„Ganz gewiß; Fräulein von Zimmern merkt es gleich, wenn etwas nicht ganz in Ordnung ist.“
„Dann bleibe ich lieber.“
„Ja, bleibe nur, du hast vielleicht ganz unnötig Angst. Unbehaglich war mir’s damals schon auch zumute, aber nachher war ich glücklich, denn die Antwort hat mir so gut gepaßt. So geht dir’s gewiß auch. Komm, mach kein so jämmerliches Gesicht, da iß!“ und Gretchen schob der trübseligen Gefährtin einen Bissen Apfel in den Mund, so daß diese lachen mußte und nicht mehr so kleinmütig aussah.
Nach der englischen Stunde kam Pfarrer Kern. In seinem Testament, aus dem er seinen Schülerinnen immer einen Abschnitt vorlas, lag ein Blättchen Papier. Als er es herausnahm, hätte Gretchen gern noch einen ermutigenden Blick zu Elsbeth hinüber gesandt, aber diese hob die Augen nicht auf. „Es ist mir da eine Frage zugegangen,“ sprach der Pfarrer, „deren Beantwortung nicht für unsre Stunde paßt.“ Gretchen erschrak ordentlich; also auch der Pfarrer fand die Frage ungeeignet? Was konnte nur Elsbeth gefragt haben?
„Die Frage lautet: ‚Wir möchten gerne zum Schluß des Schuljahrs Fräulein von Zimmern irgend eine Freude machen, etwas aufführen, deklamieren oder dergleichen. Was könnten wir wohl tun?‘ Die Frage ist unterschrieben von einem Kleeblatt. Diesem Kleeblatt möchte ich nun zu wissen tun: Ich bin gern bereit, mit euch darüber zu beraten, aber nicht in dieser Stunde. Am Mittwoch gebe ich von neun bis zehn Uhr Unterricht in der vierten Klasse: wenn ihr um zehn Uhr hinunterkommen wollt, so haben wir eine Viertelstunde Zeit zur Besprechung.
„Ich habe aber noch einen andern Fragezettel erhalten, und dieser hat mich herzlich gefreut.“ Gretchen wagte einen raschen Blick auf Elsbeth, diesmal mußte es ihre Frage sein. „Die Frage hat mich gefreut, weil sie ein Zeichen von Vertrauen ist. Sie lautet: ‚Ich kann vieles nicht mehr glauben, was ich früher geglaubt habe und was wir Christen glauben sollen, und ich möchte es doch gern glauben. Ich kann auch nicht beten, wenn ich nicht glauben kann. Aber ich war viel glücklicher früher, wo ich noch alles geglaubt habe. O, wenn ich nur wieder glauben könnte! Was soll ich tun?‘
„Was soll ich tun?“ wiederholte der Pfarrer. „Das erste, was du tun sollst, hast du schon angefangen zu tun: Du hast dich überwunden, deinen Unglauben auszusprechen einem Gläubigen gegenüber. Wenn du es nicht nur schriftlich tust, wird es dir noch mehr Segen bringen. Kommt zu mir, wenn euch Zweifel beunruhigen, dann sprechen wir miteinander, oder wenn ihr einen Vater, eine Mutter habt, die eure Zweifel befriedigend beantworten können, so sprecht ganz offen mit ihnen. Meint nicht, daß das etwas Seltenes, etwas Schlimmes sei, dessen ihr euch schämen müßt.
„Was soll ich tun? fragst du. Du sollst Geduld haben und Treue halten. Ist dir das Glück jetzt nicht beschieden, fest im Glauben zu sein, so kannst du dennoch treu bleiben. Denke an den Spruch: ‚So jemand wird des Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei.‘ Es hat mir einst eine Frau anvertraut: ‚Von meinem zwanzigsten Lebensjahr bis zu meinem fünfzigsten habe ich mich immer an diesen Spruch halten müssen, nach dreißig Jahren erst ist mir die richtige Erkenntnis gekommen und ich weiß jetzt, daß diese Lehre von Gott ist. Es hat mir keinen Schaden gebracht, denn in allem Unglauben bin ich treu geblieben.‘ Also Geduld haben und treu bleiben, auch wenn Jahre darüber hingehen. Lebe, wie wenn du glaubtest, dann bringt das Leben den Glauben.“
Noch einmal wiederholte der Pfarrer die Frage: „‚Was soll ich tun‘? Du sollst alles aufsuchen, was dich zu Gott führen kann: ernste Arbeit, edle Erholung, gute Bücher, kräftige Predigten und wahre Christen, und sollst alles meiden, was von Gott wegführt. Dann, glaube mir, kommt einmal der Tag, wo du das Wort liest oder hörst, das gerade für dich das richtige ist, dann wirst du wieder so glücklich sein oder noch glücklicher wie zur Zeit des ersten Kinderglaubens.“