Es war Abend geworden. Die Sonne ging mittlerweile schon wieder ein ganzes Stück früher unter und machte dem unendlichen Sternenmeer Platz, das schon recht bald zu funkeln begann.
Am Fenster des Kinderzimmers saßen die Zwillinge Nik und Nele und sahen hinaus, erfreuten sich an den vielen Sternen, die nach und nach in der Dunkelheit auftauchten, als würde jemand immer wieder mit einer Nadel in ein schwarzes Zeltdach stechen.
»Und das Sternbild dort drüben heißt Fische.«, erklärte Nik seiner Schwester wie ein Oberlehrer.
Nele verdrehte die Augen. Sie holte ihren Sternenatlas, der unter ihrem Kopfkissen lag und hielt ihn Nik unter die Nase.
»Wem willst du etwas beibringen? Ich kenne mich im Weltall sehr gut aus.«
Sie wanderte mit dem Finger hin und her, zählte aus dem Kopf die hellsten Sterne aus dem Kopf auf.
»Kullat Nunu, Alrischa, Torcularis Septentrionalis, Fum al Samakah, Piscium.«
»Ja, ist schon gut. Hab ich verstanden. Was meinst du, ob dort oben intelligentes Leben gibt?«
Nele rieb sich über ihr Kinn und dachte nach.
»Vielleicht sollten wir einfach mal nachschauen.«
Nik grinste breit und lief zum Etagenbett. Er setzte sich auf die untere Matratze und winkte seine Schwester zu sich.
»Das ist genau das, was ich damit sagen wollte. Los, komm schon, wir verlieren wertvolle Zeit.«
Nele packte ihr Weltraumbuch und nahm es mit ins Bett. Dann legte sie ihr Kopfkissen zur Seite. Zum Vorschein kam ein großer, roter Knopf, den sie drückte.
»Nächster Halt: Doppelsternsystem Piscium Alrischa.«
Im Zimmer begann es leise zu brummen. Das Etagenbett erhob sich ein paar Zentimeter vom Boden und schwebte dem Balkon entgegen. Die großen Glastüren öffneten sich, gaben den Weg nach draußen frei. Rund um das Etagenbett fuhren Glasscheiben nach oben, die die beiden Kinder sicherten und die Luft im Innern hielten. Dann sausten sie mit ihrem ungewöhnlichen Raumschiff ins All, dem Sternbild Fische entgegen.
In wenigen Sekunden hatten die Zwillinge den Weltraum erreicht, sausten an der Internationalen Raumstation und dem Mond vorbei, bis sie in den tiefen des Weltraums verschwanden.
Das Etagenbett raste mit unglaublicher Geschwindigkeit an Sternen, Planeten und bunten Nebeln vorbei. Es überwand die Strecke von einhundertfünfzig Lichtjahren in kürzester Zeit.
»Wir sind da. Das ist das Alrischa Doppelsternsystem, auch bekannt als Piscium.«, erklärte nun Nele, was sie vor sich sahen.
»Die große Sonne wird von einer kleineren umkreist. Ob es hier überhaupt Planeten gibt, weiß man nicht. Wenn es welche gibt, könnten sie um jeweils einen Stern oder auch um Beide gleichzeitig kreisen.«
Sie flogen in das System ein, sahen schließlich einen kleinen blauen Planeten, der sich in der Nähe des kleineren Sterns befand.
»Das ist unser Ziel.«, entschied Nele, ohne sich weiter umzuschauen.
Sie steuerte das Bett zum Planeten, landete es sanft auf einer Insel, die sich aus einem großen Ozean erhob. Die Glasscheiben des Betts verschwanden im Rahmen und gaben den Weg frei.
Nik sprang als Erster von der Matratze und sah sich gleich um. Er wollte noch vor seiner Schwester intelligentes Leben entdecken. Daher lief er hin und her, sah unter jedem Busch und hinter jedem Baum nach. Bis auf die vielen Pflanzen konnte er aber keine weiteren Lebewesen entdecken.
