Der Prozeß hätte nicht kommen sollen. Zwar hat uns die moralische Verurteilung Karl Mays heute nicht mehr so arg getroffen, da wir ja jetzt seine Werke nicht mehr so heißhungrig verschlingen, aber unser Bedauern ist ein reflexives: Wir malen uns aus, wie uns zur Zeit, da wir noch in der Sekunda saßen, die Enthüllungen des Prozesses aus allen Himmeln gerissen hätten. Wie wären wir entsetzt gewesen, wenn wir damals aus den Gerichtssaalberichten ersehen hätten, daß er „Emmeh“ schnöde verlassen habe, „Emmeh“, sein geliebtes Weib, dem er in den Wigwams der Apachen und in den Zelten der Hammadil-Beduinen treu gewesen war und von dessen Güte und Schönheit er den Mormonen und Mohammedanern mit imponierender Liebe erzählte. Wie wären wir mißtrauisch geworden, wenn wir erfahren hätten, daß der gute Idealist „Carpio“, mit dem sich unser Lieblingsautor in den Wäldern des Erzgebirges harmlos und dichtend herumgetrieben haben wollte, niemand anderer war, als ein fahnenflüchtiger Soldat und Einbrecher, mit dem zusammen Karl May räuberische Überfälle auf Marktweiber unternommen hatte.
Nein, nein, der Prozeß hätte nicht kommen sollen. Aber besser ist es, daß er jetzt kam, als wenn er damals stattgefunden hätte. Nicht etwa deshalb, weil er uns eine Illusion, eine Leidenschaft unserer Jugendzeit geraubt hätte. Das hätten zehn solcher Gerichtsverhandlungen nicht vermocht. Niemals hätten wir ihn preisgegeben. Im Gegenteil! Im Bannkreis unserer Gymnasiasten-Romantik hätten wir es noch überwältigender gefunden, wenn der Autor der Abenteuer wirklich ein Abenteurer gewesen wäre. Wir hätten wahrscheinlich seine damaligen Kämpfe gegen Gesetz und Recht als vielversprechenden Beginn zur Karriere des Westmannes angesehen. Und wer weiß, ob nicht ein moralisch schwacher Phantast unter uns hingegangen wäre und ein gleiches getan hätte.
Und was hätte es für Kämpfe mit unseren Eltern gekostet, wenn die aus den Zeitungen erfahren hätten, daß unser Autor ein Dieb, ein korrupter Mensch sei! Hatten sie ihn doch ohnedies mit scheelen Blicken angesehen und uns seine Werke weggesperrt, wenn aus der Lehrerkonferenz ein Tadelzettel unfrankiert nach Hause gesandt worden war. Sie hatten gar wohl gewußt, daß unser mangelnder Fortschritt in der Schule vor allem dem Umstande zuzuschreiben sei, daß wir Tag und Nacht mit unserem ganzen Sinnen und Trachten den Spuren Old Shatterhands folgten, daß wir in sehnenden Gedanken mit ihm vom wilden Westen Nordamerikas in den wilden Osten Südeuropas reisten. Auf der Strecke von Bagdad nach Stambul waren wir besser zu Hause, als in den Gebirgsketten der Alpen, deren Kenntnis der Geographieprofessor von uns verlangte. In den Cordilleren, in Ägypten, am Rio de la Plata, im Lande des Mahdi, im wilden Kurdistan, im Reiche des silbernen Löwen kannten wir uns unvergleichlich vortrefflicher aus, als in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern. Die Biographien Sam Hawkens, Old Wabbles, Old Deaths, Old Surehands, Old Firehands, des „blau-roten Methusalem“, Hadschi Halef Omars Ben Hadschi Abbas Ibn, des „roten Gentleman“ Winnetou, Ikwehtsi’pas, des Utah-Häuptlings Tusahga-Saritsch kannten wir viel detaillierter, als jene Schillers, Grillparzers, Lenaus. Mit der Naturgeschichte der Prairie und der Sahara waren wir vertrauter, als mit jener Pokornys, und die nur für den echten Araber aussprechbare und deshalb als nationales Erkennungszeichen angewandte „Sure des Todes“ konnten wir fließender auswendig hersagen, als die „im Kanon der für den Lehrplan der II. Mittelschulklasse vorgeschriebenen Gedichte“.
Das war fürwahr kein Wunder. Denn während der Unterrichtsstunden hatten wir einen der Fehsenfeldschen May-Bände unter der Bank aufgeschlagen, die Zehn Uhr-Pause opferten wir der Fortsetzung der Lektüre und der Weg von der Schule nach Hause wurde im Schnellschritt zurückgelegt, weil man daheim in dem Buche weiterlesen konnte. Allerdings mußte man dieses mit den Deckeln des Putzkerschen Historischen Schulatlas maskieren, um bei den Eltern den beruhigenden Glauben zu erwecken, daß man über ein Lehrbuch gebeugt sei.
Praktisch wurde natürlich Karl May noch gründlicher geübt. Das Belvedere-Plateau war damals noch nicht planiert und zur Seite der Straße war ein etwa 4 Meter tiefer, breiter Straßengraben, dessen Hänge von ausladenden Büschen bewachsen waren. So waren wir nach unten vor den Blicken der Spaziergänger geschützt und konnten ungestört unseren Kriegsrat abhalten, wobei wir aus irgend einer alten Tabakspfeife, die wir mit Gras stopften, das Calumet rauchten — die Friedenspfeife. Wir hatten jeder unseren Prärienamen, nur „Old Shatterhand“ durfte keiner heißen: Das wäre Profanation, zu viel Ehre für den einen gewesen. Die Namen der übrigen „Scouts“ waren aber durchwegs vertreten, auch waren wir in Apachen und Commanchen eingeteilt. Da gab es heftige Kämpfe. Manchmal siegten auch die Commanchen. Das war eigentlich nicht ganz im Geiste unseres Autors, denn bei dem mußten immer seine Feinde unterliegen. Er war ja — so beschrieb er sich selbst — unbesiegbar, er allein hatte tausendmal Hunderte von Feinden im Schach gehalten. Daß er doch nicht auch mit seinem Prozeßgegner fertig zu werden vermochte!