Hiemit will ich einige grundlegende Details über Prager Volksküchen veröffentlichen, auf daß sich der geneigte Leser, der — bei der gegenwärtigen Nahrungsmittelteuerung kann man nicht wissen! — dort Stammgast werden will, nicht so blamiere, wie ich bei meinem ersten Besuche. So habe ich zum Beispiel in der Straße, in der sich die Volksküche befindet, eine Gruppe von Verwahrlosten danach gefragt, wo die Volksküche sei. Da musterte der eine meinen derangierten Anzug, und weil er sich nicht vorstellen konnte, daß ich Lump zum erstenmale den Weg in das Volksrestaurant gehe, und es mit meiner Frage ernst meine, so lachte er:
„Wenn du nicht weißt, wo die Volksküche ist, so kannst du ja ins Hotel „Blauer Stern“ essen gehen. Das ist am Graben.“ Und ein wüstes Gegröhle der anderen lohnte den Witzbold und verhöhnte mich.
Ich fand aber den Eingang zur Volksküche doch, und drängte mich am Schalter. Dort hatte ich Gelegenheit, mich zum zweitenmale zu blamieren.
„Was kostet eine Suppe?“ fragte ich einen Burschen, der sich neben mir drängte.
„Zwei,“ antwortete der Lakonier.
„Zwei Sechser?“, fragte ich weiter.
„Sag gleich zwei Gulden,“ brummte der Gefragte. Dabei maß er mich mit einem Blick, in dem sich die Verachtung über die Unbildung eines Menschen, der nicht weiß, daß eine Suppe zwei Kreuzer koste, mit dem Verdachte paarte, daß ich ihn uzen wolle.
Vor solchen Blamagen will ich den geschätzten Leser bewahren, und so sei hier ein kurzes Vademekum für Volksküchenbesucher publiziert.
Es gibt in Prag sechs Volksküchen, die vom Volksküchenverein unterhalten werden: Für die Alt- und Josefstadt in der Gemeindehofgasse, für die Untere Neustadt in der Petersgasse, für den Wyschehrad in der Wratislawgasse, für die Kleinseite auf dem Malteserplatz, und je eine für Holleschowitz und für Lieben. Die Ausgaben in sämtlichen Küchen betrugen im vergangenen Jahre 49.059 Kronen 34 Heller. Diesen steht als Einnahme die Bezahlung der Speisen im Betrage von 35.518 Kronen 80 Heller gegenüber, so daß in den Küchen ein Defizit von 13.540 Kronen 54 Heller bestand und diese mit einem Schaden von 38 Prozent arbeiten.
Ich selbst pflege in den letzten neunundzwanzig Tagen jeden Monates sehr häufig die Volksküche für die Alt- und Josefstadt zu frequentieren, und von den 122.298 Portionen Suppe à 4 Heller, von den 111.026 Portionen Mehlspeisen à 12 Heller, die im Vorjahre in dieser Speisehalle zur Ausgabe gelangten, habe ich meinen geziemenden Teil verzehrt.
In einem der neuen Häuser, die auf der dem Gemeindehofe gegenüberliegenden Rampe stehen, ist sie untergebracht, in einem Parterrelokale — anscheinend zwei Geschäftsräume, die vereinigt wurden. Auf den glatten Schamotteziegeln, mit denen der Fußboden belegt ist, lagert allmittäglich dicker Kot, denn die Gäste sind von weither gewandert, und sie reinigen ihre Stiefel vor dem Eintritt in das Etablissement nicht. Der Türe gegenüber ist der Schalter zur Speisenausgabe. Die Hungrigen drängen sich in langer Queue. Ihr Geld halten die meisten abgezählt in der Hand, denn wer sich zulange am Schalter zu schaffen macht, wird unbarmherzig zur Seite geschoben. Die wenigsten bestellen ein ganzes Menu, denn dreißig Heller sind viel Geld. Die meisten verlangen nur eine Suppe, das billigste in diesem Restaurant. Vier Heller hat jeder. Manche nehmen zwei Suppenportionen, mancher nimmt zur Suppe eine Mehlspeise. Fleisch ist wenig und teuer, und so sind die Gäste der Volksküche größtenteils unfreiwillige Vegetarianer. Die Küchenverwalterin Frau Schepkes nimmt die Bestellungen und die Bezahlungen entgegen, und reicht die verlangten Speisen. Aus einem Holzkistchen, das am Schalterbrett steht, nimmt sich jedermann einen Zinnlöffel. Auch Messer und Gabel sind darin. Aber dessen bedürfen die wenigsten, da sie ja kein Fleisch kaufen, und man die Mehlspeise mit der Hand zum Munde führen kann. Tafelzeremoniell und Tischetikette gibts hier nicht.
Jeder trägt sich seine Speisen selbst auf seinen Platz. Im Saale stehen dreizehn Tische, drei links, zehn rechts vom Eingang. Sie sind so schmal, das an ihren Breitseiten kein Sessel steht — es wäre kein Raum für die Schüsseln einer hier sitzenden Person. An der Längsseite jedes Tisches läßt eine etwa einen Meter lange Bank für zwei Esser Platz. Aber das genügt nicht für die Schar der Kostgänger, es müssen sich mehrere aneinanderdrängen, und außerdem sitzen an jeder Ecke des Tisches vier Leute halb auf der Bank und halb in der Luft.
