Unzufrieden und knurrig ging der alte Kalif durch seinen prunkvollen Palast. Hin und wieder warf er einen Blick in die großen, grünen Gärten und weidete seinen Blick an den teuren Wandteppichen und den goldenen, die ihn in jedem Gang umgaben. Doch nichts davon stellte ihn wirklich zufrieden. Ganz tief in seinem Innersten war er auf der Suche nach wahrer Erfüllung. Doch die hatte er in seinem langen Leben noch nicht finden können.
Irgendwann brach er seinen Spaziergang ab und begab sich wieder in seinen Thronsaal. Es war Zeit für sein tägliches Ritual.
Während er weichen Kissen Platz nahm und sich von traumhaft schönen Frauen mit Weintrauben füttern ließ, brachte sein Großwesir eine Gruppe Frauen und Männer herein, die sich sofort zu Boden fallen ließen und sich nicht trauten, ihren Herrscher anzusehen.
»Welches Gesindel bringt ihr mir heute, Großwesir? Welchen Abschaum muss ich dieses Mal ertragen?«
»Eure großzügige und unermessliche Erhabenheit.«, begann der Großwesir zu erklären. »Diese … wie soll ich sagen? Mir will das Wort nur schwer über die Lippen kommen. Diese Menschen …«
Der Großwesir machte eine bedeutungsvolle Pause, in der durch ein verzogenes Gesicht zum Ausdruck brachte, dass er die am Boden Hockenden nicht als Menschen ansah.
»… sie haben sich allesamt eines schweren Verbrechens schuldig gemacht.«
»Sieh an, sieh an.« Der Kalif stand auf und schritt langsam auf die Gruppe vor sich zu. »Verbrecher sind sie. Einer schlimmer als der andere. Welchen Vergehen sind sie beschuldigt?«
Der Großwesir holte eine Schriftrolle aus einer Tasche seines Umhangs und las daraus vor.
»Sie haben gestohlen. Auf eurem Marktplatz haben sie die Frechheit besessen, Gemüse geklaut zu haben.«
In diesem Moment hob einer der Männer das Gesicht. Tränen rannen seine Wangen herab, als er sprach.
»Mein Herr, wir haben Hunger. Eurem Volk geht es schlecht. Es gibt in diesem Land nicht mehr genug zu Essen für alle. Dazu sind die Preise viel zu hoch. Niemand kann es sich noch leisten, auf dem Markt etwas ehrlich zu erwerben.«
Der Kalif wurde rot im Gesicht. Seine Wut kochte. »Wie kann er es wagen, mich anzusehen und anzusprechen. Das ist eine Majestätsbeleidigung.«
Er drehte sich weg und lief zu seinen Kissen zurück. »Großwesir, werft diesen Abschaum in die Kerker und lasst sie dort verschmoren. Dieses Gesindel hat nichts Besseres verdient.«
Der Großwesir nickte und ließ die Gruppe und lautem Klagen in die unterirdischen Zellen abführen.
Einen Tag später ging auch der Kalif hinab in die dunklen Gewölbe seines Palastes. Aus jedem Winkel drangen ihm schluchzende Stimmen und vor Angst klappernde Zähne an seine Ohren.
Hin und wieder warf er einen Blick in die Zellen und erfreute sich für einen kleinen Moment an seiner großen Macht, die ihm erlaubte, alles zu tun wonach ihm war.
Doch dann wich seine gute Laune wieder der alltäglichen Griesgrämigkeit.
»Ich muss noch mehr von diesem Abschaum einsperren lassen.«, entschied er. »Vielleicht wird das meine Laune erhellen.«
Er ließ nach seinem Großwesir schicken, der kurz darauf im Thronsaal auf ihn wartete.
»Was ist denn das?«, wurde der Kalif sofort wütend. »Großwesir, wie kannst du es wagen, mir keine Verbrecher vorzuführen? Soll ich dich etwa dafür bestrafen?«
Der Großwesir zuckte ängstlich zusammen. »Es tut mir leid, eure gerechte und großzügige Erhabenheit, aber die Wachen haben noch niemanden zum Palast gebracht.«
Schon bangte der Großwesir, nun selbst im Kerker zu landen, doch dann dann stahl sich ein bösartiges Lächeln auf das Gesicht des Kalifen.
»Dann werde ich eben selbst dafür sorgen. Mach alles dafür bereit, dass ich durch die Straßen gebracht werde.«
Der Großwesir, der seinem Herrn immer treu ergeben war, bekam große Angst. Er sah sich bereits im Kerker sitzen, an einer großen Eisenkette liegend, ohne Brot, ohne Wasser.
So wollte er sein Leben nicht beenden.
Noch bevor er alles für die Suche nach Verbrechern vorbereitete, verließ er den Palast, suchte selbst die Straßen ab, bis er vor einem alten Mann mit langem Bart stehen blieb, der an einem kleinen Feuer saß und sich wärmte.
»Was kann ich für euch tun, Großwesir?«, sagte der Alte.
»Ihr wisst, wer ich bin?«, staunte des Großwesir.
»Ich bin zwar ein alter Mann, habe viele Gebrechen, die mich quälen und bin überdies seit meiner Geburt mit Blindheit gestraft, aber ich höre das Rascheln des feinen Stoffes eures Gewandes.«
Der Großwesir schluckte. Er musste gefunden haben, wen er suchte.
»Ich habe gehört, dass du ein großer, weiser Mann bist und hilfst, wenn jemand in Not ist.«
Der Alte lächelte. »Ihr seid der Großwesir des Kalifen. Wie könntet ihr in Not sein? Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Land, dem es besser ergeht als euch.«
Also erzählte der Großwesir von seiner Angst vor seinem Herrscher und dessen Gier, Menschen in den Kerker zu sperren.
