Sie sind einst zusammen im Lehrerinnenseminar gewesen. Wieviel Jahre seither schon verflossen waren! Nun sahen sie mit ihren ergrauenden Haaren zurück in die Vergangenheit, die schon weit, o wie weit lag, — und wunderten sich, wie schnell sie gegen das Land des Todes fuhren. Ist das ein Eilzug durch Gefahren und Geschehnisse! Kaum, daß sie sichs versahen, war alles schon wieder vorüber.
Und nun blickten sie unwillkürlich zurück. Da saßen sie, durch einen äußerlichen Zufall zusammengeführt bei einander, erinnerten sich der in der Jugend gemeinsam verlebten Jahre, gestanden sich die fern von einander entstandenen Geschehnisse der vielen Jahre.
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Wie es so geht, hatten sie als Mädchen sich fest versprochen, Freundinnen durchs Leben zu bleiben. Aber das Leben ist mächtiger als Versprechungen aus Kindermund. Der Zufall riß sie auseinander. Nun waren sie überzeugt, daß sie sich nie wieder begegnen würden und daß das Ganze nur thörichte Jugendträume blieben. Wieder vergingen Jahre, da hatte eine die andere vergessen.
Doch das Leben führte sie plötzlich zu einander. Und nun fühlten sie sich wieder so vereint und fast verpflichtet, sich gegenseitig zu berichten, was das Leben ihnen Schlimmes oder Gutes gebracht.
Mit Scheu und Wehmut sahen sie einander an. Da ein blonder Kopf, der einst voll ährengoldner Haare glänzte — nun waren sie schütter und verblaßt.
Hat zuviel Sonne darauf geschienen? dachte die Dichterin.
Dort ein Kopf: Augen wie schwarze Kirschen, Jasmin die Wangen — alles Duft und Glut einst! Jetzt war die Haut lehm[S. 115]farben und über das Haar lag es wie Spinneweben auf altem Gemäuer.
Und dann jene.
Die schöne Gestalt, die sie damals hatte. Ja, wie wurde die einst beneidet! Sie war die erste, die einen Busen hatte und Hüften. Ach! Wie sah sie reizend und rund im Schwimmkleid aus! Wie ein Püppchen. Sie-Selbst hatte damals eine rechte Herzensfreude an sich! Nun war sie ganz aufgedunsen und von ungesunder Blässe, die einst schönen Augen verschwanden im Fett.
Jene wieder war hager. Fast hätte man es von ferne für Jugend nehmen können. Aber es ist die spitzige Eckigkeit stark gewordener Knochen.
Wie sie sich so ansahen und sich vergebens bemühten, die geliebten Züge der Jugend unter dieser schlimmen Veränderung wiederzuerkennen, fiel sinnender Ernst in ihr Gemüt.
Als wären sie von derselben Gedankenkette umschlungen, fühlten sie: ist mit unseren Träumen, Wünschen, Hoffnungen nicht dies gleiche Anders[S. 116]werden vor sich gegangen, wie mit unserer äußeren Gestalt? Haben wir erreicht, was einst unsere Jugend hoffend sich als Ziel gesetzt?
Da schwiegen sie beschämt auf ihre eigene, stumme Frage.
Sie wurden sich klar, daß alles, alles anders gekommen war, als sie gewollt, gedacht, geträumt hatten. Wie durch die heransausende Lokomotive die dürren Blätter auf den Schienen durch den Luftzug fortfliegen, so hatte sie das Schicksal hinausgeweht und sie glaubten, sie wären selbst geflogen.
Nun wußten sie es und mußten fast über sich lächeln. Dann erzählten sie einander von ihren Geschehnissen.
Da war eine unter ihnen, zärtlich, scheu, voll liebender Hingebung. Ueber alles, wie die Schale um süßen Kern, ein herber Trotz. Ach! ach! was wird das für ein Glück für den, der einst den Kern bekommt! hatten damals die Mädchen gesagt. Die verheiratet sich bald, prophezeiten sie.
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Aber es kam anders. Sie schlug einen nach dem andern aus. (Wer hätte sich dies von ihr gedacht!) Und spät, wie der, welcher lange suchend am Markte umhergeht, ohne zu finden, was ihm eigentlich behagt und dann etwas halbwegs Konvenierendes nimmt, um nur nicht ganz leer nach Hause zu kommen, spät erst wählte sie einen Gatten.
Ihre Befürchtungen hatten sich nicht getäuscht. Es wurde so schlimm, daß sie sich gezwungen sah, wieder in ihre Einsamkeit zurückzukehren. Das Leben war aber drüber halb vergangen und dem Herbste blüht kein neuer Mai.
Du Arme, Süße, sagten die Freundinnen. Du weinst um ein verpfuschtes Leben!
