Der Vollmond war vor wenigen Minuten aufgegangen und hatte auf seinem Weg zum Firmament seinen ersten Lichtstrahl in ein ganz bestimmtes Haus geworfen. Hätte man das feine Gehör eines Wolfs oder Hundes besessen, man hätte den Mond wohl leise kichern hören. So blieb die Kuriosität aber völlig unbemerkt.
Der Lichtstrahl hatte sein Ziel genau getroffen. Er war auf einen jungen Mann getroffen, der gerade vor seinem großen Spiegel stand und ein paar Staubkörner von seinem schicken Anzug wischte.
»Oh, nein!« Er fasste sich an die Kehle, wohl wissend was nun mit ihm geschehen würde. »Warum gerade jetzt? Warum ich? Das ist nicht fair. Ich hab mich doch heute so gut versteckt.« Er hatte schon die Fensterläden dicht verschlossen, wäre da nicht dieses winzige Loch gewesen, das ein Hagelkorn beim letzten Gewitter geschlagen hatte. Wenn er es doch nur repariert hätte. Doch nun durchkreuzte ihm der Mond seine Pläne.
Plötzlich griff er sich unter lauten Schmerzensschreien an die Brust, zerriss den feinen Anzug in Fetzen. Im Spiegel sah er verzweifelt dabei zu, wie er sich wieder einmal in dieses Monster, das er nicht sein wollte, verwandelte.
Aus seiner Haut wuchsen lange, borstige Haare, sein Mund wurde zur Schnauze und die Zähne länger und messerscharf. Die Hände formten sich zu schweren Pranken mit Krallen, die groß wie Kräutersensen waren. Nach weniger als einer Minute war aus dem jungen Mann ein schrecklicher Werwolf geworden, dessen Heulen man in der ganzen Nachbarschaft hören konnte.
Er knurrte. Dicker Geifer tropfte ihm von den Lefzen. Die Überreste der zerstörten Hose riss er sich vom Leib. Dann durchschlug er das Fenster und sprang hinaus in die Nacht.
Der Werwolf rannte durch die Dunkelheit. Es ging hinab ins Stadtzentrum, vorbei an kreischenden Menschen, denen er kaum eine Beachtung schenkte. Er nach mehreren Kilometern machte er Halt.
Er sah durch eine verschlossene Tür in ein unbeleuchtetes Geschäft. Ohne lange nachzudenken durchschlug er das Glas, drehte den von Innen steckenden Schlüssel um und betrat den Raum.
»Was geht hier vor?« Ein Mann, der aus dem hinteren Bereich gekommen war, sah entsetzt auf das Untier und die Scherben am Boden. »Was zur Hölle …«
Der Werwolf machte eine beruhigende Geste mit seinen Pranken. »Beruhig dich wieder, Paul. Ich bin es, Finn. Ich erkläre dir alles später. Jetzt brauche ich dringend einen neue Frisur und einen Bartschnitt. Ich habe gleich ein Date und kann unmöglich so auftauchen.«
Friseur Paul nickte und griff zitternd zum Rasierer. »Damit geht es wohl am schnellsten. Ich schaue, was ich machen kann.«
Ein halbe Stunde später stand Finn vor dem Haus seiner Freundin und lächelte schief. »Tut mir leid, dass ich nur in Jeans und Shirt aufkreuze. Mein Anzug ist nicht rechtzeitig aus der Reinigung gekommen.«