»Hast du schon darüber nachgedacht, dass vielleicht die Bäume und Büsche intelligent sein könnten?«
Nik schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Ich habe auch keine Lust, mich mit Grünzeug zu unterhalten. Ich suche wahres Leben.«
Er fand aber nichts. Nele hingegen wandte sich dem Strand zu. Zuerst sah sie sich den Sand in Wassernähe an. Vielleicht gab es hier Tiere, die irdischen Krebsen nicht unähnlich waren. Vielleicht konnte man die Schalen von Muscheln finden. Fehlanzeige.
War dieser Planet doch unbewohnt?
Nele betrat das Wasser, ging so weit hinein, dass ihr die Oberfläche bis zum Bauch reichte. Dann holte sie tief Luft und tauchte unter. Sie sah sich um, bekam einen Schrecken und kam sofort wieder hoch.
»Das wirst du mir nicht glauben, wenn du es nicht mit eigenen Augen siehst.«
Nele lief zum Strand zurück, schob ihren Bruder zur Seite und zeigte auf das Wasser.
»Gleich passiert etwas. Warte noch einen Moment.«
Nik sah ungläubig zum Wasser. Was sollte denn da passieren? Und in diesem Augenblick passierte es tatsächlich schon.
In den seichten Wellenbewegungen tauchten Fische auf, die irdischen Sardinen nicht unähnlich waren. Zuerst kamen nur die Köpfe zum Vorschein. Aber dann kamen sie auf den Strand zu. Auf ihren filigranen Flossen, die sie wie Beine benutzten, verließen sie das Meer und betraten den Strand.
Wortlos gingen sie auf einen Busch zu, brachen mehrere Äste ab und verbanden sie mit Gräsern zu großen Pfählen, die sie in den weichen Sandboden rammten.
»Was soll das denn werden?«, fragte Nik, der sich keinen Reim auf dieses seltsame Verhalten machen konnte. »Ich habe noch nie gesehen, dass Fische so etwas machen.«
Nele konnte ihm nur beipflichten. Hier ging etwas sehr Seltsames vor sich.«
Als die Arbeiten fertig waren und in Ufernähe fünf Pfähle aufgestellt waren, kamen weitere Fische aus dem Ozean. Eine größere Gruppe hatte eine fünf gefesselte Fische umringt, die sie zum Strand führten.
»Ihr habt dem Schwarm großes Leid zugefügt.«, begann nun ein Fisch in einer prächtigen Robe zu sprechen. »Ihr habt Unheil über uns gebracht, dass sich nicht wieder gut machen lässt. Aus diesem Grund werdet ihr aus dem Schwarm verbannt. Ihr werdet den Rest eures Lebens außerhalb des Wassers verbringen müssen.«
Die weinenden Fünf wurden an die Pfähle gebunden. Danach verschwand der Fischschwarm wieder in den Fluten des Meeres.
»Das sind Marterpfähle.«, war Nele entsetzt. »Die Fische sind Gefangene. Die Insel ist wohl eine Art Gefängnis. Wir müssen sie unbedingt befreien.«
Doch da überschlugen die Ereignisse. Aus dem Ozean erhob sich ein riesig großes Wesen. Es sah auch wie ein Wal, war mit scharfen Zähnen bewaffnet und stürzte sich nun an den Strand. Mit einem einzigen Bissen verschwanden die Fünf Gefangenen im Maul des Riesen. Dann rollte sich der Wal zurück ins Wasser und schwamm davon.
»Dieser Planet ist sehr seltsam.«, sagte Nik und schüttelte den Kopf. »Wir sollten hier verschwinden, bevor uns auch noch was passiert.«
Nele stimmte ihm zu. Sie setzten sich wieder in das fliegende Etagenbett und machten sich auf den Heimweg.