Ei nein! sagte sie. Zwar schön war es nicht, doch weiß ich nicht, was ihr habt. Warum soll ich nur an mich denken? Ist denn mein kleines Einzeldasein schon wert eines so großen Gejammers! Ein Mensch allein, was ist das? Nichts. Alle, alle, die Menschheit! Erst die hat ein Schicksal, ein Leben, einen Weg, eine Zukunft.
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Die kleine Zwischenkette des Leides, die ich im Dasein repräsentiere...! (Sie machte eine verächtliche Handbewegung, als wäre das gar nicht der Betrachtung wert.)
Und mein Dasein ist gar nicht so umsonst, als ihr meint. In dem Verfehlten meines Lebens habe ich soviel erlernt, beobachtet, was ich andern warnend geben kann, damit ihr Weg einst lichter wird. So ist die ganze Jugend, alles Blühende, Hoffnungskünftige der Menschheit meine Familie.
Die Schwarze seufzte tief auf.
Erzähle du nun, flüsterten die anderen. Aber es lag nicht das Oberflächliche klatschsüchtiger Neugierde darin, sondern der Durst, aus den Bechern der Geschicke das Leben zu ergründen.
Die Schwarze seufzte nochmals mit den Augen nach dem Spiegel hinüber —: Ihr könnt es euch nun nicht vorstellen, aber ich war schön, verehrt, angebetet.
Eine Sirene, eine Sphinx nannten mich zitternde Männerlippen in scheuer Verehrung.[S. 119] Und ich war stolz! Aber glücklich! nein! ich war es nie. Immer lag noch etwas in mir, was ans Licht kommen wollte. Ein Ewig-Ungeborenes sehnte am Grunde meiner Seele. Ich will euch alles gestehen, sagte sie leidenschaftlich. Verurteilt mich, aber sagen muß ich es. Seht, einstmals lebte ich wie ein Pfau. Nein, es ist häßlich, dies so zu schildern.
Ich empfand es anders. Ich war ganz trunken von Leben, Jugend, Schönheit. Ich berauschte mich an dem, was Spiegel und Männer sagten. Alle Menschen sah ich mühend um Macht und Ansehen, und ich kam und siegte. Das war wie zu stark betäubender Blumenduft — man taumelte lächelnd dahin. Zwar manchmal fühlte ich etwas in mir, als gäb es Welten von Innerlichkeit darin, die unberührt dastanden, wie das Schweigen mächtiger Urwälder. Aber dorthin kam meine leichte Seele nie. Sie fürchtete Dunkel und Gefahr.
Jetzt aber sehe ich es, ich vergeudete mein Leben. Von allem Herrlichen hab’ ich nichts genossen. Als meine Seele noch vibrieren konnte,[S. 120] war ich nichts als der Götze für fremde Verehrung. Was habe ich davon? Nein, nie war ich glücklich!
Die Dichterin, die bisher von allen ungesehen im Dunkel saß, sprach mild: verurteile dich nicht! Auch das war Leben! Und auch du hast dein Teil dem Ganzen gegeben. Denn wenn du auch selbst scheinbar nichts gethan noch gewollt, so hast du die Träume der Schaffenden befruchtet. Und auch dein Leben ist gesegnet.
Nun war die Blonde an der Reihe. Sie sprach ganz schüchtern: Ihr Lieben, von meinem Leben ist wenig zu berichten. Wenn ich nicht euren gütigen Ernst sehe, so müßte ich schweigen, so uninteressant ist es. Seht ihr, es giebt Blumen, die blühen jeden Frühling. Und manche, die gar nicht aufhören zu blühen. Ich kann es gar nicht fassen, aber es ist so.
Doch giebt es eine Pflanze, die blüht nur einmal und siecht dann hin — seht ihr! So eine Liebesblume wie die Aloe war ich. Mein zages und vielleicht stolzes Herz schoß nur einmal zur Liebesblume empor. Einen hab’ ich[S. 121] geliebt, hab’ ihm ein Kind gegeben. Außer meinem Gatten habe ich nichts gewünscht, geliebt, geträumt. Nun ist er tot. Da fühle auch ich mich sterben.
Die Dichterin drückte ihr die Hand. Du Allzureiche, Vielverschweigende, sprach sie. Nur der Durstige weiß beredt des Trankes Erquickung zu schildern.
Die Hagere seufzte: Ja, ihr! Aber was soll ich sagen! Ihr wißt, ich bin Frauenrechtlerin, habe einen nun bekannten Namen, jedes Blatt citiert mich. Man betrachtet mich förmlich als die Berufene, über die künftige Stellung des Weibes in der Gesellschaft zu entscheiden. Weib, Gesellschaft, Stellung, ich pfeife nun auf sie!
