„Ich muß heute eine kleine Unterbrechung im Weißnähen veranlassen. Ich habe bemerkt, daß unter Ihren Schülerinnen welche sind, die zerrissene Handschuhe tragen. So etwas sollte in diesem Alter nicht mehr vorkommen, und ich möchte Sie bitten, die Handschuhe unter Ihrer Aufsicht ausbessern zu lassen. Legt die Näharbeit weg, holt eure Handschuhe herbei und zieht sie an.“
Diese unerwartete Aufforderung erregte teils Heiterkeit, teils Entsetzen.
„Nehmt nun eure Plätze wieder ein,“ sprach Fräulein von Zimmern, nachdem die Mädchen ihre Handschuhe angezogen hatten, „und legt alle eure Hände auf den Tisch. – Nicht so, keine eingeklemmten Finger und verborgenen Daumen! Alle Zehn Finger möchte ich sehen.“
Da kamen die behandschuhten Hände alle auf dem grünen Tisch zum Vorschein und manches weiße Fingerspitzchen blitzte durch die aufgetrennte Naht hindurch. Fräulein von Zimmern ging von einer Schülerin zur andern. „Eine Naht auszubessern. Zwei Knöpfchen fehlen. Zwei Fingerspitzen zustopfen. Ganz tadellos neue Glacéhandschuhe? Das ist schade für den Schulgebrauch, da liegen gewiß daheim noch welche, die geflickt und getragen werden sollten. Fünf ausgebesserte Stellen und kein Loch, das lobe ich. Zwei ungleiche Handschuhe, ei, ei!“ Nun kam sie an Gretchen. „Die deinigen sehen aus, als wenn sie eben geflickt worden wären,“ sagte sie.
„Ja, gestern abend,“ antwortete Gretchen, und ein Blick stillen Einverständnisses wurde zwischen Lehrerin und Schülerin ausgetauscht. „Ich bitte Sie, Fräulein Weber, diese Visitation in ungleichen Zwischenräumen jeden Monat zu wiederholen. Hier ist ein Pack Wirrfaden und Seide und alte Knöpfchen, sie stehen zur Verfügung. Macht euch gleich an die Arbeit.“
Fräulein von Zimmern ging, Gretchen war sehr vergnügt, daß sie an ihrer Weißnäherei weiterarbeiten konnte und nicht noch mehr in Rückstand kam; die andern aber flüsterten sich zu: „Wie ist wohl Fräulein von Zimmern auf diesen Einfall gekommen?“ Und Ottilie erklärte: „Sicherlich müssen wir das nächstemal die Stiefel ausziehen und uns die Strümpfe visitieren lassen!“
Niemand als Hermine Braun erfuhr den Zusammenhang. Mit ihr wandelte Gretchen manchmal in der Pause auf den großen Gängen des Schulhauses in traulichem Gespräch auf und ab, und so auch heute wieder. „Gretchen,“ sagte Hermine, nachdem sie zuerst mit aller Teilnahme die Erlebnisse der Freundin angehört hatte, „ich habe Angst, daß Ottilie zwischen uns kommt!“
„Wie so?“
„Daß sie die Zweite wird und du die Dritte. Sie ist mit der Handarbeit weiter als du, und sie hat in den meisten Fächern seit dem Herbst ebenso gute Noten wie du.“
„Woher weißt du das nur immer so genau? Ich weiß es nie.“
„Weil du dich immer nicht darum kümmerst; mir wäre es aber ganz schrecklich, wenn wir nicht noch das letzte Schuljahr hindurch wie die zwei vorigen nebeneinander säßen. Du mußt die zweite bleiben, du darfst Ottilie nicht über dich hinaufkommen lassen!“
„Ich muß mich immer so riesig anstrengen, damit ich neben dir bleibe,“ sagte Gretchen. „Du könntest auch einmal herunterrutschen, dann hätte ich’s bequemer. Ottilie die erste, du die zweite, ich die dritte, so wären wir auch wieder nebeneinander, und das wäre zur Abwechslung ganz nett.“
„Das kannst du aber im Ernst nicht von mir verlangen, ich müßte ja absichtlich Fehler machen!“
„Das denke ich mir ganz leicht, oder nicht?“