; sie weinte heftig, und kämmte ihre langen Haare. Die Knappen aber hörten nicht auf, sie zu verhöhnen; da ward der Sturm immer heftiger; das Schiff ward mitten in den Strudel geworfen und begann sich wie eine Spindel zu drehen.
Der Hansel, der Veitel und der Jockel waren bis jetzt ganz ruhig gewesen; nun aber, da sich das Schiff so drehte, wurden sie ausdermaßen vergnügt und sangen folgenden Reim:
Lustig, lustig, rundum herum
Geht das Schifflein quer und krumm,
Donner! lieber Donner! brumm,
Sonst wär alles stumm und dumm.
Lange haben wir gesessen,
Kraut und Wurzeln viel gefressen,
Neue Jahre ausgemessen,
Alte Jahre viel vergessen.
Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
Kindes-Kindes-Kindes-Kinder
Kamen alle Jahr geschwinder,
Wurden dennoch niemals minder.
Lustig, lustig, rundum herum,
Donner! lieber Donner! brumm,
Welle, wirf das Schifflein um,
Daß uns geht die Zeit herum.