Die Müllschnecke
»Los, Wuschel, beeil dich. Wir müssen uns fertig machen. Ich bin doch schon so neugierig.«
Nino stand im Flur und schob sich sein feinstes Sonntagshaus auf dem Rücken zurecht.
Moment einmal, magst du jetzt sagen wollen. Kein Mensch ist stark genug, um ein ganzes Haus auf dem Rücken herum zu tragen. Und damit hast du auch recht. Aber Nino konnte es. Er war nämlich kein Mensch, sondern eine Schnecke.
»Wenn wir jetzt nicht endlich fahren, sind alle anderen schon vor uns da.«
Nino war ungeduldig. Doch in diesem Moment kam sein kleiner Hund Wuschel um die Ecke gelaufen. In seinem Maul brachte er eine leuchtend rote Leine mit.
»Fein hast du das gemacht. Dann können wir ja los.«
Nino legte dem Hund die Leine an, holte aus seinem Wandschrank ein Skateboard heraus und stellte sich darauf.
»Auf geht’s, Wuschel. Immer die Straße entlang.«
Und schon fuhren sie wie ein geölter Blitz durch die Stadt. Nino war die schnellste Schnecke, die jemals gesehen wurde. Doch darüber wunderte sich schon seit langer Zeit niemand mehr. Wie sonst sollte eine Schnecke von einem Ort zum anderen gelangen, ohne dafür mehrere Tage Zeit zu vergeuden?
Das Ziel der Fahrt war ein neuer Laden, der in wenigen Minuten im Zentrum der Stadt eröffnen würde.
Die Schnecke erreichte ihn schon sehr bald und konnte sehen, dass sich vor der Eingangstür bereits eine kleine Gruppe neugieriger Leute gebildet hatte.
»Hallo Nino.«, riefen Fräulein Fledermaus und Herr Maulwurf gemeinsam.
»Hallo ihr Zwei.«, grüßte Nino zurück.
»Geht es jetzt bald rein?«, fragte Herr Maulwurf ungeduldig.
Wie immer hatte er seine Brille zu Hause vergessen und war buchstäblich blind wie ein Maulwurf.
»Ja, bald. Wir warten nur noch auf den Ladenbesitzer.«, antwortete Fräulein Fledermaus genervt zurück. Sie hatte diese Frage schon mindestens zwanzig Mal an diesem Morgen zu hören bekommen.
Kurz darauf konnte man jemanden durch das Schaufenster des Ladens sehen. Es war Herr Elster, der vor einigen Tagen neu in die Stadt gezogen war. Er steckte einen großen Schlüssel in das Schloss der Tür, drehte ihn zweimal herum und eröffnete den Laden.
»Herein spaziert, meine Damen und Herren und probieren sie das neue Einkaufserlebnis aus. Sie werden begeistert sein von unseren vielen Produkten und jeder auch nur denkbaren Art von Luxus. Herein, herein.«
Das klang alles sehr verlockend. Nino und die anderen drängten sich durch die Tür und verteilten sich in den einzelnen Gängen zwischen den Regalen.
Erst am Abend, kurz nachdem der neue Laden geschlossen hatte, waren Nino und Wuschel nach Hause zurück gekehrt. Sie hatten viel eingekauft. Die fünf vollen Tüten passten so gerade in Ninos Sonntagshaus, welches er gerade leerte und alles in seinen Schränken verstaute.
»Du meine Güte. So viele Sachen haben wir ja noch nie hier gehabt. Und es ist alles so einfach. Reingehen, einkaufen, bezahlen und nach Hause bringen. Wer hätte das gedacht. Da muss doch keiner mehr von uns in Wald und Felder gehen und sich mit der Suche nach etwas Essbarem abmühen. Ist das nicht toll?«
Wuschel bellte vor Vergnügen. Er wusste, dass es nun nicht mehr lange dauern konnte, bis auch er etwas Leckeres in seinen Fressnapf bekommen würde.
Zufrieden und glücklich setzten sie sich nach dem Essen vor den Kamin und genossen den Rest des Abends.
Am nächsten Morgen fanden sich Nino und Wuschel erneut vor dem neuen Laden wieder. Auch andere Bürger der Stadt waren wieder da und mit ihnen noch mehr Neugierige.
»Schau an, schau an.«, übertönte der Bürgermeister alle anderen Stimmen.
»Mir scheint, dass es eine wirklich gute Idee war, dieses Einkaufsparadies in unsere so wunderschöne Stadt zu holen.«
Gemeinsam gingen sie hinein und kauften, was sie in ihre Finger bekommen konnten.
Auch an diesem Abend kam die Schnecke mit fünf vollen Tüten nach Hause.
»Ohje, ohje. Schau dir das nur an Wuschel. Wir haben schon wieder eingekauft. Und dabei haben wir noch gar nichts von Gestern verbraucht. Was machen wir denn jetzt?«
Wuschel hüpfte herum und wartete nur auf sein Fressen.
»Mehr können wir wirklich nicht mehr einkaufen. Jetzt sind alle Vorratsschränke voll. Wir werden morgen wohl etwas anderes unternehmen müssen.«
Am nächsten Morgen setzte sich die Schnecke gemütlich an den Frühstückstisch. Sie aß ein Brot mit Marmelade und eines mit einer richtig leckeren Salami. Dazu einen frischen Saft.
Doch danach kam sie ins Grübeln.
