Hannes saß auf einem großen Felsen und ließ seinen Blick über das endlose Meer schweifen. Da das Wetter heute besonders gut war, konnte er sogar die Küsten einiger Inseln erkennen. Gerade wollte er es sich gemütlich machen, als seine Angel plötzlich zu zucken begann. Es musste ein großer Fisch angebissen haben.
Sofort holte Hannes die Angelschnur ein. Er rollte sie Stück für Stück auf, bis seine Beute zwischen den Wellen auftauchte.
»Hoho, was ist denn das?«
Es war gar kein Fisch, der dort am Haken hing. Stattdessen hielt Hannes nun einen sehr seltsamen Helm mit zwei großen Hörnern in den Händen.
»So einen komischen Helm habe ich aber noch nie gesehen. Wer mag ihn wohl verloren haben?«
Er packte seinen seltsamen Fang und die Angel in eine Tasche und machte sich auf den Weg zurück in sein Dorf.
»Die Fische beißen heute eh nicht mehr. Aber vielleicht finde ich etwas über den Helm heraus.«
Eine Stunde später stand Hannes vor dem Rathaus.
»Vielleicht weiß der Bürgermeister besser als ich Bescheid.«
Der Bürgermeister hatte leider keine Zeit. Aber dafür bot sich der Geschichtsschreiber des Dorfes an, den Helm einmal unter die Lupe zu nehmen.
»Was haben wir denn da? Dieses Prachtstück gehört keinem unserer Bürger. Das wäre mir schon längst aufgefallen. Der Helm könnte allerdings schon seit langer Zeit im Meer gelegen haben. Ich werde wohl die alten Bücher und Aufzeichnungen durchschauen müssen. Das wird ein paar Stunden dauern. Aber wenn du mir hilfst, schaffen wir es in der Hälfte der Zeit.«
Hannes freute sich sehr über diese Einladung, nahm sich sofort einen großen Stapel Bücher vor und begann mit der Suche.
Es verging Stunde um Stunde, fündig wurden die Beiden allerdings nicht. Es hatte keinen einzigen Bewohner oder Besucher des Dorfes gegeben, der eine so auffällige Kopfbedeckung getragen hatte.
»Vielleicht ist der Helm einfach nur mit der Meeresströmung von einem weit entfernten Ort hierher getragen worden, ähnlich einer Flaschenpost.«
Diese Erklärung klang eindeutig, aber trotzdem war Hannes damit nicht zufrieden.
»Es könnte doch sein, dass wir noch etwas anderes finden. Dort oben im Regal steht noch ein letztes Buch.«
Der Geschichtsschreiber schüttelte den Kopf.
»Das ist das Buch aller Kriege, bei denen unser Dort beteiligt war. Darin wirst du ganz bestimmt nichts finden.«
Aber Hannes war trotzdem neugierig und schlug die erste Seite auf. Dort sah er die Zeichnung eines großen starken Kriegers, dessen Blick allein ausreichte, die Knochen zum Schlottern zu bringen. Sein Körper war in ein Bärenfell gehüllt. In der rechten Hand hielt er langes Schwert, in der linken einen Schild aus Holz. Das Gesicht versteckte sich hinter einem wilden roten Bart. Auf seinem Kopf ruhte ein Helm, der mit zwei langen Hörnern besetzt war.
»Es ist der Helm eines Wikingers.«, flüsterte Hannes vor sich hin.
Der alte Mann drehte sich um, sah auf die Zeichnung, schluckte und schob das Buch in seiner Angst sofort wieder zurück in das Regal.
»Die Wikinger leben in einem Land im Norden. Es ist sehr weit von uns entfernt, aber trotzdem kommen sie hin und wieder her, um uns auszurauben. Ihr Land ist sehr kalt und fast das ganze Jahr von Schnee bedeckt. Es ist also der Neid auf uns, der sie immer wieder in den Süden treibt.
Sie reisen in Drachenbooten, deren Köpfe ununterbrochen Feuer speien und das ganze Land in Schutt und Asche legen.
Die Wikinger sind fast doppelt so groß wie wir. Sie haben Kräfte wie ein Bär und sind von einem Ende der Welt bis zum anderen gefürchtet. Es ist niemandem bisher gelungen, sich gegen sie zu wehren.
Wir sollten zu Gott beten, dass sie uns nicht überfallen und dein Fund nur Zufall war. Immerhin hat sie seit zweihundert Jahren niemand mehr hier gesehen.«
Hannes schluckte und stand auf.
»Ich werde den Helm sofort wieder ins Meer werfen. Vielleicht hilft uns das.«
Er verließ mit seiner Tasche das Rathaus und lief zurück zur Küste.
Hannes war die ganze Strecke gerannt. Nun stand er atemlos am Ufer. Er griff in seine Tasche und holte den Helm hervor. Als er ihn gerade in die Fluten werfen wollte, entdeckte er etwas am Horizont.
Der Helm rutschte ihm aus der Hand und fiel scheppernd auf die nackten Felsen.
»Das glaube ich nicht.«
Hannes Beine wurden weich und er musste sich hinsetzen.
Am Horizont hatte er ein fernes Licht entdeckt, das sehr schnell näher kam. Schon bald war ein großes Segel zu erkennen.
»Dort kommt ein brennendes Schiff.«
Diese Annahme stimmte allerdings nicht. Natürlich brannte das Schiff nicht. Denn sonst wäre es schon recht bald gesunken. Stattdessen schien es so, als würden die Flammen aus einer Öffnung hervor züngeln.
Schließlich wusste Hannes, was er dort sah.
