Hallo Steffi!
Na, wie geht’s es dir? Ja, ich weiß, dass man solche Fragen nicht in Briefen stellen soll. Ich habe das ja auch erst vor ein paar Wochen in Deutsch gelernt, aber ich denke, dass man das trotzdem fragen sollte, damit man weiß, ob es dem anderen auch gut geht.
Ich schreibe schon wieder komische Sachen, findest du nicht auch? Arber irgendwie muss das auch mal sein, denn wenn ich sofort damit anfangen würde, was am Vormittag alles passiert ist, würdest du mich glatt für völlig verrückt erklären. Und deswegen langweile ich dich vorher noch mit den normalen Sachen, die halt in einen Brief hinein gehören.
Mir geht es im Moment richtig gut, bis auf diesen nervigen Tommy, aber Brüder sind halt leider vom Umtausch ausgeschlossen, wie Laura immer sagt.
So, und jetzt muss ich dir unbedingt etwas berichten. Es ist schade, dass du so weit weg wohnst, denn sonst würde ich mit dir zusammen in mein Baumhaus klettern und dir dort alles erzählen. Das ist halt doch besser als Briefe zu schreiben. Aber so muss es auch gehen, denn ich kann nicht mehr so lange damit warten.
Na, bist du auch schon ganz kribbelig vor Neugierde? Gut so. Das sollst du nämlich auch.
Es fing alle heute morgen an. Um kurz vor neun Uhr klingelte es an der Tür und Oma aus Berlin stand vor der Tür. Das war eine schöne Überraschung für uns. Mama und Papa wussten natürlich Bescheid, hatten uns aber vorher nichts verraten.
Und jetzt stand sie halt im Hausflur und wir drückten uns eine Weile, bis ich fast keine Luft mehr bekam.
In diesem Moment kam Mama aus der Küche mit unserer großen Kühlkiste in der Hand. Das sah ganz verdächtig nach einem Ausflug aus. Und ich behielt auch Recht. Papa hatte nämlich schon jede Menge Sachen im Auto verstaut und rief uns zu, dass wir uns fertig machen sollten, bevor bei Ebbe das ganze Wasser weg wäre. Hui, wir fuhren an den Strand. Das konnte nur ein toller Tag werden.
Wir quetschten uns alle in Paps Wagen, Tommy rechts in seinem Kindersitz, ich links in meinem und Oma in der Mitte. Das war zwar eng, aber kuschelig gemütlich. Und bis ans Meer waren es auch nur zwanzig Minuten Fahrt.
Am Strand angekommen musste Papa dann erst einmal für uns alle Kurtaxe bezahlen. Wofür das gut sein soll, habe ich immer noch nicht verstanden, denn jedes Mal fahren wir mit unserem Auto her, und Taxis habe ich hier auch noch nie gesehen.
Kurz hinter dem Deich stand auch schon unser Strandkorb. Er trug die Nummer ‚99’, die in großen roten Zahlen auf seiner Seite aufgemalt waren. Ich setzte mich auch sofort hinein, damit mir Tommy nicht den Platz neben Oma wegschnappen konnte.
Aber dann musste ich doch wieder aufstehen, denn Mama stand mit dem großen Badetuch vor mir. Ich hatte ja zu Hause meinen Badeanzug noch nicht angezogen. Dafür half sie mir nun, dass ich mich in dem Tuch in Ruhe umziehen konnte.
Als ich fertig war, saß mein Bruder doch schon im Strandkorb. Denn nachdem er daheim vom Strand gehört hatte, musste er sich wohl noch schnell die Badehose angezogen haben. Das war so fies.
Aber eigentlich war mir das richtig egal. Im Strandkorb sitzen war mir eh zu langweilig. Ich lief zum Meer und hüpfte von einem Steg ins Wasser. Wenn ich gewusst hätte, dass es darin morgens noch so kalt ist, hätte ich meinen Bruder doch aus dem Korb verscheucht und noch etwas mit dem Baden gewartet. Aber nun war ich ja drin. Also habe ich mir noch ein paar Wellen auf den Rücken klatschen lassen. Das kribbelt immer so lustig auf der Haut.
Als ich dann wieder heraus kam, wartete Papa schon mit einem Handtuch auf mich. Er hatte mich dann erst einmal trocken und warm gerubbelt, damit ich keine Erkältung bekommen würde.
Ein wenig später packte Mama dann eine große Schüssel von ihrem leckeren Nudelsalat aus und dazu zwei Stangen Baguettebrot. Das esse ich ja besonders gern, egal zu welcher Tageszeit. Jeder tat sich etwas auf einen Pappteller und wir fingen an zu essen.
Und dann passierte etwas ganz Verrücktes. Von hinten kam ein richtig kräftiger Windstoß und der Strandkorb wurde ein Stück nach vorn gekippt und ruckte dann wieder zurück. Da wir uns sehr erschraken, schrieen wir ein wenig, so wie ein paar andere Leute auch. Oma war am lautesten. Dafür hörte sie auch als Letzte wieder auf, was aber nichts mehr mit dem Wind zu tun hatte.
