Zu dem Erdgeist Gaeus war das Mondwesen Elanuh zu Besuch gekommen. Sie flogen zusammen durch die herrlichsten Gegenden der Erde, und Elanuh, entzückt von dem Anblick der Wiesen, der Wälder, der Flüsse und Seen, rief aus: »Sie haben einen schönen Wohnplatz, die Menschen, es muß sich gut auf ihm leben lassen.«
»Ja wohl,« erwiderte der Erdgeist mit Stolz, »besonders dann, wenn sie, die athmen in dieser reichen Natur, mit ihrer höchsten Kraft begnadet und fähig sind, das Beste, das es giebt, zu empfinden.«
»Was ist das Beste?« fragte Elanuh.
»Die Liebe," entgegnete der Erdgeist.
Während ihres Gespräches schwebten sie über den Dächern einer großen Stadt. Auf einem Hügel, das Häusermeer beherrschend, erhob sich ein fürstlicher Palast, von einem goldenen Gitter umgeben. Elanuh flog hinüber, ließ sich an eines der Fenster gleiten und guckte voll Neugier in ein prunkhaft eingerichtetes Schlafgemach.
Da sah er ein Weib auf dem Boden liegen, ein reizvolles Weib, in der Fülle des Lebens. Sie raufte ihr Haar und rang verzweiflungsvoll die Hände vor einem Christusbilde an der Wand, und betete:
»Gieb es nicht zu, o Herr? Errette mich! Laß mich nicht unterliegen in Schmach. Nimm mich zu Dir, eh' ich verderbe! .... Denn ich verderbe, Herr — ich bin verloren. Ich war eine treue Frau, eine gute Mutter, und bin nun verloren. — Herr! Herr! ... Der Du für uns geblutet hast, sieh meinen Undank... Laß Deine Blitze auf mich niedersinken — ich frevle, indem ich zu Dir bete, denn während des Gebets denk' ich nur Sünde. ... Tödte mich, retten kannst Du mich nicht mehr!«
Sie zerriß ihre prächtigen Gewänder und raste in Verzweiflung gegen sich selbst.
Elanuh wandte sich ab und sprach zu Gaeus: »Die Unselige ringt wie in den Krallen eines wilden Thieres. Was ist die Ursache ihrer Leiden?«
Gaeus, etwas verlegen, antwortete: »Die Liebe.«
Er flog.weiter mit seinem Gaste, bis dieser vor einer Dachkammer Halt machte, die, trotz der vorgerückten Nachtstunde, noch erleuchtet war. Wieder sah er durch das Fenster und überblickte einen kleinen Raum, eine Stätte der Armuth. Auf einem Bänkchen, an der Wand, saß ein greises Ehepaar Schulter an Schulter, und Elanuh hörte die Alten jammern und wehklagen.
»Sie hat uns verlassen, sie hat uns dem Elend preisgegeben. Was bleibt uns noch übrig, als zu sterben, da sie fort ist, unsere Erhalterin, unsere Trösterin, unsere Einzige!«
»Fluch ihm, der unser Kind verleitet hat,« sprach der Greis, und hob die geballte, zitternde Faust gen Himmel. — Und die Greisin, mit dem Aufblitzen des Wahnsinns in ihren trüben Augen, wiederholte: »Fluch ihm!«
»Komm näher Gaeus,« sprach Elanuh, — »sieh diese Armen, und sage mir, welche Macht konnte eine gute Tochter bewegen, ihre Eltern, die hilflosen, — die sterbenden, in solchem Elend zurückzulassen?«
Gaeus senkte das Haupt und murmelte: »Die Liebe.«
Abermals nahmen sie ihren Flug, und plötzlich schoß Elanuh aus seiner Höhe zu einem kleinen, ebenerdigen Hause herab. Er schmiegte sich an das Fenster einer einfachen, weiß getünchten Stube, und erblickte ein liebliches Mädchen, das halb ausgekleidet an ihrem Bette lehnte. Mit dem Ausdruck der Todesangst ruhten ihre Augen auf einem jungen Manne, der vor ihr stand, verstört und bleich.
»Geh,« beschwor sie ihn — «der Vater erwacht. — Geh — was willst Du von mir?«
»Dich fragen: Ist morgen Deine Hochzeit?«
Sie brach in Thränen aus: »Quäle mich nicht — frage nicht, was Du weißt.«
»So ist Deine Hochzeit?« sprach er knirschend.
Das Mädchen schluchzte: »Du weißt es ja, und wem mein Herz gehört, das weißt Du auch.«
Wild und glühend sah er sie an: »Wenn Du nicht lügst, einen Kuß denn! — den ersten, den letzten: Ich will's!«
Verstohlen zog er mit der Rechten ein Messer hervor, riß mit dem linken Arme die Widerstrebende an sich, küßte sie und stieß ihr den Stahl in die Brust.
»Alle guten Geister! ... Was hat diesen Mann zum Mörder gemacht?« fragte Elanuh.
Gaeus verhüllte sein Antlitz und antwortete: »Die Liebe.«
»Und das ist das Beste, was es auf Erden giebt?« rief sein Gastfreund entsetzt. »Der gnädige Schöpfer steh' mir bei. Ich wünsche nichts mehr von Eurem Besten zu sehen. Lebe wohl.«
»Verweile,« bat Gaeus. »Ein unglücklicher Zufall hat uns geführt. Ich zeige Dir andere Bilder.«
»Sei bedankt, Du vermagst mir keine zu zeigen, welche mich diese vergessen machen könnten.«