Gretchen wurde über und über rot vor Schrecken und Scham. „Ach, das habe ich vergessen auszurichten!“ rief sie ganz entsetzt.
„Was soll ich jetzt sagen? Der Herr sei verhindert, aber morgen sei er zu sprechen?“
„Nein, Rieke,“ sagte Gretchen kläglich, „er ist ja nicht verhindert, wir können das doch nicht sagen!“
„Aber jedenfalls kann man den Herrn nicht so lang vor der Türe stehen lassen.“
„Ich muß um Entschuldigung bitten,“ sagte Gretchen und ging mit einem schweren Seufzer hinaus.
Tief errötend erschien sie vor dem Fremden und stammelte: „Es ist mir so leid, ich habe es ganz vergessen, meinem onkel auszurichten!“ Dieser schien sehr ärgerlich.
„Ich habe keine Zeit, zum drittenmal herzukommen. Ich muß mit dem Schnellzug wieder abreisen und habe hier mit meiner Frau nur einen Tag Aufenthalt genommen, um bei Herrn van der Bolten eine große Bestellung zu machen.“
Als Gretchen dies hörte, war es ihr noch viel mehr leid. „Das wird meinem onkel so arg sein!“ sagte sie; „meine Tante ist eben nicht da, sonst wäre so etwas nicht vorgekommen, und heute morgen, wie Sie kamen, war gerade das Unglück passiert mit dieser Scheibe da, und darüber habe ich es vergessen auszurichten.“
„Wissen Sie vielleicht, wo Ihr Herr onkel ist? Dann könnten Sie ihn benachrichtigen und bitten, daß er uns vor fünf Uhr im Bahnhofhotel aufsucht; vielleicht reicht es dann noch, das Nötige zu besprechen.“ Der Herr übergab seine Visitenkarte.
„Ich will gleich in sein Atelier schicken und nach ihm fragen lassen,“ sagte Gretchen.
„Dort war ich selbst schon, weil ich gerne Gemälde von ihm gesehen hätte; es war aber geschlossen.“
„O, hier im Haus sind auch Gemälde, wollen Sie diese nicht ansehen?“ fragte Gretchen; und nun führte sie den Fremden in das Zimmer und sah mit Stolz, wie sehr er die Landschaften bewunderte. „Ist’s gar nicht möglich, daß Sie hier übernachten?“ wagte Gretchen zu fragen, und setzte ganz zerknirscht hinzu: „Wenn ich schuld wäre, daß Sie meinen onkel nicht sehen, wäre es mir so furchtbar leid.“
„Heute ist mein äußerster Termin,“ sagte kopfschüttelnd der Herr; „ich kann Ihnen leider nicht helfen, wenn der Herr onkel böse auf Sie wird. Aber vielleicht kommt er doch noch rechtzeitig zu uns.“
Der Fremde ging. Gretchen dachte daran, wie die Mutter so besorgt gewesen war in der Furcht, Gretchen sei ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Ach, sie hatte recht gehabt! Sie mußte nun eben des onkels Vorwürfe hinnehmen. Aber die Mutter sagte ja immer: erst sich in ein Übel ergeben, wenn man alles versucht hat, es abzuwenden. Was war zu versuchen? Wenn der onkel nicht im Atelier war, wo konnte er dann sein? Sie fragte Rieke. „Das kann kein Mensch wissen,“ meinte diese; „vielleicht im Kaffeehaus, oder im Museum, bei Bekannten oder auf einem Spaziergang, unmöglich ihn zu finden!“
„O Rieke,“ bat Gretchen, „wenn Sie es doch probieren würden, ob Sie den onkel nicht zufällig da oder dort treffen, ich wäre so dankbar! Ich ginge gewiß gern selbst, aber ich kenne mich gar nicht aus in der Stadt.“
Rieke wollte gar nicht; sie fand es zwecklos, so ins Unbestimmte in der Stadt herumzulaufen, aber Gretchen ließ nicht nach mit Bitten und Versprechen; die schönste Schürze, die sie habe, wolle sie Rieke schenken und ihr helfen, soviel sie könnte, solange sie hier bliebe. Da endlich löste Rieke ihre Schürzenbänder und machte Anstalt, sich für den Ausgang zu richten. Inzwischen saß Gretchen im Zimmer und schrieb mit fliegender Eile wohl auf fünf Zettel die Worte: Herr van der Bolten möchte so bald wie möglich in das Bahnhofhotel zu Kommerzienrat Frick kommen. „Rieke,“ bat Gretchen, „geben Sie doch die Zettel da und dort ab, wo Sie etwa meinen, daß mein onkel hinkommt; dann, wenn Sie ihn nicht treffen, bekommt er doch vielleicht noch rechtzeitig so einen Zettel.“