Gegen ¼1 Uhr mittags faßt ein Polizist im Saale Posto. Aber er hat nur eine Ordnerfunktion, ist nur zur Hintanhaltung eventueller Exzesse da. Nach Vagabunden und Revertenten fahndet er hier nicht — dieser Zufluchtsort der Hungernden scheint stillschweigend als eine Art exterritorialen Bodens betrachtet zu werden. Beim Eintritte des Wachmannes ist ein hünenhaft gebauter Bursche, in Kleidung, Frisur und Blick der Typus des Prager „Pepiks“, krampfhaft zusammengezuckt. Dann schiebt er den Suppennapf, den er vor sich stehen hat, bedeutend nach links, damit er beim Essen sein Gesicht von dem Polizisten abwenden kann. Wohl nicht aus Abneigung gegen den Hüter des Gesetzes, sondern er scheint eher seit seiner letzten Beichte vor dem Strafrichter eine neue Sünde auf sich geladen zu haben. Aber bald fühlt unser Freund, daß der schlenkernde Blick des Mannes mit der Hahnenfeder auf ihm haften bleibt. So wendet er sich dem Wachmann zu. Aber der nickt nur lächelnd. Und Pepik erwidert mit freundlichem Lächeln den Blick. Nach einer Viertelstunde verläßt der Hüter des Gesetzes wieder den Saal.
„Diesem Kerl habe ich einmal vor „Reismann“ (das bekannte Tanzlokal in der Kastulusgasse) den Rüssel zerschlagen,“ konstatiert jetzt der Bursche laut. Lebhafte Heiterkeit, beifällige Zurufe.
„Und wieviel haben sie dir dafür gegeben?“ forscht ein Gründlicher.
„Sechs Wochen. Wegen öffentlicher Gewalttätigkeit. Während es doch eine rein private Angelegenheit zwischen mir und ihm war.“ Neuerliches Halloh.
Ein etwa vierzehnjähriger Bursch im blauen Arbeitshemd, der mit dem Wortführer am selben Tisch sitzt, ist vielleicht der einzige, der dem Gespräch nicht zugehört hat und der in das Beifallslachen nicht einstimmt. Er hat das schwarze Heftchen einer tschechischen Kriminalbibliothek aufgeschlagen vor sich liegen, und während er mit der rechten Hand den Löffel mit Suppe mechanisch zum Munde führt, blättert er mit der linken die Seiten um, deren Inhalt seine glänzenden Augen verschlingen. Was rings um ihn vorgeht, weiß er nicht, er hat die Erzählung des Renkontres von „Reismann“ nicht gehört. Der Junge, der hier die ungesunde Nahrung der geistigen Volksküchen verschlingt, der träumt wahrscheinlich davon, auch einst ein berühmter Räuber zu werden, wie der Betyare Rosza Sandor war. Und wird doch nur ein Pepik werden, wie sein Nachbar.
Es sind noch jüngere Burschen da. Schulkinder, deren Eltern in der Arbeit sind und die sich um achtzehn Heller ihr Mittagsbrot kaufen. Sie verschlingen gierig die stark gezwiebelte Graupensuppe und den Mohnkuchen — ihre einzige Nahrung bis zum Abend, vielleicht bis zum nächsten Mittag.
An Greisen fehlt es nicht im Raume. Altersschwache, müde Männer, denen vielleicht sogar der Weg vom gegenüberliegenden Gemeindehof lang und beschwerlich war. Daß sie von dort kommen, sieht man an ihrer Mütze, die das Stadtwappen trägt. Straßenkehrer sind sie, sieche Angehörige Prags, die eben nur zu einer ganz belanglosen Beschäftigung taugen: Zur Straßenreinigung von Prag.
Ein greiser Bettler wankt gebückt vom Schalter zu einem Tisch. Mit der rechten Hand stützt er den Stock auf, in der heftig zitternden linken trägt er den Suppennapf, aus dem die heiße Flüssigkeit auf die Erde spritzt. Die Hälfte des Inhaltes ist verschüttet, als sich der Alte endlich niedergelassen hat. Jetzt hebt er mit seiner zuckenden Hand den Löffel, aber auf dem Wege vom Teller zum Munde geht wieder ein beträchtlicher Teil der Nahrung verloren. Und schmerzvoll bedauernd starrt der Alte auf die kleinen Lachen, die das teure Naß auf dem ungedeckten Tisch und auf dem Boden bildet.
Das Mädchen, das von Zeit zu Zeit die leeren Teller und Bestecke von den Tischen räumt, kommt auch zu mir und nimmt, da sie mich nicht mehr essen sieht, meinen Suppennapf weg. Aber kaum hat sie hineingesehen, so stellt sie mir ihn wieder hin. Wirklich, es sind noch etwa drei Löffel Suppe darin!
„Sie können sich den Teller nehmen,“ sage ich. „Ich esse nicht mehr.“