„Noch eine nächtliche Szene ist mir in Erinnerung, noch viel schmerzlicher als die mit den Blinden. Mit Eintritt der Nacht wurde ich in ein Haus geholt, dort hatte ein armer Mann in der Verzweiflung sich und seine Frau ums Leben gebracht. Da lagen sie beide tot, fünf Kinder schrieen und weinten vor Entsetzen. In einer Kammer nebenan verbrachte ich die Nacht mit den armen Kindern. Ich konnte sie schwer zur Ruhe bringen, eine Mutter hätte das wohl besser verstanden als ich: aber wenn sie ganz allein geblieben wären, hätten sie sich doch noch mehr gefürchtet, und sie tranken doch auch meinen Tee, hörten meine Lieder und drängten sich um mich und die Kleinsten schliefen ein. Am Morgen kamen die Kinder ins Waisenhaus.
„Aber nicht immer hatte ich als Helferin so traurige Pflichten; in der Zeit einer Epidemie machte ich mehrfach die Stellvertreterin für erkrankte Lehrerinnen; freilich bin ich nicht in allen Fächern genügend beschlagen um zu lehren, aber ich konnte die Kinder doch in Ordnung halten und nützlich beschäftigen. Während einer Epidemie wurde ich auch in Geschäftshäuser gerufen. Ein paar Tage war ich Kassierin in einem großen Bazar, dessen Personal erkrankt war; in solchen Fällen wurde ich oft glänzend bezahlt, und das ist gut, denn wo Armut herrscht, verzichtet man natürlich auf Bezahlung. Es ist gut, wenn sich solche Frauen zu Helferinnen hergeben, die etwas Vermögen besitzen, denn man kann nicht auf regelmäßige Einnahmen rechnen, soll es auch nicht um des Verdienstes willen tun.
„Man möchte alles können als Helferin, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Einmal schickte Samstag nachmittags eine Büglerin nach mir, sie habe viele Körbe voll Wäsche für den Sonntag zu bügeln versprochen und könne sie nicht liefern, wenn ihr nicht jemand zu Hilfe käme. Solche Fälle müssen oft genau untersucht werden, denn die Helferinnen müssen sich vor Mißbrauch schützen. Hätte die Frau aus Gewinnsucht oder Ungeschick zu viel Wäsche angenommen, so hätte ihr jede Helferin die Hilfe versagen müssen. Es war aber ihrer Tochter der glühende Stahl auf den Fuß gefallen, und das Bügelmädchen war telegraphisch zur sterbenden Mutter berufen worden. Das war unvorhergesehen, da mußte die Helferin eintreten. Ich bügelte mit der Frau bis nach Mitternacht; freilich eine große Künstlerin bin ich darin nicht, aber es war doch brauchbar, und die Frau verlor nicht ihre Kundschaft. Am Morgen trug ich mit ihr Wäsche aus bis zur Kirchenzeit, denn einer Helferin darf keine Arbeit zu gering sein. Sie soll sich aber auch in der eleganten Welt zu benehmen wissen, denn auch in dieser kommen unvorhergesehene Notfälle vor, wenn auch seltener, denn um Geld finden sich leicht helfende Hände.
„Eine unserer besten Sängerinnen sollte in der Stadt N. bei einem Künstlerfest als Sängerin auftreten und war im Begriff mit ihrer Mutter dorthin abzureisen, da übertrat sich diese den Fuß und konnte nicht reisen. Es schien untunlich, das junge Mädchen allein reisen, allein mit fremden Künstlern auftreten zu lassen. Um zwölf Uhr mittags begegnete der Mutter das Mißgeschick, um ein Uhr wurde ich benachrichtigt und zur Gardedame bestimmt, um zwei Uhr war ich schon mit meiner Pflegebefohlenen unterwegs; diesmal war ich ohne Tee und ohne Paul Gerhardt ausgezogen, aber mit meinem höchsten Staat, einem grünseidenen Kostüm. Wir wurden in elegantem Gefährt abgeholt und zur Festhalle geleitet. Ich ermutigte das junge Mädchen vor ihrem Auftreten, und nach demselben half ich ihr die Blumen tragen, welche begeisterte Zuhörer ihr gespendet hatten. Es war nicht überflüssig gewesen, daß ihr eine Stellvertreterin für die Mutter mitgegeben worden war, denn nach dem Konzert, in dem sie hinreißend schön gesungen hatte, kamen zwei Herren, um sie zu bestimmen, daß sie sich für den Winter für ihre Musikhalle engagieren lasse. Ich wußte, daß diese Herren keiner guten Gesellschaft angehörten, aber sie machten glänzende Anerbietungen. Die junge Künstlerin fühlte sich geschmeichelt und zeigte sich gleich bereit, den Vertrag zu unterschreiben, mit dem sie dann ihre Mutter überraschen wollte. Ich bestand darauf, der Vertrag müsse der Mutter vorgelegt werden, ehe er unterschrieben würde. Aber beide Teile hörten wenig auf meine Worte. Vielleicht hätten sie mehr darauf geachtet, wenn ich nicht so klein und unschön wäre; eine Helferin sollte womöglich nicht so sein. Die Herren drängten das Mädchen und drückten ihr die Feder in die Hand, mit der sie den schon vorbereiteten Vertrag unterschreiben sollte. Ich wußte nichts Besseres zu tun, als den Vertrag wegzunehmen, und in Stücke zu zerreißen. Freilich mußte ich bissige Worte hören über den ‚aufgeblasenen Laubfrosch‘, womit sie mich in meinem grünseidenen Kleid meinten; aber sie verließen uns doch und kamen nicht wieder. Die junge Schöne zürnte wohl mit mir, aber in späteren Jahren schickte sie mir eine große Summe mit der Aufschrift: ‚Verspäteter Dank für glückliche Bewahrung.‘“