Es war recht still geworden in der Familie Reinwald, seitdem die kleinen Gäste das Haus verlassen hatten, und Gretchen lebte mit all ihren Gedanken in der Schule. Heute war wieder der erste Montag im Monat, der Tag, an dem Pfarrer Kern eine Stunde in die Klasse der Großen kommen sollte. Die Mädchen sprachen davon während der Pause um zehn Uhr. Heute hatten nicht alle das Schulzimmer verlassen! Hermine und Ottilie, die sich sonst nicht eben aufsuchten, hatten doch ein gemeinsames Interesse, sie waren beide geschickt in Handarbeiten, und da gab es nun gerade ein neues Spitzenmuster auszuprobieren. Sie saßen eifrig damit beschäftigt am grünen Tisch.
Gretchen hatte dafür kein Verständnis. Sie stand am offenen Fenster, durch das die warme Sommerluft einströmte. Sie lehnte sich weit hinaus; es war so schön, bis dorthin zu blicken, wo endlich die Häuser aufhörten und grüne Hügel herübergrüßten. Sie hatte die Kamerädinnen ganz darüber vergessen, als unvermutet eine derselben zu ihr trat. Gretchen wandte sich um. Es war Elsbeth May, ein liebes, stilles Mädchen. Gretchen mochte sie gerne, wenn sie auch nicht öfter mit ihr verkehrte. Sie rückte an die Seite, um für sie Platz zu machen. „Es ist so schön da draußen,“ sagte Gretchen. „Ja,“ erwiderte Elsbeth und lehnte ihren Kopf ganz zum Fenster hinaus, und da draußen sagte sie ganz leise, daß es im Zimmer nicht gehört werden konnte: „Gretchen, wie du unserem Pfarrer einmal einen Zettel mit einer Frage geschickt hast, war’s dir da auch so angst vor der Antwort, wie mir’s heute ist?“ „Angst war mir’s gerade nicht; aber woher weißt du, daß ich eine Frage aufgeschrieben hatte?“ „Ich habe dir’s damals angesehen und ich glaube, mir wird man’s heute noch viel mehr ansehen. Ich habe so Herzklopfen!“ Gretchen sah Elsbeth an. „Ja, wirklich, man merkt es dir an. Warum ist dir’s denn so angst?“ „O, das wirst du gut verstehen, wenn du erst meine Frage gehört hast. Ich mag sie dir gar nicht sagen, du hörst sie ja dann. Ich kann mich selbst nicht mehr begreifen, wie ich so etwas fragen mochte; ich habe die Frage an einem Abend aufgeschrieben, als ich ganz allein war, und jetzt ist heller Tag und alles kommt mir anders vor. Meinst du nicht, ich könnte vor der Stunde fortgehen und mich bei Fräulein von Zimmern wegen Herzklopfens entschuldigen? Es wäre wirklich keine unwahre Ausrede.“
„Aber Elsbeth, was fällt dir ein, dann hörst du ja die Antwort auf deine Frage gar nicht.“
„Die könntest du mir morgen sagen, und ich weiß auch, daß du mich den andern nicht verrätst, gelt, keiner, auch Hermine nicht?“
„Nein, gewiß nicht. Aber Elsbeth, ich ginge an deiner Stelle doch nicht fort, man kann doch nicht immer gleich davonlaufen, wenn man vor etwas Angst hat, und gar vor so einer Stunde davonlaufen, das käme mir schrecklich dumm vor.“
Dieser etwas derbe Zuspruch übte eine gute Wirkung aus. Gretchen merkte es und fuhr fort: „Glaube nur, Fräulein von Zimmern bekäme doch heraus, warum du fort willst. Sie fragt dich genau, woher das Herzklopfen kommt, und was willst du dann antworten? Lügen kann man nicht, so mußt du ihr den Grund sagen; nein, wirklich, ich wollte lieber ruhig in der Stunde bleiben, als so ein Verhör bei Fräulein von Zimmern durchmachen.“
„Ja,“ sagte Elsbeth, „wenn du meinst, sie frage so genau.“