„Hast du denn dort etwa schon den Kleiderstoff mitgebracht?“ fragte Frau Braun, auf Gretchens Päckchen deutend.
„Ach nein, das ist etwas ganz anderes, das ist meine Entschädigung dafür, daß ich nicht zum Fest darf.“
„Dann ist’s gewiß etwas sehr Schönes? Dürfen wir’s ansehen?“ Gretchen lachte. „Ich will es lieber zuerst mit Hermine allein auspacken.“ „So komm mit,“ sagte Hermine und ging mit der Freundin hinaus ins Nebenzimmer. Sie sah zuerst ganz verständnislos auf das schlichte Nachtjäckchen, das aus dem Paket herauskam. Dann begriff sie und kehrte jubelnd zur Mutter zurück: „Gretchen darf bei uns übernachten, gelt, Mutter, sie darf?“ Natürlich durfte sie! Noch ganz andere Dinge hätte sie heute von dieser Familie verlangen dürfen. Jedes der Kinder bot sein Bett an, alle Hände erklärten sich bereit, das Nötige für den unerwarteten Gast zu richten. Mathilde, die gewöhnlich bei Hermine schlief, durfte ihren Platz dem Gast einräumen, und nach einem herzlichen „Gute Nacht“, das ihr von allen Seiten geboten wurde, blieb Gretchen allein mit ihrer Freundin.
Nun gab es ein langes, trauliches Plaudern. Hermine wollte alles wissen und erfuhr auch alles. Es fiel ihr nicht leicht, das Opfer von der Freundin anzunehmen, und so wollte sie genau erfahren, wie groß das Opfer für Gretchen war. „Eigentlich sind mir nur zwei Dinge wirklich leid,“ antwortete Gretchen auf Herminens Fragen; „das eine, daß ich die kleine Prinzessin nicht zu sehen bekomme, und dann das andere, daß unsere Lene so bös auf mich sein wird. Daran mag ich gar nicht denken. Aber es ist ja auch nicht nötig, daß ich daran denke; ich will jetzt immer daran denken, wie du als altes Mütterchen bei deinen Urenkeln sitzst und ihnen von dem Fest erzählst.“ „Von dir erzähle ich ihnen noch viel mehr,“ sagte Hermine. Da klopfte Frau Braun an die Türe und rief: „Hört einmal, es ist bald elf Uhr. Von euren Urenkeln könntet ihr auch morgen noch sprechen, das eilt wohl nicht so sehr.“
Noch ein herzlicher Gute-Nachtkuß wurde gegeben und die beiden Freundinnen schliefen ein.
Am nächsten Tage klopfte Gretchen bei Fräulein von Zimmern an, denn ihr mußte doch die Verabredung mitgeteilt werden. Unterwegs hatte sie sich überlegt, wie sie die Sache kurz, ohne überflüssige Füllwörter, mitteilen wollte.
„Fräulein von Zimmern,“ sagte sie, „mit Zustimmung unserer Eltern soll Hermine statt meiner zu dem Fest der Königin gehen. Erlauben Sie, daß ich meine Einladungskarte an Hermine abtrete?“
Fräulein von Zimmern überlegte eine Weile, dann sprach sie: „Eine Einladung, die von der Königin ausgeht, lehnt man nicht ab. Ich erhielt die Karten für die Ersten; du bist eingeladen, nicht Hermine.“ Gretchen erschrak. Die Möglichkeit, daß Fräulein von Zimmern nicht einwilligen könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen; welch schreckliche Enttäuschung wäre das nun für Brauns! „Es war freundlich von dir gemeint, liebes Kind,“ fuhr Fräulein von Zimmern fort, „und ich begreife, daß du der Freundin zuliebe verzichten möchtest, aber es wäre nicht richtig gehandelt. Hattest du mir sonst noch etwas zu sagen?“ Gretchen war ganz bestürzt, das klang schon wie Entlassung! O, sie mußte erst noch viel sagen!
„Ich war gestern bei Brauns, sie waren alle so unglücklich, der Vater, die Mutter und sogar die Brüder. Sie nehmen es so schwer und meinen, Hermine könnte es ihr ganzes Leben lang nicht verschmerzen. Und so ist’s bei meinen Eltern gar nicht, sie haben mir’s augenblicklich erlaubt, daß ich mit Hermine tausche, ich könnte auch gar nicht vergnügt sein bei dem Fest; und wenn mich Hermine nicht immer so getrieben hätte, daß ich mehr lernen soll, so wäre ich gar nicht die Erste geworden.“ Gretchen sprach immer rascher und eifriger, denn sie fürchtete jeden Augenblick hinausgeschickt zu werden. „Ich habe auch so unerhörtes Glück gehabt bei den Probearbeiten. In der Geographie, bei den Nebenflüssen der Donau, hatte ich die Enns vergessen zu schreiben. Da höre ich, wie hinter mir eine andere fragt: „Schreibt man die Enns mit zwei ‚n‘?“ Natürlich habe ich dann die Enns noch hineingeflickt.“
„Geflickt!!“