Fünfzehn Augenpaare waren während dieser kleinen Rede auf Fräulein von Zimmern gerichtet. Die sichtliche Überraschung und der freudige Ausdruck auf den Zügen der Vorsteherin ließen deutlich erkennen, daß ihr der Plan nicht vorher verraten war und daß die Mädchen getroffen hatten, was so recht nach ihrem Sinn war. „Es freut mich herzlich,“ sagte sie bewegt, „daß ihr mir zum Abschied noch solch eine Überraschung bereiten wollt, und ihr hättet euch gar nichts Schöneres ausdenken können. Ich bin sehr begierig, was ich zu hören bekommen werde.“ Die Mädchen überreichten ihre Verzeichnisse.
Fräulein von Zimmern durchlas sie aufmerksam. „Lauter Stücke, die wir noch nie in der Schule gelernt haben? Sogar Prosa? Das ist ja eine ganz außergewöhnliche Leistung!“ Gretchens Gewissenhaftigkeit rührte sich. „Nicht jede aus der Gruppe kann alles, was von ihrem Dichter verzeichnet ist,“ sagte sie.
„Ich verstehe wohl, das wäre auch neben eurer andern Arbeit gar nicht möglich gewesen zu lernen. Die Gruppe ist als eine Person zu betrachten, nicht wahr?“
„Ja, ja,“ sagte Gretchen, „und nicht wahr, wenn Sie uns ausfragen, dann fragen Sie nicht die einzelne, sondern bloß die Gruppe?“
„Du brauchst unsere Sache nicht so herunterzudrücken,“ sagte Ottilie halb im Scherz, aber doch ein wenig ärgerlich, „es haben doch alle die ganze Biographie gelernt.“
„Ja, aber nur für ein Drittel kann jede einstehen.“
„Das darfst du nicht so betonen,“ sagte Fräulein von Zimmern lächelnd, „sonst bekommst du böse Blicke von da und dort! Nun wollen wir uns gleich wegen des Tags besprechen.“
Der nächste Mittwoch Nachmittag wurde bestimmt, um drei Uhr sollte die freiwillige Literaturstunde beginnen.
Das war nun noch ein eifriges Lernen und Repetieren daheim, ein Sorgen und Beraten in der Schule!
Am Montag abend hatte Gretchen eben ihre Bücher weggelegt mit der Empfindung, daß sie für diesen Tag das Lernen satt habe, als unerwartet Ottilie zu ihr kam. „Gretchen,“ sagte sie, „du weißt ja, daß ich mehr als du und viel mehr als Elise zu lernen übernommen habe. Aber jetzt habe ich wieder Kopfweh, und wenn ich noch weiter lerne, wird’s immer ärger. Jetzt möchte ich dich bitten, daß du noch ein Stück von meinem Teil übernimmst.“
„Jetzt kann ich doch nichts Neues mehr dazu lernen,“ entgegnete Gretchen, „du hast gar zu viel übernommen, laß doch weg, was du nicht mehr zustande bringst.“
„Das kann ich doch nicht, es ist ja schon auf dem Verzeichnis, das wir Fräulein von Zimmern übergeben haben.“
„Was ist es denn?“
„Die Teilung der Erde.“
„Das ist ein schweres Gedicht!“ sagte Gretchen sehr bedenklich.