Über dem Meer verdunkelte sich der Himmel. Das lag nicht nur am Sonnenuntergang, sondern auch an der dicken Wolkendecke, die von einem aufziehenden Unwetter Richtung Land gedrückt wurden. In der Ferne blitzte es bereits. Leises Donnergrollen war trotz des zunehmenden Windes zu hören. Schon bald würde ein kräftiger Sturm losbrechen. Mit jeder Minute wurden die Wellen, die sich am nahen Strand brachen, größer und gefährlicher. Kein Mensch wagte sich jetzt noch vor auf die Straße.
In einem Haus, das nah am Hafen stand, sah Emilia aus dem Fenster des zweiten Stockwerks. Sie blickte unruhig auf das endlose Meer hinaus. Der Horizont, den sie suchte, war bereits untrennbar mit dem Himmel verschmolzen. Eine Grenze dazwischen war nicht mehr zu erkennen.
»Hoffentlich kommt er bald nach Hause.«, sagte Emilia immer wieder zu Mama. »Ich mache mir immer große Sorgen, wenn Papa bei schlechtem Wetter mit dem Schiff unterwegs ist.«
Mama, die durch ein dickes Buch blätterte, ohne es zu lesen, nickte. »Das geht mir nicht anders. Aber es ist seine Leidenschaft, die er um nichts in der Welt aufgeben würde. Er ist Seemann, wie es schon Opa und Uropa gewesen sind.«
Emilia sah zum Hafen hinüber, auf den verwaisten Liegeplatz, wo Papas Schiff jetzt hätte sein sollen. Es war das einzige, dass noch nicht zurück gekehrt war.
»Er wird es schon schaffen.«, sagte Mama, die sich mit diesen Worten selbst beruhigen wollte. »Er hat es immer geschafft. Der Leuchtturm wird ihm den Weg zeigen.«
Der Leuchtturm. Das war Emilias Lieblingsgebäude. Beinahe täglich saß sie auf der Bank, die vor ihm stand, blickte stundenlang hinaus auf das Meer und träumte davon, eines Tages in ihm zu leben und das Licht für die Seeleute zu entzünden.
Doch dann erlosch genau dieses Licht, wie auch alle anderen Fenster der Stadt dunkel wurden. Stromausfall.
»Nein!«, war Emilia entsetzt. »Das darf nicht sein. Wie soll Papa denn jetzt nach Hause finden?«
»Ganz ruhig, Mäuschen.«, sagte Mama mit zitternder Stimme. Das Licht geht bestimmt gleich wieder an.«
»So lange kann ich aber nicht warten. Papa braucht meine Hilfe.«
Emilia lief in ihr Zimmer, warf eine Kiste mit Kram um und suchte in der Dunkelheit nach einem ganz bestimmten Gegenstand. Sie tastete mit den Händen hin und her, bis sie ihn fand: ihre Taschenlampe. Sofort ging es zurück ins Wohnzimmer.
»Wenn es der Leuchtturm nicht macht, werde ich Papa den Weg weisen.«
Emilia schaltete die Taschenlampe an und richtete den kleinen Lichtstrahl auf das Meer. Dort stand sie nun, bangte um das kleine Schiff, das den Weg in den Hafen suchte und wurde nicht müde, bis dahin auszuhalten.
»Jetzt bin ich der Leuchtturm. Ich habe nur ein ganz kleines Licht, aber es ist alles, was ich habe.«
Angestrengt blickte sie nach draußen und versuchte verzweifelt trotz Dunkelheit, Regen und Sturm etwas zu erkennen. Etwa eine Stunde später klingelte es. Emilia wäre vor Schreck fast die Taschenlampe aus der Hand gefallen.
Mama sprang vom Sofa auf, ließ ihr Buch fallen und stürmte zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Papa. Sie hatten es geschafft und hatten gerade im Hafen angelegt. Sie waren in Sicherheit.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es war, den Weg zu finden. Ohne den Leuchtturm wussten wir nicht, in welche Richtung wir fahren sollten. Aber ein ganz kleines Licht in der Ferne hat uns Hoffnung gegeben und uns hierher geführt.«
Emilia, die alles mit angehört hatte, atmete erleichtert auf und knipste die Taschenlampe aus. Nun war sie ein echter Leuchtturm – ein kleiner Leuchtturm.