„Dann ist es ein ganz unschädliches Tier, das man ruhig mit der Hand anfassen darf,“ entschied Fräulein von Zimmern. „Ja,“ bestätigten die Kinder, „wir haben es heute schreiben müssen: Die Ringelnatter ist ein gutartiges Tier, sie ist blauschwarz mit gelben oder weißen Flecken am Kopf, kann 1½ Meter lang werden und nährt sich von –“ „Genug,“ unterbrach Fräulein von Zimmern, „es handelt sich nur darum, das Tier einzufangen. Mathilde, rufe das Dienstmädchen herbei und sage ihr, daß sie einen Deckelkorb mitbringe.“
Das Mädchen erschien mit dem Korbe, aber sie stellte sich sehr ungeschickt an, als ihr der Auftrag wurde, die Schlange einzufangen. Sie erklärte sich bereit, das Tier totzuschlagen, aber nicht, es mit den Händen zu greifen. Was wollte die Vorsteherin dagegen sagen? Sie konnte von andern nicht fordern, was sie selbst sich nicht zutraute, und sie wußte sich keinen Rat. Da trat aus der ängstlich an der Türe stehenden Gruppe der Schülerinnen Mathilde Braun hervor und sagte: „Fräulein von Zimmern, ich weiß jemand, der Würmer und Salamander und Blindschleichen anfassen kann, und vielleicht auch Ringelnattern.“
„Wen meinst du?“
„Gretchen Reinwald. Im Sommer, wie wir miteinander auf dem Lande waren, hat sie immer eine Menagerie gehabt von solchen Tieren; ich glaube, sie fürchtet sich vor keinem!“ „Schnell gehe hinauf und hole sie herunter.“
Mathilde mit großem Gefolge sprang die Treppen hinauf bis in den obersten Stock, wo die Großen ahnungslos beisammen saßen und auf die Nachricht von dem aufregenden Ereignis sofort herunter eilten, ehe sie nur recht gehört hatten, warum nach ihnen geschickt worden war.
„Gretchen,“ redete Fräulein von Zimmern die Gerufene an, „es handelt sich darum, die Ringelnatter, die dort in der Ecke liegt, zu fangen und in den Korb zu bringen. Es ist ein vollkommen unschädliches, harmloses Tier, und die Scheu, die wir davor haben, ist töricht und grundlos. Teilst du diese Scheu, oder traust du dir zu, die Schlange zu greifen?“
Gespannt sah die ganze Versammlung auf Gretchen und erwartete die Antwort.
„Ich mag alle Tiere gern und fasse sie auch an,“ sagte Gretchen, „aber ob ich sie gleich erwische, weiß ich nicht gewiß, sie sind so flink.“
„Versuche es,“ sagte Fräulein von Zimmern. In diesem Augenblick erhob sich ein klägliches Stimmchen und rief unter Schluchzen: „Warum denn gerade mein Fräulein? Es soll’s jemand anders tun, nicht mein Fräulein!“ Es war die kleine Ruth, die in ihrer Herzensangst ihre sonstige Schüchternheit vergessen und diese Worte laut gerufen hatte. Gretchen, ganz gerührt von diesem unwillkürlichen Ausdruck der Liebe ihrer kleinen Schülerin, ging auf sie zu, herzte sie und beruhigte sie über das gefahrlose Unternehmen. Fräulein von Zimmern aber befahl nun allen Kindern, hinauszugehen. Ungern genug gehorchten diese. Die Türe wurde geschlossen und die Vorsteherin blieb allein mit Gretchen. „Du mußt die Schlange möglichst nahe am Kopfe fassen, damit sie dich nicht beißen kann,“ sagte sie, „aber warte noch ein wenig, ich will dir einen dicken Handschuh holen, damit du besser geschützt bist.“