Die Tische im Sailorman’s Hole hatten sich gefühlt. Kein einziger Stuhl war leer geblieben. Überall standen große Krüge, in denen sich dieses Mal kein Bier befand. Die Piraten hatten zwar erst welches trinken wollen, sich dann aber umentschieden. Der heutige Abend erschien ihnen als zu wichtig, um sich Alkohol zu trinken.
»Wichtige Entscheidungen trifft man mit einem kühlen Kopf.«, hatte Henker gesagt und alle hatten sich daran gehalten. Die bereits bestellten Biere gingen zurück an die Theke.
»Dieser riesige Fisch ist unheimlich. Er taucht überall im Meer auf, egal, wo man sich befindet.«, erklärte Deborah. »Er scheint kein festes Revier zu haben. Man hat den Eindruck, dass es sich um mehrere Tiere handeln muss aber es gibt auch Dinge, die dagegen sprechen.« Sie zeigte auf Enterhäkchen. »Meine Tochter hat das Monster bei jedem Angriff genau beobachtet. Es verhält sich nicht nur immer gleich, auch die seltsam schimmerne Haut zeigt Strukturen, die es unverwechselbar macht. Es scheint einige Narben zu haben, die es logischerweise einzigartig machen. Es gibt folglich nur einen einzigen Fisch.«
»Aber wie kommt es, dass er überall angreift?«, wollte Henker wissen. »Wir sind so viele Piraten. Wie weiß das Mistvieh, wer gerade wo einen Überfall startet? Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Es muss übermenschliche Kräfte haben.«
Deborah nickte. »Natürlich hat der Fisch solche Kräfte. Er ist ja auch kein Mensch. Wir haben aber auch Beobachtungen gemacht, die dafür eine Erklärung liefern.«
Sie winkte ihre Tochter zu sich an die Theke. »Ich glaube, an der Stelle übernimmst du.«
Enterhäkchen kletterte auf den Barhocker ihrer Mutter und stellte sich dann auf die Theke. »Ich bin nur ein kleines Mädchen, dass noch nicht lange das Piratenhandwerk lernt, aber ich hoffe, ihr nehmt mich trotzdem ernst, denn wie ihr euch vielleicht denken könnt, lerne ich von den Besten und nehme die Piraterie sehr ernst.«
Sie atmete einmal durch, bevor sie mit ihrem Vortrag begann. »Ich kann nicht einschätzen, wie viele eurer Überfälle der Fisch schon vereitelt hat und wie oft ihr es danach noch versucht oder schnell aufgegeben habt. Wir, die Mannschaft der Piratenseele, haben es in den letzten Wochen immer wieder versucht. Wir haben den Ort gewechselt, unsere Taktiken angepasst und sowohl am Tag als auch in der Nacht versucht, unseren Gegner zu überlisten. Es ist uns allerdings nie geglückt.
Bei all diesen Versuchen gab es eines, das ich immer wieder beobachtet habe. Kurz bevor der Fisch zuschlug, tauchten am Himmel Flugschiffe auf, die schnell näher kamen, über uns hinweg zogen und auf der anderen Seite des Himmels wieder in den Wolken verschwanden. Es sind mal mehr mal weniger. Mal waren es nur zwei, ich habe aber auch schon fünf gesehen. Sie kamen aber niemals allein. Dabei handelte es sich, wie ich das bis jetzt einschätze, um gewöhnliche Segelschiffe, die aber an riesigen Ballons hingen und von Windmühlensegeln angetrieben wurden. Kurz darauf tauchte das Ungetüm auf und verschlang die Beute samt Mannschaften.
Uns ist nicht klar, was diese Luftschiffe damit zu tun haben, da sie einfach nur durch den Himmel kreuzen. Dass sie aber etwas damit zu tun haben müssen, liegt auf der Hand. Da werdet ihr mir wohl zustimmen, oder?«
Im allgemeinen Gemurmel war deutlich zu vernehmen, dass auch andere Piraten diese Schiffe gesehen hatten, egal ob sie fünf, zehn oder auch nur zwei Überfälle versucht hatten.
»Ich vermute ganz stark, dass es da einen Zusammenhang gibt.«, hatte nur Deborah wieder das Ruder übernommen. »Wenn wir uns um die Flugschiffe kümmern, wir sie aus dem Weg räumen können, dann werden wir auch den Fisch los. Ich kann nur leider nicht sagen, mit wie viel Fliegern wir es zu tun haben. Es muss eine ganze Flotte von ihnen geben.«
An einem der Tische stand ein Mann auf und räusperte sich. »Ich bin Cannonball, die Kanonenkugel.« Um seinen Namen zu unterstreichen, fuhr er sich mit der Hand über seinen glatt rasierten Schädel. »Ich bin der Kapitän eines kleinen und unwichtigen Schiffs, das sich noch keinen Namen gemacht hat. Wir haben schon mehrfach versucht, die Flugschiffe zu beschießen, was uns aber nicht geglückt ist. Sie sind viel zu hoch. Unsere Kanonen schießen nicht einmal annähernd so weit in den den Himmel. Sie fielen alle ins Meer. Wie sollen wir die Dinger eurer Meinung nach loswerden?«
Die Antwort darauf musste Deborah ihm schuldig bleiben. Sie konnte nur mit den Schultern zucken. »Ich hatte eigentlich gehofft, dass irgendwer in unserer großen Runde dafür eine Lösung finden würde. Wir haben uns zwar im Voraus sehr viele Gedanken gemacht, die wir euch auch vorgetragen haben, aber wir konnten nicht für alles eine Lösung finden. Sonst hätten wir euch gar nicht erst hierher eingeladen. Wir müssen die Flugschiffe irgendwie aufspüren, sie aus der Reserve locken und zerstören. Nur so können wir sie besiegen.«
»Und? Hat irgendwer einen Plan?« Cannonball sah durch den großen Raum, schien jeden Piraten einmal in die Augen zu schauen. Niemand antwortete ihm. »Na schönen Dank auch. Dann habe ich hier meine Zeit wohl ganz umsonst verschwendet.« Er nahm seinen Hut, bedeckte damit seine Glatze und verließ wütend das Sailorman’s Hole. Durch die Außenwände konnte man ihn noch eine ganze Weile schimpfen hören, bis er irgendwann außer Reichweite war.