»Ich werde euch helfen.«, versprach der alte Mann. »Noch vor Ablauf des Tages wird dem Kalifen etwas widerfahren, das sein Leben erschüttert.«
Dann griff er in einen alten Stoffbeutel und warf ein Pulver in das Feuer vor sich. Ein lauter Knall ertönte und eine große Rauchwolke stieg empor. Dann war der Alte verschwunden.
Der Großwesir erschrak. »Hoffentlich habe ich das Richtige getan.«
Er lief schnell zurück zum Palast und traf alle Vorbereitungen für seinen Herrn, den Palast zu verlassen.
Keine Stunde war vergangen. In einer prächtigen, vergoldeten Sänfte wurde der Kalif von acht Sklaven durch die Straßen der Stadt getragen. Alle Bürger verneigten sich ängstlich vor ihrem Herrscher und bedeckten ihre Gesichter, da sie ihn nicht anschauen durften.
»Halt!«, rief plötzlich der Kalif. »Wer wagt es, sich meinen Gesetzen zu widersetzen?«
Auf dem Weg vor ihm saß ein kleiner Straßenjunge mit schmutzigem Gesicht und mit einem abgewetzten Gewand bekleidet. Statt seinen Blick auf den Boden zu richten, lächelte er den Kalifen an und lachte immer wieder vor Freude.
»Wie kannst du es wagen?«, war der Kalif erbost. »Großwesir! Diesen … diesen …« Es wollte ihm kein richtiges Wort einfallen, mit dem er den Jungen beschimpfen konnte.
»Führt ihn ab! Er hat den Kerker verdient.«
Sofort näherten sich ein paar bewaffnete Soldaten, die den noch immer lächelnden Jungen zum Palast abführten. Doch das konnte die Laune des Kleinen nicht drücken.
Zufrieden mit sich selbst ließ sich nun auch der Kalif zurück bringen. Er hatte seinen Verbrecher gefunden, mit dem er nun scharf ins Gericht gehen konnte.
Der kleine Straßenjunge saß in dunkelsten und feuchtesten Kerker, der im Palast gefunden werden konnte. Ratten liefen darin herum und stahlen das wenige, alte Brot, das dort noch zu finden war. Trotzdem hörte man keinen Weinen aus der Zelle. Das Gegenteil war sogar der Fall. Der Junge saß auf dem Boden, spielte mit ein paar Steinen und lachte vergnügt vor sich hin.
»Was soll das? Wie kann das sein? Will dieses … dieses …« Wieder fiel dem Kalifen keine passende Beschimpfung ein. »Will der mich auf den Arm nehmen?«
Er schickte die größten und grimmigsten Soldaten in die Zelle. »Macht ihm so richtig Angst. Ich will ihn bis unter das Dach meines Palastes weinen und um Gnade betteln hören.«
Aber dazu kam es nicht. Stattdessen lief der Straßenjunge immer wieder im Kreis um die Soldaten und sag lustige Lieder.
Der Kalif platzte vor Wut. Nur zu gern hätte er die Soldaten einsperren lassen, weil sie in seinen Augen unfähig waren. Stattdessen schickte er sie weg und begab sich nun selbst zu dem Straßenjungen.
»Warum tust du mir das an? Warum beleidigst du mich so sehr? Ich bin der Kalif. Ich bin der Herrscher dieses Landes und befehle dir, mir Respekt zu zollen.«
Er beugte sich tief hinab, legte das böseste Gesicht auf, dass er machen konnte und sah dem Kind direkt in die Augen.
Der Junge blieb stehen und hielt dem Blick stand. Dann kam er Schritt für Schritt auf den Kalifen zu und drückte ihm sanft mit dem Zeigefinger auf die Nase.
Er lachte wieder laut und hielt sich den Bauch.
»Also wenn man als Kalif immer so schlechte Laune hat, dann will ich niemals ein Kalif sein. Das macht doch überhaupt keinen Spaß. Wie kann dir das nur gefallen? Willst du nicht mal was anderes machen?«
Der Kalif war überrascht. Der kleine Junge hatte ihn berührt. Das hatte noch nie zuvor jemand mit ihm gemacht. Jeder Mensch hielt Abstand. Jeder wandte den Blick von ihm ab. Und dieser Straßenjunge tat es einfach so. Und diese kurze Berührung an der Nase hatte unglaublich gut getan. Ein warmes Gefühl bereitete sich von dieser Stelle aus und verteilte sich im ganzen Körper, bis es das Herz des Kalifen erreicht hatte.
Nun wusste er genau, was ihm in seinem Leben immer gefehlt hatte. Nun wusste er, wonach er sich schon so lange gesehnt hatte.
»Komm her zu mir.«
Der Kalif breitete seine Arme aus und drückte den Straßenjungen an sich.
Schon kurz darauf war der Kerker des Palastes leer. Alle Gefangenen waren frei gelassen worden. Der Großwesir hatte den Auftrag bekommen, sich darum zu kümmern, dass es den Menschen im Land besser ging. Jeder bekam genug zu essen.
Wenn nun der Kalif durch die Straßen ging, lächelte er die Menschen an und drückte sie an sich. Die Wärme, die der kleine Straßenjunge ihm geschenkt hatte, gab er nun an jeden weiter, der ihm über den Weg lief.
Der Junge selbst wurde vom Kalifen als sein Sohn angenommen und lebte von nun an mit ihm im Palast und achtete darauf, dass der Herrscher immer glücklich und zufrieden war.