Departement für die öffentliche Sicherheit.“ So steht es auf dem Torschild. Aber das ist ungenau, unpräzis. Sagt zu viel, also zu wenig. Denn in das Gebiet der öffentlichen Sicherheit gehören auch Baubehörden, Schieneninspektionen, Feuerwehren, Rettungsstationen, Kesselprüfungen, Automobilvorschriften, Kutscherschulen und viele andere Dinge, mit denen das Sicherheitsdepartement nichts zu tun hat. Immerhin bleiben ihm noch mehr als genug Agenden. Und auf die Art dieser Agenden weist viel deutlicher als die Aufschrift auf dem Schilde das Relief hin, das über dem Tore prangt und eine Zusammenstellung dreier Symbole zeigt: Das Richtbeil, das Fascesbündel und die Wage der Themis. Nun wird zwar hier im Departement das Richtbeil nicht geschwungen, die Themis hat hier noch nicht ihre wägende Tätigkeit zu entfalten und die Fasces, das Sinnbild der strafenden Gewalt über Tod und Leben, dürfte eigentlich erst die nächsthöhere Instanz, der Gerichtshof, mit voller Berechtigung im Wappen führen. Jedoch das Sicherheitsdepartement ist Agentie und Werbeamt, und wenn es durch seine Beamten und Detektivs nicht das Menschenmaterial herbeischaffen würde, so könnten sich die symbolischen Manipulationen mit Richtbeil, Fasces und Wage im allgemeinen nur auf die kleinen Gauner, die genügsamen Dorfdiebe und die armen Landstreicher erstrecken, welche die Gendarmerie dem Landesgerichte überantwortet.
Übrigens ist es die Verbrecherwelt nicht allein, auf die sich die Tätigkeit des Sicherheitsdepartements erstreckt. Mit allerhand Anliegen kommt man in diese Räume. Da ist ein ehrsamer Handwerksmann, der sich seit einigen Tagen durch die Amtslokalitäten schleicht. Auf seinem Wege muß er durch das Zimmer der Detektivs. Die kennen den wackeren Bürger und schütteln die Köpfe: Wie der in den letzten Tagen gealtert ist! Der Ankömmling geht zu dem Beamten, der die Vermißten und Wiedergefundenen in Evidenz führt. Dieser, ein junger Polizeikonzeptspraktikant, kennt schon des Alten Begehr und hat diesem schon einigemale den Bescheid gegeben, daß man von dem Aufenthalte seines Sohnes, der nach mißglückter Prüfung nicht mehr nach Hause zurückgekehrt ist, noch immer nichts wisse. Heute aber ist die Nachricht da, eine Hiobspost: Die Leiche des jungen Mannes ist aus der Moldau gezogen worden. Der junge Polizeipraktikant spielt verlegen mit dem Bleistift. Wie soll er dem Alten die furchtbare Botschaft beibringen. Er nötigt ihn, sich zu setzen. Da weiß der bedauernswerte Handwerksmann schon alles.
„Tot?“, stößt er hervor. Und bald hält er das Telegramm in Händen, das im Lapidarstil die Bestätigung der ärgsten Befürchtungen des Vaters birgt.
„Tot“, schluchzt der Alte, „tot! Und ich bin schuld. Ich habe ihn studieren lassen, damit er’s besser hat, wie ich! Tot!“
Am gegenüberliegenden Tisch wird ein Fall von grundverschiedener Natur verhandelt, aber auch etwas, was mit der öffentlichen Sicherheit gar wenig zu tun hat, auch etwas Unkriminalistisches im Kriminaldepartement. An den Grenzen des Polizeirayons ist ein Weib aufgelesen worden, das kaum viel mehr als einen Meter groß, taubstumm, irrsinnig und halbblind ist und nun apathisch bei dem Tische des Kommissärs steht. Dieser hat auf den ersten Blick gesehen, daß aus der Alten über ihre Identität und Heimatszuständigkeit nichts herauszubekommen ist, und so setzt er sich resigniert und schreibt zuerst einen kurzen Begleitakt an das Taubstummeninstitut, wohin die Arme zunächst gebracht werden muß, damit man dort versuche, mittels Zeichensprache ihr irgendwelche Angaben zu entlocken. Aber im Taubstummeninstitut wird man die Alte nicht behalten, weil sie irrsinnig ist, ebensowenig wie man sie in der Landesirrenanstalt aufnehmen wird, weil sie taubstumm ist. Und so muß ein zweiter Akt an den Magistrat abgesandt werden, der aus dem Tschechischen ins Amtsdeutsch übersetzt, folgendermaßen lautet: „Inliegend beschriebene, unbekannte Taubstumme wird zur Unterbringung in das Gemeindearresthaus bis zur Feststellung ihrer Heimatszuständigkeit in Empfehlung gebracht.“ Und dann muß die Beschreibung, die polizeiliche Photographie, die Stilisierung der Notiz für den „Polizei-Anzeiger“ erfolgen. Unwillig brummt der Kommissär in den Bart: „Wenn nur die Gemeindevorsteher in die Bluse solcher Kretins den Namen der Heimatsgemeinde einnähen ließen, dann könnte man solche arme Leute gleich per Schub nach Hause befördern, und alle diese Scherereien, Schreibereien und Suchereien wären erspart!“ Ja, wenn! Aber das tun die Gemeindevorsteher wohlweislich nicht, denn jeden Tag, der mit den Recherchen verloren geht, hat die Gemeinde an Erhaltungskosten für den lästigen Dorftrottel erspart!
