Mitten im Wald stand einsam und verlassen ein alter Stuhl. Wie lang er da schon unter den großen, dicken Eichen stand, vermochte niemand mehr zu sagen. Es mussten wohl schon viele Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte vergangen sein, seit er dort aufgestellt wurde. Irgendwann war er dann in Vergessenheit geraten.
Viele Jahre später, niemand konnte wirklich sagen wie viel, waren Jäger im Wald unterwegs. Sie hatten es auf einen Sagen umwobenen Hirsch abgesehen, mit dessen Geweih sie ihren Kamin schmücken wollten. Bei ihrer Suche drangen sie immer tiefer in den Wald vor, betraten Boden, der lange keinen Menschen mehr gesehen hatte.
Einer der Jäger blieb plötzlich stehen, gab den anderen beiden ein Zeichen. Hatte er den Hirsch entdeckt? Wortlos zeigte er auf eine Stelle unter mehreren großen Eichen. Dort stand etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Ein kräftiger Sonnenstrahl bahnte sich den Weg durch das dichte Blätterdach und schien direkt auf einen hölzernen Gegenstand.
Es war ein Stuhl. Doch was machte, so weit von jeglicher menschlicher Behausung entfernt, ein Stuhl mitten im Wald?
Vorsichtig näherten sie sich ihrem Fund, umrundeten ihn. Er war von dichtem, grünen Moos bewachsen, verrottet und zerbrochen war er allerdings nicht.
Einer der Jäger wollte nach ihm greifen, doch die anderen hielten ihn davon ab. Schon geisterten wilde Geschichten in ihren Köpfen herum. Stühle hatten nichts im Wald zu suchen. Er musste verflucht sein. Vielleicht hatte eine Hexe oder ein böser Zauberer ihn hier abgestellt, um sorglosen Menschen eine Falle zu stellen.
Die Jäger trafen die Entscheidung, sich von diesem Ort zu entfernen und jemanden um Hilfe zu bitten. Auf direktem Weg gingen sie zurück in den nächstgelegenen Ort, wo sie den Geschichtsschreiber aufsuchten.
Der Geschichtsschreiber hörte sich genau an, was die Jäger ihm berichteten. Dann schwieg er eine Weile und dachte über alles genau nach.
Irgendwann nickte er, stand von seinem Platz auf und wandte sich seinem großen Bücherregal zu. Er suchte nach einem alten, verstaubten Buch, das einer seiner Vorgänger vor langer Zeit geschrieben hatte.
Er fand das Buch, legte es auf den Tisch und schlug eine Seite auf. Dann las er vor, was dort geschrieben stand.
Ein großer und mächtiger Zauberer, der vor langer Zeit im Ort gelebt und diesen vor jeder Gefahr beschützt hatte, war bei den übrigen Bürgern in Missgunst gefallen. Es waren über ihn Gerüchte erzählt worden, er würde die Menschen nur benutzen, ihnen Fallen stellen und sie betrügen.
Irgendwann hatte er davon genug. Auch seine Gutmütigkeit hatte seine Grenzen. Er hatte beschlossen, den Ort zu verlassen und nie wieder zu kehren.
Da der Zauberer aber ein gutes Herz hatte, hinterließ er dem Ort noch ein letztes Geschenk. Er versteckte tief im Wald einen Stuhl, der einem Menschen mit einem großen und guten Herzen ein Dach über dem Kopf bescheren würde.
In den Jahren danach versuchten immer wieder Männer und Frauen ihr Glück, durchsuchten den Wald, fanden aber nichts, was auch nur einen Hinweis auf den Stuhl geben konnte. Schließlich geriet das Geschenk des Zauberers irgendwann in Vergessenheit.
Die Jäger hatten aufgeregt zugehört. Ein Heim, ein Haus, geschenkt von einem Zauberer durch einen einfachen Stuhl. Das klang zu schön, um wahr zu sein.
Sie sahen sich gegenseitig an. Dann packten sie plötzlich ihre Sachen und rannten aus dem Haus des Geschichtsschreiber hinaus.
Die Jäger hielten sich nicht lange im Ort auf. Jeder von ihnen wollte der erste sein, derjenige, der ein neues Haus geschenkt bekommen würde.
Sie rannten in den Wald hinein, sprangen über Stock und Stein, bis der erste von ihnen vor dem Stuhl stand.
Mit breitem Grinsen ließ sich der Jäger langsam auf den Stuhl hinab sinken und plumpste auf den Boden. Er war durch den Stuhl hindurch gefallen, als würde dieser überhaupt nicht existieren.
Der Jäger schüttelte den Kopf, versuchte es ein zweites, ein drittes Mal. Aber er konnte sich nicht auf den Stuhl niederlassen. Jedes Mal landete er mit seinem Hintern auf dem Waldboden.
Der zweite Jäger kam nun heran, stieß den ersten zur Seite. Doch auch er hatte kein Glück. Es war ihm, als liefe er gegen eine unsichtbare Mauer. Der Stuhl war für ihn unerreichbar. Egal, wie oft er es auch versuchte, er prallte nur einen Schritt vom Stuhl entfernt gegen ein Hindernis, das er nicht sehen, nicht mal ertasten konnte.
