„Geschrieben,“ verbesserte Gretchen. „Wenn die Probearbeiten so spät gewesen wären wie sonst immer, dann wäre Hermine gewiß wieder die Erste geworden; seit sie gesund ist, holt sie ja alles Versäumte nach, und jetzt ist schon die Schneiderin bei Brauns und hat den Stoff verschnitten, für mich wäre Herminens Kleid viel zu kurz – o Fräulein von Zimmern! ...“ Gretchen hielt ganz außer Atem mit diesen flehenden Worten inne.
„Das geht etwas bunt durcheinander bei dir, Gretchen! Die Enns und das kurze Kleid, aber ich habe dich doch verstanden. Ich werde es mir überlegen. Wenn ich es mit gutem Gewissen kann, dann werde ich deinen Wunsch erfüllen, aber auch nur dann. Heute nachmittag sollst du Antwort haben.“
Gretchen war nur halb beruhigt. Fräulein von Zimmern hatte die Erlaubnis von ihrem Gewissen abhängig gemacht; ach, das Gewissen von Fräulein von Zimmern war gar nicht zu berechnen!
In der Freiviertelstunde nahm Gretchen Hermine beiseite und erzählte ihr von der Unterredung. Arm in Arm wandelten die beiden miteinander, die gemeinsame Furcht und Hoffnung bewegte sie, noch nie hatten sie sich so lieb gehabt wie heute.
Und noch ein anderes Pärchen wandelte, mit derselben Angelegenheit beschäftigt, draußen im Schulhof auf und ab. Es war Mathilde Braun und Ruth. Sie waren sonst gute Freundinnen, aber jetzt hatten sie entgegengesetzte Interessen. Mathilde war für ihre Schwester, Ruth für Gretchen, und die beiden stritten darüber, wer das beste Recht auf die Einladung zum Fest hätte. Wenn Ruth mit der Verteidigung Gretchens nicht mehr recht nachkam – denn sie war nicht so redegewandt wie Mathilde – dann seufzte sie nur und wiederholte immer wieder: „Ich hätte Fräulein Gretchen das schönste Rosenkränzchen zum Festschmuck bringen dürfen, Papa hatte es schon erlaubt;“ und Mathilde begriff dann, daß Ruth für Gretchen stimmen mußte.
Auch Fräulein von Zimmern bewegte die Angelegenheit nicht allein in ihrem Herzen. Sie suchte ihren treuen Berater, Pfarrer Kern, auf und berichtete ihm. „Es ist eine schwierige Frage,“ schloß sie, „ob ich berechtigt bin, eine andere als die Erste zum Fest zuzulassen. Was sagen Sie dazu?“
„Was ich immer sage: Der Geist macht lebendig, der Buchstabe tötet. Im Geist der Königin ist es, eine Freudenfeier zu schaffen, ihr Glück andern mitzuteilen. In irgend einen Buchstaben mußte sie diesen Geist fassen. Liegt nun der Fall so wie bei unserer zehnten Klasse, so käme statt Freude und Glück nur Kummer und Unzufriedenheit heraus, wenn wir auf dem Buchstaben beharren wollten und sagen: die Erste ist geladen. Wäre das im Geist der Königin gehandelt?“
Die Karte, die zur Beteiligung am Fest berechtigte, ging mit Zustimmung Fräulein von Zimmerns in Herminens Hände über, Gretchen hatte ihr Recht verloren.
Es war ihr auf dem Heimweg von der Schule doch eigentümlich zumute. Jetzt, da alles entschieden war, wurde sie sich erst bewußt, wie sie selbst sich seit vierzehn Tagen gefreut, auf dies Ereignis hin gelebt hatte und die Tage gezählt bis zu dem Vergnügen, das für sie in Nichts zerronnen war.
Und nun, da unser Gretchen in dieser trüben Stimmung heimkommt, wird sie von Franziska mit den Worten empfangen: „Lene ist da!“ Franziska hatte freilich keine Ahnung, was sie damit sagte. Kaum hatte Gretchen diese Worte gehört, so machte sie „Kehrt“ und stürmte die Treppe wieder hinunter. Franziska war ganz verblüfft über die Wirkung ihrer Worte. Sie trat ans Treppengeländer und rief der Fliehenden nach: „Fräulein Gretchen, Sie haben mich gewiß falsch verstanden, Ihre Lene ist’s.“
„Ich weiß schon, ich komme nicht eher wieder, als bis sie fort ist!“
„Aber, wenn ich ihr das sage!“
„Sagen Sie’s nur, sie begreift’s. Ich gehe zu Hermine.“