Was die Distel erlebte
[von Hans Christian Andersen]
Zu dem reichen Herrensitz gehörte ein schöner, gut gepflegter Garten mit seltenen Bäumen und Blumen. Die Gäste auf dem Schloss waren entzückt darüber, und die Bewohner der Umgegend kamen an Sonn- und Feiertagen, um den Garten anzusehen. Ja, ganze Schulen fanden sich zu ähnlichen Besuchen ein.
Vor dem Garten stand am Gitter zum Feldwege hinaus eine mächtige Distel. Sie war so groß, dass man sie wohl einen Distelbusch nennen konnte, denn sie war von der Wurzel aus in mehrere Zweige geteilt. Niemand sah sie an, außer dem alten Esel, der den Milchwagen für das Milchmädchen zog. Der Esel machte einen langen Hals nach der Distel und sagte: "Du bist schön! Ich könnte dich glatt auffressen!" Aber der Esel stand angepflockt und die Leine war nicht lang genug.
Im Schloss war eine große Gesellschaft mit hochadeligen Verwandten aus der Hauptstadt und jungen, niedlichen Mädchen. Unter ihnen war auch ein Fräulein von weit her. Sie kam aus Schottland, war von vornehmer Geburt und reich an Geld und Gut. Das sei eine Braut, deren Besitz sich schon lohne, sagte nicht wenige junge Herren, die Mütter sagten es auch.
Die Jugend tummelte sich auf dem Rasen und spielte Krocket. Sie gingen zwischen den Blumen umher, und jedes junge Mädchen pflückte sich eine Blume und steckte sie in das Knopfloch von einem jungen Herren. Die junge Schottin aber sah sich lange um, verwarf eine Blume nach der anderen. Keine schien nach ihrem Geschmack zu sein, doch dann schaute sie über das Gitter hinaus. Da draußen stand der große Distelbusch mit seinen rotblauen, kräftigen Blüten. Die junge Schottin lächelte und bat den Sohn des Hauses, ihr eine Stück davon zu pflücken. "Das ist Schottlands Blume", sagte sie. "Sie prangt in dem Wappen des Landes, darum möchte ich sie gerne haben!"
Der junge Herr holte die schönste Blüte und stach sich dabei in die Finger, als wären Rosendornen daran. Die junge Schottin steckte ihm aber zum Dank die Distelblüte ins Knopfloch, und er fühlte sich hoch geehrt. Alle die andern jungen Herren hätten gerne ihre Prachtblume hergegeben, um diese tragen zu können, die von den feinen Händen der jungen Schottin gespendet war.
Und wenn sich der Sohn des Hauses geehrt fühlte, wie mochte sich da die Distel erst vorkommen! Es war, als durchströmten sie Tau und Sonnenschein. "Ich bin mehr, als ich glaube", sagte sich die Distel im Stillen. "Ich gehöre wohl eigentlich hinter das Gitter und nicht draußen auf das Feld. Aber nun ist doch ein Teil von mir über das Gitter gekommen und sitzt obendrein im Knopfloch!"
Die Distel erzählte jeder Knospe, die kam und sich entfaltete, was sich zugetragen hatte. Und es waren noch gar nicht viele Tage vergangen, da hörte der Distelbusch nicht von Menschen, auch nicht von den Vögeln, sondern aus der Luft selber eine Neuigkeit, die aus den innersten Gängen des Gartens und aus den Zimmern des Schlosses kam, dort, wo die Türen und Fenster offen stehen. Der junge Herr, der die Distelblüte aus der Hand der jungen Schottin erhielt, habe nun auch ihre Hand bekommen. Es sei ein schönes Paar, eine gute Partie.
"Die habe ich zusammengebracht", meinte der Distelbusch und dachte an die Blüte, die er für das Knopfloch hergegeben hatte. Jede Blüte, die aufbrach, bekam das Ereignis zu hören. "Jetzt werde ich gewiss in den Garten gepflanzt", dachte die Distel. "Vielleicht werde ich auch in einen Topf gestellt, der klemmt. Das soll ja das Allerehrenvollste sein!" Und der Distelbusch dachte so lebhaft daran, dass er mit voller Überzeugung sagte: "Ich komme in einen Topf!" Er versprach jeder kleinen Blüte, die aufging, dass sie auch in den Topf kommen werde, vielleicht sogar ins Knopfloch. Das war das Höchste, was erreicht werden konnte.
