Gretchen und Hermine hatten zwischen sich die Kleine sitzen, die ihnen Fräulein von Zimmern als Pflegekind anbefohlen hatte. Aber über diese hinweg konnten die Freundinnen sich unterhalten: „Gretchen,“ sagte Hermine, „wenn du jetzt nicht da wärest, könnte ich unmöglich glücklich sein, ich müßte immerfort daran denken, daß ich dich um dein Vergnügen gebracht habe. Ich hatte ja das Opfer angenommen, aber wirklich mehr um des Vaters und der Geschwister willen als um meinetwillen. Aber so, wie’s jetzt ist, ist’s herrlich!“ „Könnte gar nicht herrlicher sein,“ bestätigte Gretchen strahlend.
Schon ein Weilchen hatte die ganze, große Gesellschaft erwartungsvoll dagesessen, sich an den reizenden Tellern und Täßchen gefreut und sich gefragt, was wohl auf und in dieselben kommen würde, als eine Hofdame eintrat. Sie hatte ein Papier in der Hand, auf dem einiges notiert schien. Sie hielt sich bald bei dieser, bald bei jener Gruppe auf und fragte nach einzelnen Namen. Kurz darauf wurde die große Flügeltüre des Saales geöffnet und ein Diener verkündigte: „Ihre Majestät die Königin.“ Alle Mädchen erhoben sich und alle Blicke richteten sich auf die liebliche Erscheinung der jungen Königin, die in lichtblauem Seidenkleid, in Begleitung einiger Hofdamen, eintrat.
Eine der Schülerinnen, die unter der Flagge des „Adeligen Instituts“ saßen, ein zierliches, kleines Mädchen von kaum mehr als sechs Jahren, verließ ihren Platz, ging der Königin entgegen, begrüßte sie artig mit Handkuß, ergriff dann traulich die Hand der Hofdame, die zunächst der Königin stand und sagte fröhlich und unbefangen: „Guten Tag, Mama, wir sind schon alle hier, sieh nur, wie viele!“ „Wo sitzen deine Kamerädinnen?“ fragte die Königin; „willst du mich zu ihnen führen?“ und sie folgte dem Kind an den Platz, den die Zöglinge des „Adeligen Instituts“ innehatten. Die Hofdame stellte mehrere derselben, deren Namen für die Königin Interesse haben konnten, vor, und mit jeder wechselte die Königin einige freundliche Worte.
„Majestät,“ sprach nun die Hofdame, „es ist eine Schülerin unter den Geladenen, die gern Ihrer Majestät zur Begrüßung ein Lied vorsingen möchte,“ und leise, nur für die Umstehenden verständlich, fügte sie hinzu: „Es ist eine kleine Sängerin von Gottes Gnaden, sie wird einmal von sich reden machen.“ „Eine zweite Jenny Lind?“ sagte die Königin; „wo ist das Kind, zu welcher Schule gehört sie?“ „Es ist eine Volksschülerin,“ antwortete die Hofdame und wandte sich dann weiter unten an der Tafel an ein etwa achtjähriges Mädchen: „Maria Bucher, willst du nun dein Lied singen?“ „Nein,“ antwortete zu aller Erstaunen die Kleine mit großer Bestimmtheit, „jetzt nicht.“ Etwas scharf entgegnete die Hofdame: „Jetzt ist die Zeit, später nicht; du hast doch selbst gewünscht, vor Ihrer Majestät der Königin zu singen.“ Alle schauten gespannt auf das Kind. Dieses blickte scheu ringsum: „Es sind so viel Augen,“ sagte es leise, „da kann man nicht singen.“ Gütig neigte sich die Königin zu dem verschüchterten Mädchen und sagte: „Du hast ganz recht, vor so viel Augen geht das nicht; aber ich weiß, wo es geht, willst du wohl mit mir kommen?“ und sie führte die Kleine, die ihr willig folgte, an das Ende des Saals und stellte sie so, daß sie die gedeckten Tafeln hinter sich hatte und vor sich die grünen Bäumchen. „Hier kann man singen, nicht wahr?“ fragte ermutigend die Königin und Maria Bucher antwortete: „Ja, schön!“ und ohne auf weitere Aufforderung zu warten, fing sie mit einem glockenhellen Stimmchen an zu singen: