„Wenn nur mit dem Verzeihen alles wieder gut gemacht wäre,“ entgegnete Fräulein von Zimmern, „dies ist aber hier nicht der Fall. Man kann nicht wissen, welchen Schaden das schwache Kind durch den Blutverlust erlitten hat; es sind mir Fälle bekannt, in denen Kinder durch einen unglücklichen Schlag das Gehör verloren oder eine Gehirnerschütterung erlitten haben. Es ist deshalb eine solche Strafe in allen Schulen verboten, und daß in meiner Schule überhaupt jede körperliche Züchtigung ausgeschlossen ist, das weißt du aus langjähriger Erfahrung. Nie hat ein bei mir angestellter Lehrer gegen diesen Grundsatz gehandelt; du bist es, die zum erstenmal meine Schule durch so etwas in schlechten Ruf bringt. Und wem gegenüber? Eltern gegenüber, die mir dies Kind als ein besonders zartes Pflänzchen ans Herz gelegt haben, und denen ich mein Wort gab, daß alles geschehen würde, um das verschüchterte Kind durch Liebe zu gewinnen.“
Gretchen fühlte sich tief unglücklich; nicht nur dem Kind hatte sie unrecht getan, auch der Vorsteherin, die sie so hoch verehrte, hatte sie Leid zugefügt. Aber war denn das nicht zu ändern, mußte denn Fräulein von Zimmern darunter leiden?
„Wenn Ruths Eltern erfahren, daß ich ganz allein schuld bin, und wenn man ihnen verspricht, daß künftig statt meiner eine andere die Nachhilfstunden geben wird, dann können sie doch nicht mit der Schule zürnen?“
„Natürlich werde ich ihnen mitteilen, wie sich die Sache zugetragen hat, und daß du ferner ihr Kind nicht mehr lehren wirst – denn dieses Recht hast du verwirkt. Aber so, wie ich die Leute kenne, werden sie in ihrer Entrüstung sofort das Kind aus der Schule nehmen.“
„O, ich will zu Ruths Mutter hingehen und mich entschuldigen,“ rief Gretchen.
„Kennst du sie?“
„Nein, aber ich weiß, wo sie wohnt, ich gehe gleich heute abend noch hin, sogleich; ich sage, daß noch gar nie irgend ein Kind geschlagen worden ist in unserer Schule, und daß ich ganz allein die Schuld habe.“
„Die Schuld trifft mich doch mit, denn die Vorsteherin ist verantwortlich für die Lehrkräfte, die sie verwendet; ich hätte auch nie gedacht, daß du mit deinem liebevollen Herzen einem Kind wehe tun könntest, aber ich hätte es wissen sollen, denn du bist ungeduldig; ich hatte schon früher Gelegenheit, das zu bemerken.“
„Fräulein von Zimmern, bitte, lassen Sie mich zu Ruth gehen; ich kann es nicht ertragen, daß durch mich etwas auf die Schule kommt! Ich muß es wieder gut machen.“
„So versuche es; aber gehe zuerst zu deinen Eltern und sage es ihnen. Ich möchte dich ohne ihr Wissen nicht in ein fremdes Haus schicken.“
„O, die Eltern würden sofort sagen, ich soll mich entschuldigen; ich kann gut ohne ihr Wissen gehen. Aber freilich –“
Gretchen stockte und errötete.
„Was ist’s?“
„Mit den Schulhandschuhen kann ich nicht Besuch machen, sie sind zerrissen,“ sagte Gretchen etwas verlegen.
„Das sollte nie sein, Gretchen; fünf ausgebesserte Finger an jedem Handschuh, wenn du willst, aber keinen zerrissenen.“
„Ich renne zu Hermine hinauf und lasse mir ihre Handschuhe leihen; die wohnt ja in der Nähe.“