Es war an einem Ostersamstag, als sich ein armer Leineweber mit seiner Ware auf den Weg nach Claustal machte, um sie dort zu verkaufen. Die Geschäfte liefen nicht recht gut und dann musste er auch noch, weil er zu spät zu Hause aufgebrochen war, in der Stadt übernachten. Das kostete Geld, das der Leineweber eigentlich nicht übrig hatte.
Am nächsten Morgen machte sich der Leineweber auf den Heimweg. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als er an bei Söse an einem Fluss eine weißgekleidete junge Frau sah, die sich im Fluss wusch. Sie trug an ihrem Gürtel ein schweres Schlüsselbund, das konnte der Leineweber gut erkennen, und weil er ein höflicher Mensch war und die Frau ihm freundlich zugelächelt hatte, sprach er sie an: „Ei, schon so früh unterwegs bei einem Bad im Fluss?“
Die junge Frau antwortete: „Ja, das tue ich an jedem Ostermorgen. So bleibe ich jung und schön.“ Da betrachtete der Leineweber die Frau ein wenig genauer und entdeckte an ihrer Brust eine weiße Lilie. Erstaunt fragte er: „Lilien? Ihr müsst aus einer warmen Region kommen, wenn ich schon zu Ostern blühende Lilien im Garten habt.“
„So ist es“, antwortete die weiße Frau, die den Leineweber sogleich einlud, ihr zu folgen. Der Mann nahm die Einladung gerne an. Doch wie erstaunt war er, als ihn die Jungfrau zur Burg Osterode führte, die der Leineweber gut kannte. Nur irgendwie, so fand er an diesem Morgen, sah die Burg anders aus als sonst. Er entdeckte eine eiserne Tür, die er zuvor bei seinen vielen Besuchen auf der Burg noch nie entdeckt hatte. Vor dieser Tür wuchsen drei weiße Lilien, von denen die Jungfrau nun eine pflückte und dem Mann als Geschenk gab. „Verwahre diese Blume gut“, sagte sie ihm.
Der Leineweber steckte sich die Lilie an den Hut und als er wieder aufblickte, war die Frau verschwunden und auch die Burg sah irgendwie wieder so aus wie immer, selbst die eiserne Tür war verschwunden. Also ging der Leineweber weiter Richtung Heimat.
Dort angekommen, schenkte er seiner Frau die Blume. Die aber staunte nicht schlecht, als ihr Mann ihr die nun durch und durch goldene Blüte reichte. Doch auch er schaute erschrocken: „Nun muss ich mich nicht mehr wundern, warum mein Hut beim Tragen plötzlich so viel schwerer war als zuvor“, sagte er. „Du bist der Osterjungfer begegnet“, erwiderte seine Gattin, die die Sage kannte.
Natürlich wollte der Leineweber die goldene Blume sofort verkaufen, um seiner Familie von nun an ein gutes Leben zu ermöglichen. Er trug sie also zum Goldschmied, der ihm versicherte, die Blume sei aus dem kostbarsten Gold und Silber gefertigt, das man kenne. Nur leider würde niemand in der Stadt so viel Geld besitzen, um sie zu bezahlen. Doch der Goldschmied wollte den armen Leineweber nicht ohne Hoffnung nach Hause schicken. „Versuch es doch einmal beim Herzog“, gab er ihm mit auf den Weg.
Und so kam es, dass der Leineweber bei dem Herzog vorsprach und ihm die goldene Lilie zum Kauf anbot. Der Herzog war mehr als angetan von diesem besonderen Schmuckstück, doch auch er besaß nicht so viel Geld, um sie dem Leineweber abkaufen zu können.
Dem Herzog jedoch kam eine Idee. „Überlasse mir die Lilie, so will ich dir Jahr für Jahr einen festen Betrag als Bezahlung geben, damit du zu deinem Recht kommst“, sprach er. Der Leineweber willigte nach reiflicher Überlegung in den Handel ein. Von nun ab lebte er mit seiner Frau und seinen Kindern in guten Verhältnissen und musste sich um Geld nie wieder Sorgen machen.
Die Herzogin trug die goldene Lilie nur zu ganz besonderen Anlässen an ihrer Kleidung. Der Herzog aber nahm die drei Lilien als Zeichen seiner Verbundenheit mit der Osterjungfer in seinem Wappen auf.