Sie ging noch einmal zu Lene. Die stand in ihrer Küche. Gretchen legte rasch den Kuchen auf den Tisch, kehrte gleich wieder unter die Küchentüre zurück und sagte hastig von der Schwelle aus: „Lene, ich habe der base den Kuchen weggenommen, weil sie mich geärgert hat; jetzt dauert sie mich aber doch, sei so gut und schicke ihn durch die Buben hinauf. Ich muß heim, so schnell ich kann, und lernen, lernen den ganzen Abend.“ Ehe Lene die Frage tun konnte, die ihr auf den Lippen schwebte: Warum hast du dich über die Bas geärgert? war Gretchen schon draußen im Hof und auf dem Heimweg.
Die Alte hatte von ihrem Fenster aus beobachtet, wie Gretchen mit dem Kuchen zu Lene hinein und ohne Kuchen von Lene herausgekommen war, und vor Neid und Schmerz darüber, daß nun Lene genießen sollte, was eigentlich für sie bestimmt war, weinte sie bitterlich.
Lene hätte gar gerne gewußt, womit die base Gretchen so erzürnt hatte. Am Abend, als die Kleine schlief, empfahl sie dieselbe der Obhut der Brüder, nahm den Kuchen unter ihre Schürze und trug ihn selbst hinüber. Als die base Lene erblickte, erschrak sie. Entweder kam Lene, um ihr Vorwürfe zu machen oder um das Versprechen zurückzunehmen, daß sie zu ihr ziehen dürfe. Aber Lene zog unter ihrer Schürze den Kuchen hervor, gab ihn der base und fragte ganz wie sonst: „Wie geht’s Euch heute?“
Zuerst brachte die base den Kuchen in Sicherheit, dann sagte sie: „Schlecht geht’s, und was man so in seinen Schmerzen sagt, das darf man einem auch nicht gleich so übel nehmen.“
„Was war’s denn, was habt Ihr gesagt?“
„Ihr wißt’s ja schon; ich habe wohl gesehen, daß das Fräulein zu Euch hineingegangen ist.“
„Dann habt Ihr wohl auch gesehen, daß sie gleich wieder herausgekommen ist. Sie hat mir nicht erzählt, was es gegeben hat. Sagt Ihr mir’s.“
„Was wird’s gegeben haben? Wenn’s was gewesen wäre, so hätte sie’s wohl gesagt; ich weiß von nichts.“
Lene merkte, daß nichts aus der alten Frau herauszubringen war. „Ich muß wieder hinüber zu meiner Kleinen,“ sagte sie, „es ist ein schönes Kind und wird Euch auch gefallen, wenn Ihr es seht. Wenn Ihr Schmerzen habt und allein seid, so denkt halt daran, daß wir Euch herüberholen in vier Wochen, und wenn die Taufe ist, schicke ich Euch auch vom Kuchen und vom Wein.“ Lene reichte der Bas freundlich die Hand, die nahm sie und dabei überkam sie doch etwas wie Reue, und sie sagte: „Ihr seid gut gegen mich, Gott lohn’s Euch.“
Gretchen hatte keine leeren Ausreden gebraucht, als sie zu Lene gesagt hatte, sie müsse eilends heim, um zu lernen. Sie hatte sich mit Ottilie und Elise in den Stoff geteilt, den sie bis zum Schulschluß bewältigen wollten, und da Elise von manchem erklärte, es sei ihr viel zu schwer, und von vielem, es sei nicht wichtig, so mußten die beiden andern die Hauptsache übernehmen. Ottilie war das ganz recht, da gab es für sie wieder eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Sie hatte mehr zu lernen übernommen als Gretchen und gedachte im stillen, ohne Verabredung auch noch ein Stück aus dem „Abfall der Niederlande“ zu lernen und mit dieser schwierigen Leistung sich hervorzutun.
Gretchen hingegen wollte Elise ordentlich mit heranziehen, und als sie herausfand, daß diese nicht einmal mit dem Wenigen Ernst machte, das sie zu lernen versprochen hatte, redete sie ihr ins Gewissen. „Elise,“ sagte sie, „du verdirbst die ganze Freude, wenn du dein Teil nicht lernst. Denke nur, wie schlecht sich das machen wird, wenn alle andern so viel können und du gar nichts zu sagen weißt.“