»Es ist ein Feuer speiendes Drachenboot. Die Wikinger kommen tatsächlich.«
Er sprang auf und lief sofort wieder nach Hause.
Vor dem Rathaus läutete Hannes eine große Glocke, die alle Bewohner des Dorfes auf den großen Versammlungsplatz rief.
»Ich habe sie gesehen. Sie kommen zu uns. Und sie werden uns alles nehmen, was wir besitzen. Wenn wir uns nicht wehren oder verstecken, werden wir bis zum Sonnenuntergang alle tot sein.«
Die Zuhörer waren entsetzt. Sie bekamen Angst.
Der Bürgermeister stellte sich zum ihm, neben die Glocke und versuchte, die Menschen wieder zu beruhigen.
»Hört mir erst einmal zu. Wollt ihr wirklich in Panik ausbrechen, nur weil ein junger Bursche uns Angst einjagen will? Weiß denn überhaupt auch nur einer von euch, wovon er da redet?«
Sie wussten es natürlich nicht und wurden wieder ruhiger.
Doch da holte Hannes den Helm hervor.
»Es sind die Wikinger. Ich habe diesen Helm heute aus dem Meer gezogen. Kurze Zeit später tauchte eines ihrer gefürchteten Drachenboote am Horizont auf. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Es speit Feuer und trägt die gefährlichsten Krieger der Welt mit sich durch die Fluten.«
Plötzlich sprachen alle Dorfbewohner hektisch miteinander. Kinder begannen zu weinen und die ersten eilten nach Hause, um ihr Hab und Gut zu verstecken.
»Bist du dir da auch wirklich sicher?«, fragte der Bürgermeister.
Hannes nickte.
»Dann müssen wir so schnell wie möglich handeln.«
Der Bürgermeister wandte sich den Menschen zu und brüllte die ersten Befehle.
»Bringt alles Wertvolle in Sicherheit. Versteckt euch im Wald und in den Höhlen des Berges. Wenn auch nur einer von euch im Dorf bleibt, wird er durch die Schwerter der Wikinger sterben. Beeilt euch.«
Jeder rannte nun nach Hause und bereitete sich vor. Innerhalb von zwei Stunden war das kleine Dorf wie leer gefegt. Es waren nur noch der Bürgermeister und Hannes übrig geblieben. Sie versteckten sich auf dem Dachboden des Rathauses und beobachteten das kommende Geschehen.
Es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie auf den Dorfplatz stürmten. Es waren zwanzig Männer, die gehörnte Helme trugen und in Bärenfelle gekleidet waren.
»Das sind die Wikinger.«, flüsterte der Bürgermeister.
Sie waren es tatsächlich. Aber sie wirkten verwundert, denn sie hatten nicht damit gerechnet, ein leeres Dorf vorzufinden.
»Wir können nur noch hoffen und beten, dass sie wieder verschwinden, ohne unsere Häuser nieder zu brennen.«
Doch diese Worte hörte Hannes nicht mehr. Er hatte es auf dem staubigen Dachboden nicht mehr ausgehalten. Dazu kam seine Neugierde. Denn irgendwas kam ihm komisch vor.
Er schlich die Treppen hinab und sah durch einen Spalt durch die Eingangstür nach draußen.
Nicht einer der Wikinger hatte Schwert oder Schild in der Hand. Stattdessen trugen sie große Säcke auf ihren Rücken.
Hannes hielt es nicht mehr aus und trat nach draußen auf den Platz.
»Was wollt ihr hier? Dieses Dorf ist schon seit langer Zeit nur noch von mir bewohnt. Alle anderen haben es längst verlassen, um an einem anderen Ort eine neue Siedlung zu bauen. Es lohnt sich nicht, hier etwas zu stehlen. Hier gibt es nur noch wertloses Zeug.«
Angst machte sich in ihm breit und er fürchtete um sein Leben.
Der Anführer der Wikinger legte seinen großen Sack ab und kam näher. Er verzog sein Gesicht und sah traurig aus.
»Dann sind wir ja völlig umsonst hierher gekommen. Wir hatten gehofft, hier im Süden Handel treiben zu können. Wir Wikinger sind schon seit zweihundert Jahren keine Krieger mehr. Wir haben festgestellt, dass Krieg nur Leid und Tod über die Menschen bringt. Deswegen sind wir nun Händler und verdienen unser Geld auf ehrliche Weise.«
Er griff in seinen Sack und holte Tierfelle daraus hervor.
»Wir verkaufen warme Felle und Holzgeschirr.«
Hannes musste lachen. So etwas hatte er nicht erwartet.
»Und wir haben damit gerechnet, dass ihr unser Dorf niederbrennen wollt.«
Nun gesellte sich auch der Bürgermeister zu den Besuchern und schüttelte ihnen die Hände. Zum Schluss hatte die ganze Geschichte doch noch eine gute Wendung bekommen.
Bis zum Abend waren alle Menschen wieder aus ihren Verstecken gekommen und kauften nun die schönen warmen Felle für den bevor stehenden Winter. Gemeinsam feierten sie ein großes Fest und erzählten sich von der Vergangenheit.
Der Geschichtsschreiber machte in einem seiner Bücher einen neuen Eintrag über den heldenhaften Hannes, der es ganz allein mit zwanzig Wikingern aufgenommen hatte, nur um heraus zu finden, dass sie nun ganz andere, ganz friedliche Menschen geworden waren.
Sie waren auch nicht viel größer als die Dorfbewohner. Und wie Hannes feststellte, war der Drachenkopf des Bootes nur aus Holz und sein Feuer eine große Lampe, um ihm Nebel besser gesehen zu werden.