»Der Laden ist ja eine tolle Sache, aber ich weiß gar nicht, wo ich die ganzen Verpackungen lassen soll. Die stapeln sich ja langsam hier in der Küche. Und langsam fangen sie an zu stinken. Ob wir sie wieder zurück geben können? Probieren wir es doch einfach aus.«
Nino räumte alles in eine große Tasche und lies sich von Wuschel zum Laden ziehen.
Herr Elster öffnete gerade die Eingangstür und lies die ersten Kunden herein.
»Hallo Herr Schnecke. Wollen sie ihre Vorräte auffüllen? Kommen sie nur herein. Es ist genug für alle da.«
Aber Nino blieb an der Tür stehen und holte seine Tasche hervor.
»Ich bin gekommen, um die alten Verpackungen abzuliefern. Ich weiß nicht, wohin damit. Aber sie haben doch bestimmt eine Lösung dafür.«
Das Gesicht von Herrn Elster verfinsterte sich von einem Augenblick zum andern. Er stemmte die Flügel in seine Seiten und versperrte den Eingang.
»Das ist nicht mein Problem.«, erwiderte er sauer.
»Für ihren Müll sind sie ganz allein zuständig. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder ordentliche Ladenbesitzer diese stinkenden Verpackungen zurück nehmen müsste. Nehmen sie das Zeug gefälligst wieder mit nach Hause und machen sie damit was sie wollen.«
Er verschwand in seinem Laden und schloss schnell die Tür.
Nino war erstaunt. So eine Reaktion hatte er nicht erwartet. Es schien ihm tatsächlich nichts anderes übrig zu bleiben, als seinen Müll wieder mitzunehmen.
Ein paar Tage später litten alle Bürger der Stadt unter dem gleichen Problem. Der Müll stapelte sich und sie wussten nicht, wohin sie ihn bringen konnten. Wegen des Gestanks brachten sie ihn nach draußen und legten ihn an die Straßen. Nach und nach wuchsen die Müllberge immer weiter an. Es stank überall und niemand wusste mehr ein noch aus. Selbst der Bürgermeister war verzweifelt. Schon vor einer Weile war er zum Einkaufsladen gegangen und hatte Herrn Elster gebeten, alle Verpackungen zurück zu nehmen. Der der blieb einfach stur und sagte nein.
Nino traute sich mittlerweile gar nicht mehr nach draußen. Alle Türen und Fenster blieben geschlossen, denn in seinem Haus war die Luft frischer als draußen.
»Ach, Wuschel. Das kann doch nicht ewig so weiter gehen. Vielleicht werden wir noch alle krank von dem Gestank. Wir müssen etwas unternehmen. Ich weiß auch schon was. Hilfst du mir dabei?«
Der kleine Hund hüpfte im Kreis herum und holte sofort seine Leine.
Nino kroch in den Flur und suchte sein altes und fleckiges Schneckenhaus. Er wusste, dass es noch irgendwo stehen musste. Dann schnallte er es sich auf den Rücken, zog sich eine orangefarbene Sicherheitsweste an und lies sich von Wuschel die Straße entlang ziehen.
Vor jedem Haus machten sie Halt und luden den Müll in das Schneckenhaus. Es wurde immer voller und schwerer, aber dafür sahen die Straßen danach wieder richtig ordentlich aus und der Gestank verschwand.
Die Leute freuten sich sehr. Manche begleiteten die Schnecke sogar und halfen, wo sie nur konnten.
Nach ein paar Stunden war die Stadt wieder sauber.
»Jetzt bekommen wir endlich wieder frische Luft. Es ist endlich wieder so wie früher. Doch wohin nur mit dem ganzen Müll?«
Nino wusste sich keinen Rat. Doch Fräulein Fledermaus hatte sich schon etwas ausgedacht. Gemeinsam gingen sie zum Einkaufsladen.
Herr Elster freute sich schon. Er sah seine Kunden von weitem und schloss schnell die Tür auf.
»Herein spaziert. Gerade sind neue Waren eingetroffen. Es ist genug für alle da. Kauft, Leute, kauft.«
»Wir sind nicht zum einkaufen gekommen.«, sagte Nino, während er sein mittlerweile ganz verdrecktes Schneckenhaus vom Rücken nahm.
»Wir wollen ihnen nur zurück geben, was wir nicht mehr brauchen.«, redete Herr Maulwurf weiter.
Sogar der Bürgermeister war mittlerweile zu seinen Leuten gekommen und drängelte sich nun nach vorn.
»Wir haben beschlossen, dass sie für den ganzen Müll, den sie uns verkauft haben, verantwortlich sind. Entweder sie nehmen alles zurück oder wir werden ihren Laden sofort schließen.«
Herr Elster wusste nicht, was er machen sollte. Aber er spürte genau, dass er diese Auseinandersetzung verloren hatte.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Sachen zu packen und aus der Stadt zu verschwinden. Doch bevor er fahren konnte, übergab ihm Nino noch das alte Schneckenhaus.
»Unser kleines Abschiedsgeschenk sollten sie nicht vergessen. Wir wollen doch, dass sie sich für immer an uns erinnern.«
Herr Elster sagte nichts weiter und fuhr mit seinem Karren langsam davon.
Am Abend saß Nino mit seinen Freunden auf der großen Wiese vor dem Wald. Sie picknickten und genossen die frische Luft.
»Es macht mir gar nichts aus, dass wir unser Essen jetzt wieder selber suchen und sammeln müssen. Dafür bleibt unsere Stadt sauber und wir haben keinen Müll.«
Fräulein Fledermaus und Herr Maulwurf waren sofort Ninos Meinung. Das alte Leben ohne den vielen Luxus war einfach viel schöner.