Laut fluchend machte er dem dritten Jäger Platz und sah diesem zu, wie er sein Glück versuchte. Langsam schritt er auf den Stuhl zu, grinste dabei hämisch die beiden Pechvögel an. Als er nur noch zwei Schritte vom Stuhl entfernt war, verschwand dieser, als hätte er nie existiert.
Verwirrt sah er sich um, konnte aber den Gegenstand seiner Begierde nicht mehr entdecken.
Er machte einen Schritt zurück. Der Stuhl tauchte wieder auf. Der Jäger ging wieder vorwärts. Der Stuhl verschwand.
Laut fluchend nahm er ein altes, morsches Stück Holz vom Boden auf und warf es wütend von sich.
Sie mussten einsehen, dass sie nicht die Richtigen, nicht reinen, guten Herzens waren. Enttäuscht machten sich die Jäger auf den Weg zurück in den Ort.
Im Ort selbst hatte sich der Fund des Stuhls mittlerweile herum gesprochen. Der Geschichtsschreiber hatte jedem davon erzählt.
Noch bevor die Jäger den dichten Wald verlassen hatten, kamen ihnen die ersten Glücksritter entgegen.
Der Schmied des Ortes war der erste, der es versuchte. Mit seinem kräftigen Hammer schlug er sich eine Bresche durch jeden Busch und jedes Gestrüpp. Eine neue Schmiede konnte er sehr gut gebrauchen. Als er den Stuhl vor sich sah, wuchs in Windeseile eine undurchdringliche Hecke, in der sich sein Hammer verfing und nicht mehr daraus gelöst werden konnte.
Ein stolzer Ritter war der Nächste. Ihn ereilte ein ungewöhnlich starker Regen, der seine glänzende Rüstung in wenigen Augenblicken verrosten und zerfallen ließ. Nackt bis auf seine Unterwäsche rannte er peinlich berührt davon und wurde nie wieder gesehen.
Nach und nach versuchten immer mehr Menschen, dem Stuhl ein Heim abzuringen, darunter der örtliche Lehrer, der Pfarrer, der Bäcker, selbst der Geschichtsschreiber konnte der Verlockung nicht widerstehen.
Am Ende war sogar ein König dem Wunsch nach einem großen, prächtigen Schloss gefolgt. Er stand mitten unter den dicken Eichen, malte sich bereits aus, wie der Wald seinen Vorstellungen weichen, und dem unbezwingbaren Bau Platz machen sollte. Er atmete tief durch, schloss die Augen und trat vor.
Es passierte nichts. Der Stuhl blieb, wo er seit langer Zeit gestanden hatte. Es stellte sich dem König nichts in den Weg und niemand hielt ihn auf.
Er drehte sich zu seinem Gefolge um, nickte zufrieden und legte eine Hand auf die vom Moos bewachsene Sitzfläche. Tatsächlich konnte er den Stuhl ertasten und war sich nun sicher, dass er der Auserwählte war.
Zufrieden setzte sich der König auf den Stuhl, atmete tief durch und bekam einen mehr als zufriedenen Gesichtsausdruck.
Schon wollte er seinen Wunsch nach einem neuen Schloss laut aussprechen, als sich unter ihm der Boden auftat und den König verschlang.
Vom dieser Grausamkeit erschrocken, nahmen die Umstehenden die Beine in die Hände und rannten um ihr Leben.
Nun hatte niemand mehr Lust, sein Schicksal herauszufordern. Der Stuhl konnte nur ein Hexenwerk, eine Grausamkeit des Teufels sein. Es musste ein Fluch auf ihm lasten. Aber vielleicht konnte man das auch für dunkle Zwecke missbrauchen.
Der Bürgermeister dachte schon darüber nach, unliebsame Gegner mit dem Stuhl zu bestrafen und wählte einen Bettler aus, der ihm schon lange auf die Nerven ging.
Der Bürgermeister befahl seinen Soldaten, den Bettler festzunehmen und auf den Stuhl zu setzen.
Der Bettler sah die mit Schwertern bewaffneten Männer auf sich zukommen. In seinem Inneren spürte er sofort, dass dieser Tag nicht gut für ihn ausgehen sollte. Er nahm Abschied von den anderen armen Menschen, die sich mit ihm die Straße teilten, schenkte ihnen das wenige Hab und Gut, dass er noch besaß und ließ sich ohne Gegenwehr abführen.
Die Soldaten zerrten den Bettler in den Wald, zogen ihn über Stock und Stein, ließen ihn jede Wurzel schmerzhaft spüren und schleuderten ihn auf den Stuhl.
Von Angst erfüllt, riss der arme Mann seinen Mund auf, wollte schreien, als es um ihn herum dunkel wurde. Der Wald verschwand, die Bäume und Büsche waren nicht mehr zu sehen.
Der Bettler fragte sich, ob das nun der Tod sei, ob er sich auf den Weg in die Hölle befand. Doch dann entdeckte er hinter sich ein Fenster. Er befand sich in einer kleinen, warmen Hütte. Der Stuhl, auf dem er immer noch saß, stand vor einem Tisch, auf dem sich eine warme Mahlzeit befand.
Ein glückliches Gefühl machte sich im Herzen des armen Mannes breit. Das erste Mal in seinem Leben besaß er ein eigenes Heim, musste nicht mehr auf der Straße leben. Das Geschenk des Zauberers hatte nach so vielen Jahrhunderten endlich den Menschen erreicht, für den es schon immer bestimmt gewesen war.