Als sie wieder still wurde, hielt sie ihre Hände vor den Mund, blickte suchend auf dem Boden herum und schaute ziemlich erschrocken drein. Bei ihrem plötzlichen Aufschrei waren ihr nämlich ihre Zähne heraus gefallen. Denn Omas haben ja keine echten mehr im Mund, sondern welche aus Plastik vom Zahnarzt.
Sofort halfen wir alle beim Suchen, konnten aber nichts finden außer ein paar Muscheln. Irgendwo mussten sie doch geblieben sein.
Dann kreischte Tommy so laut, dass wir gar nicht verstehen konnten, was er uns sagen wollte. Er zeigte in eine Richtung und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Wir schauten an seinem Finger entlang und sahen eine kleine Papiertüte, vielleicht drei Meter von uns entfernt. Aus ihr heraus schauten Omas Zähne zu uns rüber. Doch zu unserem Pech schnüffelte bereits ein großer Hund daran.
Papa sprang sofort auf und versuchte, ihn zu verscheuchen. Zu unserem Unglück lief das Untier auch sofort weg. Leider hatte er die Tüte dabei aber in seinem Maul behalten und flitzte nun den Deich hinauf.
Bis auf Oma, die sich noch immer hinter ihren Händen versteckte, rannten wir sofort alle hinterher. Aber da Tommy und ich viel zu kurze Beine haben, um jemanden verfolgen zu können, mussten wir am Strand zurück bleiben. Mama blieb dann bei uns, um auf uns aufzupassen und Oma zu trösten. Jetzt konnten wir nur darauf warten, dass Papa mit den Zähnen zurück kommen würde.
Ein paar Minuten später lief der Zähnedieb wieder zum Wasser hinunter, dicht gefolgt von Papa. Dort angekommen, war der Hund allerdings geschickter beim Slalomlaufen. Er umkreiste jeden Strandbesucher mühelos, während Papa nicht so erfolgreich war. Denn er musste über mehrere Bäuche springen, rannte fast zwei alte Frauen um und wirbelte mit seinen Füßen jede Menge Sand auf, der auf den eingeölten Körpern kleben blieb. Ich habe noch nie so viele Leute gesehen, die alle gleichzeitig auf ihn sauer waren. Aber es kam noch viel schlimmer.
Ein kleiner Junge war dabei mit einem Käscher kleine Fische im flachen Wasser zu jagen. Papa lief hin, nahm ihm das Ding einfach weg, um damit den Hund besser fangen zu können. Mama wollte gar nicht glauben, was da alles passierte und versteckte sich unter ihrem großen Badetuch. Dort sagte sie dann ständig Wörter, die sie mir sonst immer verbietet.
Aber dann wurde es am Strand langsam wieder ruhiger, denn Hund und Papa verschwanden wieder hinter den Deich und liefen in die Stadt hinein. Das war dann auch das Letzte was wir von den beiden hörten und sahen.
Irgendwann am Nachmittag wollte Mama dann nicht mehr warten. Wir fuhren also nach Hause und hofften, dass sich Papa bald melden würde.
Daheim verschwand Mama dann erst einmal in der Küche und wollte den sandigen Nudelsalat wegwerfen. Kurz darauf hörten wir sie laut nach uns rufen. Tommy, Oma und ich liefen sofort zu ihr. Zu unserer Überraschung hielt sie Omas Zähne in der Hand. Sie waren beim Herausfallen im Nudelsalat gelandet und darin wohl versunken.
In genau diesem Moment klingelte es an der Tür. Als wir öffneten stand dort Papa mit zwei Polizisten. Sie hatten ihn in der Stadt festgenommen, weil sich so viele Strandbesucher bei ihnen beschwert hatten. Außerdem hatte er auf dem Marktplatz einen Obststand zum Umfallen gebracht. Nachdem er aber auf dem Revier alles, was passiert war, erzählt hatte, brachte die Polizei ihn hierher, um seine Geschichte zu überprüfen.
Plötzlich meldete sich ein dritter Polizist über Funk, er habe den Hund eingefangen. Zu unser aller Überraschung hatte man nun wirklich Zähne in der geklauten Tüte gefunden. Allerdings waren diese aus Marzipan gewesen. Deswegen wollte der hungrige Hund sie auch nicht hergeben. Ein Strandbesucher musste sie wohl von einem Zahnarzt bekommen haben.
Jetzt konnten wir alle darüber lachen. Die Polizisten verabschiedeten sich und fuhren weg.
Das war vielleicht ein Tag, sag ich dir. Auch wenn sich das alles völlig verrückt anhört, das ist alles wirklich so passiert.
So, dann bin ich jetzt auch am Ende meines Briefes. Er ist eh schon wieder viel zu lang geworden. Ich freue mich schon auf deinen.
Deine Nina.