Die Schule ging ihren regelmäßigen Gang. Gearbeitet mußte tüchtig werden in dem Institut von Fräulein von Zimmern, denn es wurden hohe Ansprüche an die Oberklasse gemacht; aber das hübsche Schulzimmer übte eine große Anziehungskraft, und es war ein eifriges Treiben an dem langen, grünen Tisch. Um zehn Uhr, wenn eine Glocke das Zeichen gab, daß die Jugend ein freies Viertelstündchen im Hof zubringen durfte, hatten die „Großen“ allein das Recht, im Haus zu bleiben, und ungestört von der großen Masse der jüngeren Schülerinnen machten sie Spiele auf dem langen Gang des oberen Stockwerks oder setzten sich gruppenweise zusammen auf der obersten Treppe und plauderten. Meistens ging es lustig zu, manchmal gab es auch Ärgernis: wenn Elise Schönlein, die nicht sehr stark war im Lernen, die Pause benützen wollte, um sich gute Ideen für den Aufsatz oder sonstige Arbeiten geben zu lassen, und wenn Ottilie, die ihr solche Hilfe nicht gönnte, sie irre führte oder verhöhnte.
Heute waren die Mädchen mit ihren Gedanken noch bei der Literaturstunde und Hermine schlug vor, sie wollten sich einander Zitate aus Dichterwerken aufgeben und erraten, aus welchem Stück sie seien. Das Spiel war bald im Gang.
Aber auch eine andere Klasse war heute, unbefugter Weise, nicht ins Freie hinausgegangen, es war die dritte, in der die kleine Ruth war, und zu der auch Mathilde Braun gehörte. Die Kinder hatten eben Naturgeschichte gehabt, und ihr Lehrer hatte etwas sehr Interessantes mitgebracht. Es war eine lebende Ringelnatter; sie lag in einem großen Glasbehälter, dessen Boden mit Sand bestreut war. Das Glas war oben mit einem tüllartigen Stoff zugebunden. Der Lehrer hatte den Kindern die Natter gezeigt und ihnen vieles über ihre Eigenart mitgeteilt. Nach der Stunde hatte er den Behälter auf einen Seitentisch gestellt, bis er ihn abholen lassen würde. Als der Lehrer fort war, wollten die Kinder die Schlange noch besehen und drängten sich alle um den Tisch. Da nun eins dem andern den Anblick versperrte, erklärte eine wilde kleine Hummel: „Ich weiß den besten Platz;“ sie erkletterte den Tisch und setzte sich neben den Glaskasten. Sie betrachtete ihn noch eine Weile, das Tier lag aber wie leblos in seinem Kasten, und so wurde es den Kindern endlich langweilig, auch erinnerten sie sich, daß sie eigentlich ins Freie gehen sollten. So entfernte sich eine nach der andern.
„Hilf mir auch herunter, daß der Tisch nicht knappt,“ rief die Kleine, die droben saß, Mathilde Braun zu. Der Tisch knappte aber doch, trotz der Hilfe, er neigte sich, Kind und Glasbehälter kamen gleichzeitig auf dem Boden an. Das Glas zerbrach, und die Schlange, die so leblos geschienen hatte, ringelte sich mit äußerster Geschwindigkeit durchs ganze Zimmer hindurch bis in die hinterste Ecke, wo ein Schirmständer stand. Hinter diesem verschwand sie. Die Kinder erhoben in ihrem Schrecken ein furchtbares Geschrei, so daß im Nu nicht nur ihre Kamerädinnen, sondern auch Schülerinnen anderer Klassen herbeiliefen, und das Zimmer wäre gleich überfüllt gewesen, wenn sich nicht viele gescheut hätten, einzutreten, als sie hörten, daß die Schlange frei sei. Es war ein unerhörtes Durcheinander, ein Schreien, Weinen, Erzählen, das aber plötzlich verstummte, als Fräulein von Zimmern erschien.
Sie fragte nicht, „was ist geschehen,“ denn sie kannte die junge Welt und wußte, daß dann zwanzig Stimmen zugleich antworten würden und sie nachher nicht klüger als vorher wäre. Sie rief den Kindern zu: „Wer mir genau erzählen kann, was geschehen ist, soll den Finger aufheben.“
Mathilde Braun hob den Finger, und von ihr ließ sich nun Fräulein von Zimmern berichten, was geschehen war. Sie ging nach der Stelle, die ihr die Kinder bezeichneten, und sah hinter dem Schirmständer im dunkeln Eck eine zusammengerollte, dunkelblaue Masse.
„Wißt ihr gewiß, daß euer Lehrer die Schlange eine Ringelnatter genannt hat?“ fragte Fräulein von Zimmern. Einstimmig wurde diese Frage bejaht.