Die Expediträume des Sicherheitsdepartements beherbergen gleichfalls eine Gruppe unkriminalistischer Gäste. Fünf oder sechs Männer und eine junge Frau stehen dort beisammen. Jeder hält eine Harfe in der Hand und die gibt alles an — Legitimation, Heimatsort, Leidensgeschichte und Begehr. Aus dem Harfenistenstädtchen Nechanitz sind sie, von wo die böhmischen Wandermusikanten stammen, und ihre Schicksale sind die ewig alten: Vom Impresario engagiert, ausgebeutet und ohne Entlohnung verlassen, von den österreichischen Auslandsbehörden nach Prag einwaggoniert, kommen sie ins Sicherheitsdepartement der Polizei, um eine Reiseunterstützung zu erbitten. Jeder erhält eine Eisenbahnkarte von Prag nach Königgrätz oder den Fahrpreis von K 4.40 auf die Hand. Und von Königgrätz gehen sie zu Fuß ins Heimatsstädtchen und leben hier, bis sie wieder ein Impresario engagiert, ausbeutet, ohne Entlohnung verläßt ... ad infinitum.
Selbst im anthropometrischen Kabinett kann man oft unkriminelle Leute sehen, obzwar dieses, wie schon aus dem Namen und der daraus zu deduzierenden Bestimmung ersichtlich ist, nur für die Rückfälligkeit, beziehungsweise die zu befürchtende Rückfälligkeit der hier gemessenen Verbrecher eingerichtet ist, und obzwar hier schon das Milieu, und die Einrichtungsstücke darauf deuten, welche Beachtung man den Inhaftaten zollt. Mit Kopfzirkeln, Ohrmessern, Meßkreuzen, Sitzhöhenmaßen, Narbenmaßen, Fingerdruckkissen und dem übrigen Instrumentarium der beiden Bertillons wird man doch nicht die Personaleigentümlichkeiten bedauernswerter Bettler, harmloser Kretins und unterstützungsbedürftiger Musikanten auf der Meßkarte verewigen! Gewiß nicht. Man braucht aber auch nicht zu glauben, daß jedes halbwegs ehrliche Gesicht, das man hier auf Ohren-, Nasenlänge und Pupillennuance mißt, gleich das Wort von der „Verbrecherphysiognomie“ Lügen straft. Gar viele Abdrücke von Finger-Papillarzügen, die in die Meßkarten-Registratur einverleibt worden sind, müssen nie wieder hervorgeholt werden. Und der im anthropometrischen Kabinett tätige Beamte hat schon von seinen Klienten, besonders jenen, die im jugendlichen Übermut entgleisten, das Wort gehört:
„Meine Maße werden Sie nie mehr brauchen!“
Das verrät, schon nach dem Tonfall, Selbstmordabsicht. Aber der Beamte hat da einen alten Kniff. Er mißversteht absichtlich.
„Nun, es freut mich zu hören,“ bemerkt er wohlwollend, „daß Sie von nun an alle derartigen Entgleisungen vermeiden wollen. Denn wenn Sie noch ein zweites Mal hierher kommen, dann sind Sie für Ihr ganzes Leben als Verbrecher gebrandmarkt.“
„Das bin ich schon,“ lautet die stereotype Antwort, „jetzt kommt es in die Zeitungen, alle Leute erfahren es ...“
„Nun, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie von jetzt ab ein ehrlicher Mensch sein wollen, dann verspreche ich Ihnen, mich dafür einzusetzen, daß Ihr Name nicht in die Zeitung kommt. Einmal ist keinmal! Ihr Ehrenwort?“
Gar mancher gibt hier im anthropometrischen Kabinett das ehrenwörtliche Versprechen. Und mancher hält es auch.
Wenn dann wirklich nach ein paar Jahren ein solcher junger Mann als ehrlicher, tüchtiger Mensch in das Sicherheitsdepartement kommt, um sich dafür zu bedanken, daß man ihn einst so vom Selbstmord abgehalten, dann ist das auch ein unkriminalistischer Besuch bei der Kriminalpolizei. Der einzige freilich, den man dort gerne sieht.