Aber es sollte ganz anders kommen. Keine kam in den Topf, geschweige denn ins Knopfloch. Sie tranken Luft und Licht, sie schleckten Sonnenschein am Tage und Tau in der Nacht. Die Blüten bekamen Besuch von Bienen und Bremsen, die nach Mitgift suchten. Sie saugten fleißig die süßen Säfte und ließen die Blume dann einfach stehen. "So ein Räubergesindel" dachte der Distelbusch. "Könnte ich sie doch auffressen! Aber das kann ich nicht!"
Die Blüten ließen den Kopf hängen, welkten hin, doch es kamen immer wieder neue. "Ihr kommt wie gerufen", sagte der Distelbusch. "Jede Minute erwarte ich, dass man uns hinter das Gitter verpflanzt!" Ein paar unschuldige Gänseblümchen und Wegerichpflanzen standen da und hörten mit Bewunderung zu. Sie glaubten alles, was der Distelbusch sagte.
Der alte Esel vom Milchwagen schielte vom Wegesrande zu dem Distelbusch hinüber, aber die Leine war zu kurz. Er konnte ihn einfach nicht erreichen. Und der Distelbusch dachte immerzu nur an die Distel Schottlands, zu deren Familie er sich zählte. Schließlich glaubte der Distelbusch sogar, er sei aus Schottland gekommen und seine Eltern wären selber im Wappen Schottlands erblüht. Das war ein großer Gedanke, aber eine große Distel kann wohl einen großen Gedanken haben.
"Man ist oft von so vornehmer Familie, dass man es gar nicht zu wissen wagt", sagte die Nessel, die dicht daneben wuchs. Sie hatte auch eine Ahnung davon, dass sie zu "Nesseltuch" werden könne, wenn sie nur richtig behandelt würde.
So ging es den ganzen Sommer über, bis weit in den Herbst hinein. Die Blätter fielen von den Bäumen, die Blumen bekamen stärkere Farben und dufteten immer weniger. Die jungen Tannenbäume im Walde hatten schon Sehnsucht auf Weihnachten, aber es war noch lange hin.
"Hier stehe ich nun", sagte die Distel. "Es ist so, als ob niemand mehr an mich denken würde. Dabei habe ich doch die Partie gemacht. Sie haben sich verlobt und die Hochzeit gefeiert. Das ist jetzt acht Tage her, und ich habe immer noch keinen Schritt vom Gitter weg getan."
Es vergingen noch einige Wochen. Die Distel stand mit ihrer letzten, einzigen Blüte da, die ganz nahe an der Wurzel groß und voll aufgegangen war. Der Wind wehte kalt darüber, und der Kelch stand wie eine versilberte Sonnenblume da.
Da kam das frisch vermählte Paar in den Garten. Sie gingen am Gitter entlang, und die junge Frau sah darüber hinaus. "Da steht ja noch die große Distel!", rief sie. "Jetzt hat sie keine Blüte mehr." "Ja", erwiderte der junge Herr, "da ist nur noch das Gespenst von der letzten." Er zeigte auf den silberschimmernden Rest der Blüte, der einst eine Blüte war. "Wie schön die ist", sagte sie. "So eine Distel muss in den Rahmen um unser Bild geschnitzt werden!"
Der junge Mann musste abermals über das Gitter steigen und stach sich beim Pflücken wieder in die Finger. Der Kelch kam durch den Garten, in das Schloss und in den Saal, wo ein Gemälde stand. Es zeigte das junge Ehepaar. In das Knopfloch des Bräutigams war eine Distelblüte gemalt. Man sprach davon, und man sprach von dem Distelkelch, den sie brachten. Es war die letzte, jetzt silbern schimmernde Distelblüte, die in den Rahmen hineingeschnitzt werden sollte.
"Was man doch alles erleben kann!", sagte der Distelbusch zu sich selbst. "Meine Erstgeborene kam ins Knopfloch, meine Letztgeborene kommt in den Rahmen! Wohin komme ich?"
Wieder stand der Esel am Wegesrande und schielte zu dem Busch hinüber. Er rief: "Komm zu mir, mein Fress-Schatz! Ich kann nicht zu dir kommen, weil meine Leine nicht lang genug ist!" Der Distelbusch antwortete nicht. Immer mehr versank er in Gedanken. Er dachte und dachte, bis in die Weihnachtszeit hinein, doch dann zeigte der Gedanke seine Blüte. "Wenn es den Kindern gut geht", sagte die Distel, "wird die Mutter damit zufrieden sein, auch außerhalb des Gitters zu stehen!" "Das sind ehrenvolle Worte", sprach der Sonnenstrahl. "Sie sollen auch einen guten Platz bekommen!" "Im Topf oder im Rahmen?", fragte die Distel. "In einem Märchen!" antwortete der Sonnenstrahl.
Und hier ist es!