Deborah ließ die Schultern und den Kopf hängen. Sie rieb sich ein paar Sekunden lang mit zwei Fingern einer Hand die Augen, bevor sie weiter sprach.
»Verdammt! Wir alle sind Freibeuter und Piraten. Das Überfallen von Handelsschiffen ist unser Leben und wir leben davon. Wir haben nichts anderes gelernt. Wollt ihr das etwa aufgeben? Wir haben euch nicht hierher bestellt, um euch einen fertigen Plan zu präsentieren, den ihr nur noch umsetzen müsst. Ihr müsst euch selbst mit einbringen, euch daran beteiligen. Wir brauchen eure Hilfe. Wenn jeder von euch nur ein kleines Stück beiträgt, können wir gemeinsam unsere Zukunft retten. Das kann aber die Mannschaft der Piratenseele nicht allein.«
Im Raum blieb es zunächst still. Dann standen die Piraten nach und nach auf und verschwanden.
Morgana sprang von ihrem Stuhl auf. »Was soll das? Warum haut ihr alle ab? Seid ihr etwa alles Feiglinge, die sich schon längst aufgegeben haben? Bleibt gefälligst hier und helft uns, sonst werden wir diesen Kampf verlieren.«
Eine Piratin blieb tatsächlich stehen, drehte sich noch ein letztes Mal um und zuckte mit den Schultern. »Wir haben doch schon längst verloren. Ihr habt es nur noch nicht akzeptiert. Aber kämpft ruhig weiter. Wir suchen uns in der Zeit neue Jobs an Land.« Dann ging auch sie durch die Tür nach draußen. Das Sailoman’s Hole war leer.
Morgana, Deborah und Enterhäkchen standen mit offenen Mündern da und glaubten nicht, was sie gerade erlebt hatten. Die mutigsten Männer und Frauen, die Freibeuter des Meers und die gefürchtetsten Piraten hatten sich aufgegeben. Sie, die nicht einmal Tod und Teufel der Legende nach fürchteten, überließen einem Fisch ihr Revier.
Aus einer besonders dunklen Ecke des Schankraums ertönte plötzlich der Applaus eines einzelnen Handpaars. Henker saß noch immer mit seinem Rollstuhl an einem der vielen Tische. Seine wachsamen waren auf die drei Frauen gerichtet. »Eure Rede war wirklich fantastisch und hat mich von Anfang bis Ende gefesselt.«
Morgana stöhnte genervt, ging auf ihn zu und fegte seinen Krug vom Tisch. »Mach dich nicht lächerlich, alter Mann. Hier war niemand gefesselt. Warum sonst sind wir jetzt hier allein? Schau dich doch mal um.«
Henker, der wegen des hinfort gefegten Krugs nicht einmal gezuckt hatte, beugte sich vor. Sein Gesicht kam aus dem Schatten. Er sah Morgana mit festem Blick an. »Ich sage es nur noch ein einziges Mal. Ihr habt hier eine wunderbare Brandrede gehalten. Ihr habt dafür gesorgt, dass jedem Mann und jeder Frau der Atem stockte. Ich habe sie alle beobachtet und es nicht nur gesehen, sondern auch gespürt. Sie haben nicht nur Angst vor dem Fisch, sie haben auch Angst um und vor euch. Sie haben sich tatsächlich schon längst aufgegeben und wollen nicht glauben, dass ihr euch diesem Monster stellen wollt. Ihr habt sie beeindruckt und damit in die Enge getrieben. Natürlich wollen sie das Piratenhandwerk nicht an den Nagel hängen. Aber sie haben auch Angst davor, sich euch anzuschließen. Sie wollen nicht die Nächsten sein, die gefressen werden.«
»Und warum bist du dann noch hier?«
Henker grinste. »Ich bin alt und habe einen Ruf zu verlieren. Wer nimmt mich schon noch ernst, wenn ich nicht bei euch mitmache? Und wenn es schief geht, dann hat wenigstens der Tod keine Angst mehr vor mir und holt mich raus aus dieser verdammten Welt, die mich schon viel zu lange ertragen muss.«
Henker schlug mit der Faust auf den Tisch und sah in die kleine Runde. »Was auch immer ihr vorhabt, ich bin an eurer Seite und werde vor keiner Gefahr weichen.«
Die beiden Piratenbräute, Enterhäkchen und Paul setzten sich zu Henker an den Tisch. Gemeinsam arbeiteten sie an einem Plan, um das Piratenhandwerk zu retten. Noch waren sie ganz zuversichtlich.