Darauf entgegnete Lene: „Habt Ihr so arge Schmerzen?“
„Es wird wohl sein, aber um mich kümmert sich kein Mensch, niemand schaut nach mir.“
Da platzte der älteste Bub heraus: „Bas, sind wir jetzt nicht gekommen? Wenn’s Euch so nicht recht ist, dann können wir den Stuhl gleich wieder mitnehmen und können fortbleiben. Meint Ihr denn, das sei so ein Pläsier, so einen Klotz von einem Stuhl da raufzuschleppen? Das hätt’ ich doch nicht geglaubt, daß Ihr einem dafür kein gutes Wort vergönnt!“ und wie ein Echo fielen die zwei Brüder ein: „kein gutes Wort vergönnt!“
Da stand die base verwirrt. „Kein gutes Wort!“ und sie hatte doch Frau Reinwald versprochen, ein gutes Wort zu geben! Sie sah auf Lene; man merkte, daß sie mit sich selbst kämpfte. Jetzt aber wandte sie sich den Buben zu und rief heftig: „Meint ihr, Buben, ihr dürft mir auch noch Grobheiten machen? Macht, daß ihr weiter kommt, ich brauch euch nicht!“
„Von Euch geht man gern fort,“ rief in großer Entrüstung der älteste, und die Kleinen: „ja, da geht man gern!“ und bald waren sie alle drei zur Türe hinaus und zur Treppe hinunter gepoltert. Lene aber zögerte. Sie hatte auch „das gute Wort“ noch nicht angebracht, und vorher durfte sie nicht gehen.
„Bas,“ sagte sie, „ich hab nicht gewußt, daß Ihr so arg leiden müßt, sonst hätte ich schon öfter nach Euch gesehen.“
Da brach die Alte in ein bitterliches Weinen aus, und unter Schluchzen kam es heraus: „O, ich kann’s gar nicht aussagen, wie mich die Schmerzen quälen, und dazu die Einsamkeit.“
Da faßte die Lene ihre Hände, die von der Gicht ganz krumm gezogen waren, und strich sie ganz sanft. Das tat der alten Frau wohl, aber sie schluchzte noch immer. „Jetzt probiert einmal Euern alten Lehnstuhl, ob’s in dem nicht besser wird,“ bat Lene. Und die Alte, die bisher auf ihrem hölzernen Stuhl gesessen war, erhob sich schwerfällig und humpelte mühsam durchs Zimmer. Als sie sich aber in dem Stuhl niedergelassen hatte, kam ein Ausdruck des Behagens über ihr schmerzverzogenes Gesicht; sie lehnte sich zurück und sagte: „Ach, das tut wohl.“ Lene war befriedigt.
„Jetzt wünsch ich Euch gute Besserung und wenn’s Euch recht ist, komm ich morgen wieder und bring Euch Gichtwatt mit, das nimmt die Schmerzen; mein Vater selig hat’s auch so gehabt wie Ihr, ich weiß schon, was da gut tut.“
„Mir ist’s ein Ding, wenn Ihr wieder kommen wollt,“ antwortete die base, und diesen Satz betrachtete sie als das „gute Wort“, das sie geben mußte; mehr konnte man von ihr, bei so viel Schmerzen, nach ihrer Meinung, nicht verlangen.
Lene ging leichtern Herzens, als sie heraufgekommen war. „Wie bin ich doch so viel besser daran, als der arme, verlassene Tropf da droben!“ dachte sie bei sich.
Unten an der Treppe warteten die drei Verjagten auf sie. Das hatte Lene nicht erwartet, es freute sie. Die Jungen hatten die base noch nie so schlimm gesehen, und die Mutter war ihnen daneben so gut vorgekommen! Zum erstenmal schlugen sie sich auf die Seite der Mutter. Lene fühlte es, ihr Herz wurde so fröhlich, wie schon lange nicht mehr, und munter sagte sie zu ihren dreien: „Kommt, wir machen recht schnell und tun hurtig alle Arbeit, dann reicht’s heute abend noch zu einer schönen Geschichte!“ und ganz jugendlich sprang die Mutter mit ihren drei Wilden durch den Hof.
Als Gretchen nach einigen Tagen die base aufsuchte, saß die alte Frau behaglich im Lehnstuhl, ließ sich von Gretchen die warme Decke überbreiten und erzählte Gretchen eine Viertelstunde lang von der Gicht. Gretchen hätte viel lieber von Lene gehört, um zu erfahren, ob ihr die base jetzt nicht mehr zürne. Als die alte Frau aber gar nicht auf dies Gespräch zu bringen war, fragte Gretchen gerade aus: „Nicht wahr, der Lehnstuhl tut Ihnen wohl? und Lene ist doch gut, daß sie ihn gebracht hat?“
Aber die unverbesserliche Alte entgegnete: „Der alte Stuhl war ihr wohl nicht mehr schön genug, den hat sie gern los gehabt.“
Im nächsten Augenblick war Gretchen schon die Treppe hinunter – der Abschied mußte kurz gewesen sein.