Wie ich jetzt so nachdenkend mit euch sitze, scheint es mir, als hätte ich mich in eine Einseitigkeit verbissen, die so schlimm ist als irgend eine andere. Ich nahm an, daß wir Frauen höchst unwürdig lebten. So als eine Art Püppchen für Männer. Nette Tändeldinge ihrer freien Stunden. Nichts weiter. Mir graute[S. 122] davor. Ein Gattenfang! Damit ist das Leben aus. Und sonst nichts für uns an den Tischen des Lebens! Und dieses ekelhafte Hinarbeiten auf dieses eine Ziel. Sonst nichts. Wenn ich nur diese verschiedenen Weiblichkeiten sehe, sich drehend und Augen rollend vor allem, was männlich ist! Nein, ich kann euch diesen Ekel nicht mitteilen. Die große Leidenschaft, die hätte ich wohl anerkannt, auch in meiner radikalsten Emancipierungsperiode. Aber ihr werdet mir zugeben, daß die gewaltige Liebe, die sich einsetzt und behauptet gleich einem Naturgeschehnis, selten ist, wie die Sintflut.
Also blieb nichts, als dieses kleine Stückchen Speck, das verlockend in der Mausfalle der Ehe hing. Und das waren wir, und immer wieder wir! Thränen der Wut habe ich über unser Los geweint! Glaubt es mir!
Dann dacht ich mir so ungefähr: weg mit diesem falschen Königstum und Sirenentum des Weibes. Verdient, plagt euch, arbeitet! Das hat auch sein Königliches. Es giebt euch Freiheit, damit ihr nicht so um den Mann zu[S. 123] buhlen braucht. Und dann, wenn wir arbeiten wie er, wollen wir auch seine Rechte haben.
Aber, nun werde ich irr an mir. Ueber die erste Jugend hinaus, die ich keusch und stolz, nichts wissend von Liebe verbracht hatte, scheint unauslöschlich all das, was ich verdammte, in köstlichsten Lockfarben. All’ das, was ich öffentlich vertrete, verwünscht mein Inneres. Ich zweifle. Oft bringe ich Stunden dahin, im Innern zu widerlegen, was ich doch überzeugt einst geschrieben habe. Oft auch kommt mir dieser Schmerz, als hätte ich die Frauen, statt zur Selbständigkeit zu noch Sklavenhafterem verleitet: nämlich zur Nachahmung der Mannesthätigkeit. Dann... dann hätte ich ihrer Natur den Boden unter den Füßen weggezogen, so daß sie rettungslos versinken müssen. Seht ihr, das ist schrecklich!
Warum Mannes-Wissenschaft? rief sie, während die Hälfte der Zuhörerinnen sie nicht verstand. Was ist das! Weil sie es so gefunden haben, soll es so die absolute Wahrheit sein? Nichts ist es, als ihre Anschauungs[S. 124]weise. Man kann einen Berg von oben und unten und rechts und links betrachten. Warum ist es gleich das Einzig-Richtige, von woher die Männer ihn sahen. Und seht ihr, gerade zu diesem Schauen hab ich die Frauen verführt. Vielleicht wäre aus ihnen selbst heraus in Generationen einmal etwas gekommen. Niemand kann sagen, was. Aber Etwas! Ich fühle es, daß es möglich gewesen wäre. Und muß es Wissenschaft sein? Dies Männliche, die Wissenschaft!
Im Gehirn liegen noch feinere Möglichkeiten, den Dingen beizukommen, als das Denken!
Die Hagere hatte sich in Eifer geredet. Keine der Anwesenden verstand sie, kaum eine war darunter, die nur nachfühlen konnte, welches innere Martyrium über diesem selbstlosen Frauenleben lag. Nur das Aeußerliche, Lächerliche daran wurde ihnen klar.
Und weil sie nun schon am Spötteln waren, so kritisierten sie sich heimlich gegenseitig.
Die Närrin, die niemand angeschaut!
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(Das war die Hagere.)
Die muß auch gelebt haben! Wer weiß, was für ein zweideutiges Dasein!
(Das war die Schwarze!)
Könnte auch eine Entfettungskur gebrauchen, statt sich zur Jugenderzieherin aufzuschwingen!
(Das war die Volle.)
Ach! was für ein fades Dasein! Ob sie’s nicht bereut!
(Das war die Blonde.)
— — — — — — — — — —
Die Dichterin schien noch ganz nachdenklich über die Worte der Hageren. Dann sprach sie: Kränke dich doch nicht! Was du uns zuriefest ist wahr.
