Am Abend, während die Sonne Platz für den Mond machte, der Himmel sich langsam verdunkelte und die ersten Sterne zum Vorschein kamen, kam der kleine Geist auf dem staubigen Dachboden der alten Burg aus seinem Versteck. Laut gähnte er, streckte sein Lacken in alle Richtung von sich und sah sich um.
»Jede Nacht geschieht hier das selbe. Es wird Nacht, ich stehe auf und spuke durch die Burg. Irgendwie wird das im Laufe der Jahrhunderte ganz schon langweilig. Ich möchte mal etwas anderes unternehmen und erleben. Wenn ich doch nur wüsste, was es ist.«
Er schwebte zu einem kleinen, runden Fenster, dass sich in der Außenwand befand und sah hinaus. Sein Blick fiel auf das Dorf, dass sich im nahen Tal befand und in dem er auch schon des Öfteren gespukt hatte.
»Ach, nein. Das ist auch langweilig. So langsam gewöhnen sich die Menschen an den Geisterbesuch und erschrecken sich nicht mehr richtig. Ich möchte etwas ganz Neues ausprobieren. Vielleicht sollte einfach mal die Burg verlassen und Urlaub machen. Vielleicht komme ich dann auf andere Ideen.«
Er packte sein weniges Hab und Gut in ein Tuch, verschnürte es zu einem Bündel und hängte es an einen Wanderstab. Den Stab legte sich der kleine Geist über die Schulter und schwebte in die Welt hinaus.
Es ging über dunkle Wälder und Felder, vorbei an Dörfern und Städten, an Bergen und Tälern vorbei. Doch überall sah es so langweilig aus wie Zuhause. Erst als der kleine Geist am Ende der Welt ankam, änderte es sich. Das Land sah aus wie abgeschnitten. Dahinter gab es nur noch unendlich viel Wasser. Der kleine Geist war am weiten Meer angekommen.
»Wow!«, entfuhr es ihm begeistert. »Das hier ist auf jeden Fall etwas ganz Anderes.«
Er sah sich im Schutz der Dunkelheit um, schwebte über einem Deich an der Küste entlang. Auch hier gab es Dörfer. Doch hier lebten ganz andere Menschen, die auf der einen Seite derb und rau wirkten, vom schlechten Wetter abgehärtet. Sie schienen vor nichts und niemandem Angst zu haben. Wie auch? Sie lebten immer in der Gefahr von Stürmen und Fluten.
»Vielleicht sollte ich hier mein Glück versuchen. Wer so wenig Angst hat, fürchtet sich vielleicht vor nichts, außer vor Geistern.«
Doch bevor der kleine Geist in eine Matrosenspelunke eindringen konnte, begann sich die Luft um ihn herum zu bewegen. Es kam Wind auf, der ihn schnell packte und fort zu wehen drohte.
»Du meine Güte.«, war der kleine Geist überrascht. »Das ist kein kleiner Wind, das ist ein ausgewachsener Sturm. Wenn ich nicht aufpasse, wird er mich so durchschütteln, dass ich nicht mehr weiß, wo oben und unten bin.«
Er sah sich nach einem Unterschlupf um und entdeckte auf dem Deich einen kleinen, gestreiften Turm.
»Darin werde ich bestimmt Schutz finden.«
Er drang in den Turm ein. Schlagartig war er vom Wind befreit und konnte dem wilden Treiben durch ein großes Fenster gebannt folgen.
Auf dem Meer wuchsen die Wellen bedrohlich an. Mit jeder Minute wurden sie höher und klatschten unaufhörlich gegen die Küste. Nur der Deich hielt sie davon ab, die nahen Dörfer zu überfluten.
»Kein Wunder, dass die Menschen hier oben so abgehärtet sind. Sie sind einiges gewohnt. Das Meer kann einem Menschen deutlich mehr Angst einjagen, als ein kleiner Geist. Zum Glück liegt es die meiste Zeit ganz ruhig da.«
Der Sturm gewann an Stärke. Mit geballter Kraft spritzte er immer wieder Meerwasser gegen das Fenster, dass der kleine Geist kaum noch etwas sehen konnte.
»Moment mal. Was ist denn das?« Er rieb sich die Augen, blickte angestrengt nach draußen. »Ist das etwa ein Schiff, dass da mit den Wellen kämpft?«
Tatsächlich waren noch Menschen dort draußen unterwegs, die vom Unwetter überrascht worden waren. Nun trieben sie auf die Küste zu, ohne es zu bemerken.
»Wenn sie nicht bald sehen, wohin sie steuern, wird ihr Schiff zerstört und alle an Bord werden ertrinken. Das kann ich nicht zulassen.«
Verzweifelt sah sich der kleine Geist nach etwas um, womit er die Seeleute auf die Gefahr aufmerksam machen konnte. Sein Blick fiel auf die große Lampe, die in der Mitte des Raumes stand.
»Ich befinde mich in einem Leuchtturm? Was für ein grandioser Zufall. Ich muss nur noch das Licht zum brennen bringen.«
Doch woher sollte er ein Strichholz bekommen? So würde niemals das Schiff warnen können.
»Da hilft nur noch hoffen, ein Wunder und vielleicht etwas Zauberei.«
Der kleine Geist schwebte durch das Glas der Lampe, schloss die Augen und strengte sich unheimlich an. Er konzentrierte sich auf das fahle Glimmen seines Geisterkörpers, bis daraus ein heller Lichtschein entstand, der über das Tosen des Meeres leuchtete.
Augenblicklich sahen die Seeleute, in welcher Gefahr sie sich befanden und änderten den Kurs ihres Schiffes. So konnten sie sich im allerletzten Augenblick in den sicheren Hafen retten.
Überanstrengt, ausgelaugt und müde kam der kleine Geist aus der Lampe hervor. Sein Licht wurde wieder zu einem kaum sichtbaren Glimmen. Er schwebte langsam zum Boden und schlief dort bis zum nächsten Abend.