Fräulein Trölopp schwieg. Nach einer kleinen Weile sagte Frau Reinwald: „Das ist ein schöner Beruf, in dem man so viel Not abwenden oder lindern kann, Sie haben sich wohl schwer entschlossen, ihn aufzugeben?“
„Ich wurde kränklich und ging nach Deutschland, um mich ein Jahr auszuruhen.“
„Das taten Sie wohl jetzt bei meiner Schwester?“ fragte Frau Reinwald lächelnd.
„Ich war eigentlich schon ausgeruht, als ich in Europa ankam. Die Seereise hat mir gut getan.“
Gretchen hatte während der ganzen Zeit kein Auge von der Erzählerin gewendet, und nun rief sie mit Begeisterung aus: „Oh, solch eine Helferin möchte ich auch werden! Darf ich, wenn ich groß bin?“ fügte sie hinzu und sah gespannt auf die Eltern.
„Das wird sich finden,“ antwortete Herr Reinwald. „Geh du vorläufig deine Wege, es ist bald zehn Uhr, höchste Zeit für ein Schulmädchen.“
Das war ein nüchternes Wort in Gretchens begeisterte Stimmung! Aber sie widersprach nicht und stand vom Tisch auf. Beim „Gute Nachtgruß“ flüsterte ihr die Mutter zu: „Bringe noch frisches Wasser ins Gastzimmer und sieh nach, ob sonst nichts fehlt, meine kleine Helferin!“
Gretchen hatte noch einige Fragen auf dem Herzen, die mußte ihr Fräulein Trölopp am nächsten Morgen auf dem Weg zur Bahn beantworten. Sie ging mit ihr voran. Frau Reinwald folgte, Rudi und Betty an der Hand.
„Kann man bei uns in Deutschland nicht Helferin werden?“ fragte Gretchen.
„Diese Einrichtung besteht zur Zeit noch nicht, aber sie wird wohl auch kommen, und einstweilen kann jeder einzelne Mensch für sich diesen Beruf ausüben.“
„Was muß man lernen, wenn man Helferin werden will?“
„Sich selbst vergessen und an andere denken.“
„Das meine ich nicht; ich möchte wissen, was man studieren muß oder was für ein Examen man macht.“
„Kein Studium, kein Examen! Man muß die Augen aufmachen, und wo man etwas sieht, das nützlich fürs Leben erscheint, muß man es üben!“
„Es muß aber schwer sein, so vielerlei zu lernen!“
„Es ist viel, aber bedenken Sie, wie viele Stunden vor Ihnen liegen, Sie junges Wesen! Nehmen Sie sich nur eines vor: Nutzen oder Freude, Erholung oder Arbeit soll Ihnen jede Stunde bringen; aber inhaltslos vergeudet soll keine einzige werden. Einen Pfennig verschleudern wir nicht, aber wieviel Viertelstunden vergeuden wir? Sie waren uns gegeben zu Nutz und Freud und wir haben keines von beiden aus ihnen gezogen; Geld kann uns ein glücklicher Zufall wieder in den Schoß werfen, aber die Zeit ist unwiederbringlich verloren!“
Gretchen hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Weg auf die Bahn doppelt so weit gewesen wäre. Sie kam nun mit ihrer Gefährtin in das Menschengewühl am Bahnhof, der Zug stand schon bereit, die Reisenden mußten einsteigen. Die kleine Betty weinte Abschiedstränen, Rudi hingegen schwenkte reiselustig sein Mützchen und Fräulein Trölopps gelber Samthut glänzte aus dem Wagenfenster heraus. Einen Augenblick später war all das verschwunden, aber Gedanken, die in einer jungen Menschenseele wachgerufen werden, verschwinden nicht so schnell, ja manchmal sind sie ausschlaggebend fürs ganze Leben.
Ein jedes Band, das noch so leise
Die Geister aneinanderreiht,
Wirkt fort auf seine stille Weise
Durch unberechenbare Zeit.
(Platen.)