Verstand ich dich recht, so sagtest du: des Mannes Herz ist der Boden eures Wesens. Ihr beurteilt euer Leben darnach, ob ihr nur seichtwurzelnde Blümchen darin wart, Eintagsblüten, oder starke Pflanzen mit tiefgehenden, weit verzweigten Wurzeln. Was du da fandest, ist doch wahr! Und dein Weg und Wollen dann! Was kann ein Mensch, der in heiligem Glauben[S. 126] einem Ziele zustrebte, Gütigeres den Künftigen sagen, als: seht, da liegt der Fehler, so dürft ihr es nicht machen. Soviel ist nun gewiß.
Alle betrachteten nun die Dichterin. Sie war ja ungefähr in ihren Jahren. Aber das Merkwürdige ihres Aeußeren schien, daß man bei ihr weder an Jugend noch Alter dachte. Es lag etwas über ihrem Wesen, wie bezaubernde Beleuchtung auf einer einfachen Landschaft. Dieses Licht aus ungeahnten Weiten und seine Farben sah man. In ihm schien alles zu liegen.
Höre mal, riefen alle. Du bist uns deine Geschichte schuldig. Erzähle nun auch du. Wir haben uns jede nicht übel zugerichtet. Nun solltest auch du offen sein!
Ach liebe Freundinnen, sagte die Dichterin, wie gerne würde ich das thun! Aber mein Leben war wesentlich einfacher als das eure. Ich könnte euch eigentlich nur Episoden mitteilen, die auch wohl nicht der Bedeutung wert schienen, für mein Inneres aber unvergeßliche Daseinsquellen wurden. Dennoch aber will ich[S. 127] euch erzählen, damit ihr seht, daß ich offen sein möchte wie ihr es wart. Und hauptsächlich darum, weil ich euch für die heutige Stunde unseres Zusammenseins dankbar sein werde, solange ich atme.
Keine so großen Einleitungen! Erzähle! Erzähle!
Die Dichterin wurde noch bleicher, sah noch versonnener aus, dann sprach sie: Als ich ganz jung war, hatte ich auch dieses berauschende Lebensgefühl, wie es eine von euch geschildert hat. Nur — seht ihr — nicht an mir selbst.
Sah ich Frauen mit den Blicken des Jubels in den Augen, die dahinschwebten wie von den Wolken des Stolzes getragen, da fühlte ich, was sie empfanden.
Und kannte ich Tiefeinsame, Männer, Helden des Schaffens, dann beglückte mich die Weihe ihrer entsagungsvollen Einsamkeit.
Ich-Selbst liebte draußen im Freien zu sein. Oft brachte ja das Geschick das, was Menschen Unglück und Leid nennen. Aber wenn[S. 128] ich für mich allein hinausging, so etwas Kleines, Erbärmliches, ein Menschlein nur! — Da wurde mir sicher zu Mute. Ich ging wie geborgen unter dem Firmamente, das wie ein goldgesticktes Gewölbe schien und doch ein tiefes Grauen von ungeheuerlichen, glühenden Welten ist. Dann wurde das Denken leer. Denn wie hätte ich Kleines, ich Nichts das Billionenmal Größere und Machtvollere begreifen können! Aber ich löste mich auf. Wurde Gefühl von jenem Gefühl, Kraft von der Allkraft, Wirkung vom Allwirken...
Nein, nein! riefen alle! Erzähl uns von dir. Was gehen uns die Sterne an!
Eben das ist ja mein Leben und euer Leben...
Nein! Etwas Positives! Hast du geliebt? Sag!
Ich habe auch geliebt, sprach die Dichterin mild.
Die Frauenrechtlerin dachte: auch! wie sie das sagt! Vielleicht geht sie den herrlichen[S. 129] Erlösungsweg, den ich meinte und nicht fand. Sie, die in Einfalt wandelt. Und sie grübelte der Satzfolge nach. Nicht: auch ich habe geliebt, hatte sie gesagt. Sondern: ich habe auch geliebt. Darin lag es deutlich ausgesprochen. Unter den Erlebnissen meines Lebens war auch Liebe. Aber nicht das Einzigste, sondern nur Eins mit darunter.
Die übrigen waren enttäuscht. Nichts mehr? sagten die andern.
O ja! die Blumen z. B. sprach die Dichterin.
Nein, das meinen wir nicht.
Und Ihr-Selbst heute, ihr Lieben! Wie ihr so eure Schicksale mitteilet, die so völlig verschieden waren — da kam mir das Dasein wie eine große Blume vor. Die einen sind die Blütenblätter und die anderen der Samen, wieder andere die Kelchblätter und andere die Wurzeln im dunklen Erdreich... Und alle müssen andere Schicksale haben, das liegt ohne ihr Wollen in ihnen. Aber alle zusammen sind die Wunderblume „Leben“.
[S. 130]
Sie ist verrückt! dachten die Zuhörerinnen. Aber tiefer, als in ihrem Denken fühlten sie, daß der Dichterin Einfalt lauschend am pulsenden Herzen des Lebens lag.