»Hast du nun den Winter gefunden?« flüstert mir ein Gedanke ins Ohr, »sieh', wie die Sonne über ihm steht, lichtspendend, milde lächelnd, als ob all das Weh in der Welt nur ein Wassertröpfchen wäre, das sie lächelnd aufsaugt.«
»Sagtest du: Weh, kleiner Gedanke?« haucht es neben mir, »weißt du, was das ist?«
Ich wandte mich; da steht unter den hohen Bäumen des sonnigen Winters der allerhöchste und breitet seine mächtigen Zweige aus, als wolle er die Welt an seine Brust ziehn. »Sieh',« sagt er und senkt das starke Haupt, »meine Krone haben sie mir geraubt, der Sturm, als er hinzog mit seinen weißen Jägern über mein Reich – meine Aeste haben sie zerschlagen und die Augen mir geblendet. Weißt du, was es heißt, leben, und die Sonne nicht mehr sehn, nie mehr!«
Es geht ein Aechzen durch den zersplitterten Stamm, die Zweige bewegen sich schwankend hin und her – es ist, als wolle sich der Riese zur Erde neigen. Aber noch ist er stark, noch steht er aufrecht, bis der Sturm wieder einmal gegen ihn zu Felde zieht – und nur wie ein »Weh – das thut weh!« – zittert es durch die Luft.
Mich fröstelte es, die Sonne sank tiefer, ich ging dem Heimweg zu. Einzelne Gedanken blieben im Wald beim Tanz auf dem Elfenteppich, bei dem sonnigen Winter, andere sprangen mir flüsternd, raunend, kichernd zur Seite; bis zum Hügel hinauf, am Rand des Waldes, da waren sie verschwunden. Einige waren den eleganten Karossen nachgelaufen und guckten spöttisch grinsend in die Wagenfenster, andere hatten sich den Heimatlosen, vagabondierenden Menschenkindern angeschlossen, die unter den Büschen des sonnigen Winters ihr Nachtlager suchten. Nur Einer, ein ernsthafter, blasser, kleiner Geselle stand neben mir, als ich mich umwandte am Berg und mein Auge die Sonne suchte – wie seltsam! Die Sonne, die goldene, große, strahlende, hing herrlich am Himmel – aber der Wald, die Welt? Was eben noch leuchtete, schimmerte, in wunderbarsten Farben, das lag tot und kalt und schwarz zu ihren Füßen.
»Siehst du,« sagte der ernsthafte Gedanke neben mir, »so wollt ihr die Wahrheit suchen mit eurem Verstand und eurer Tüftelei, so seht ihr in die Sonne mit der Brille der kalten Berechnung auf der Nase – ja die Sonne steht dort am Firmament, strahlend, so himmlisch leuchtend, daß euer blödes Auge sie nicht ertragen kann, und die Welt, über die ihr die Wahrheit ergründen wollt, liegt schwarz und tot da. Aber schau dich um, schau mit der Sonne, schau dahin, wo nur die Strahlen der Sonne hindringen, wohin die Wahrheit ihr goldenes Licht wirft – siehst du nun, wie herrlich die Welt daliegt, in Farbe, in Glut gehüllt, verklärt? Fühle nur die weiche, flimmernde, golddurchglühte Luft, die dich mit linden Armen umfängt – schaue die jauchzende, die lebende, lichte Welt! –
Und weißt du nun, was Poesie ist?« flüsterte der ernsthafte, kleine Gedanke mir ins Ohr.