"... schuldig im Sinne der Anklage. Das Urteil lautet: drei Jahre Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung."
Nun war es also passiert. Ich würde nicht mehr freikommen und den Rest meiner Tage in Einzelhaft verbringen müssen. Das war schon vor dem Urteil abzusehen - ich war selbst schuld. Als ich meinen Reisepass erhielt, hatte ich schließlich den obligatorischen Stillschweige-Schwur geleistet und war über die Konsequenzen eines Eidbruchs belehrt worden. Dass ich dann betrunken in dem kleinen Bistro in Paris trotzdem über die Fußball-WM geredet habe, war eindeutig falsch; und nun galt es, den Preis dafür zu zahlen.
Angefangen hatte alles vor vierzig Jahren bei der WM 2006. Deutschland war bis zum Halbfinale in einer unglaublichen Feierlaune. Die Wirtschaft sprang wieder an, die Leute gaben Geld aus und man konnte die Euphorie förmlich spüren. Das Aus gegen Italien hatte all das schlagartig beendet.
Frau Merkel, die damalige Kanzlerin, hatte wie üblich konsequent gehandelt. Schluss mit der Globalisierung, zumindest was den Fußball betrifft! Die vier Jahre bis zur WM in Südafrika hatten ausgereicht um alles vorzubereiten. Die Spiele wurden digital "geschönt". Ein Zeitversatz von 10 Minuten gegenüber der "Echtzeit" reichte für die Virtual-Reality-Experten aus - Gegentore gab es für die deutschen Zuschauer nicht mehr, die Spiele wurden gerechnet wie einst die Dinos in Jurassic Park. Wir wurden Weltmeister! Obwohl die deutsche Mannschaft in Wahrheit schon im Achtelfinale ausgeschieden war. Die Computer hatten alle weiteren Spiele komplett gerechnet und nichts anderes wurde im TV übertragen. Deutschland war selbstsicher und die Wirtschaft boomte!
Das alles hatte natürlich weitreichende Konsequenzen. Ein unglaubliches Zensursystem wurde installiert - Internet-Überwachung und TV-Satellitenstörung, Telefon-Abhörsysteme, das ganze Programm. Jede denkbare Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit Ausländern wurde ausgelotet, alle Lücken wurden gestopft. Man hatte sogar eine neue Seuche, die Rattengrippe, erfunden (auch die gab es nur im Computer) um den Deutschen die Auslandsreisen abzugewöhnen, oder zumindest in abgeschotteten "virenfreien" Anlagen unterzubringen. Mit deutscher Gründlichkeit hatte man das gewaltigste Zensurprojekt der Geschichte durchgezogen.
Natürlich gab es kleine Lücken. Gerüchte machten die Runde - die allermeisten Deutschen taten diese aber als absurde Spinnerei ab. Schließlich wollte jeder an die WM-Titel glauben.
Die Abschottung konnte selbstverständlich nicht vollständig durchgesetzt werden. Bei aller Rückbesinnung auf den Binnenmarkt brauchte man Exporte, und dazu waren Geschäftsreisen notwendig. Auch ich musste beruflich nach Frankreich und hatte dazu eine Genehmigung erhalten. Das war nicht leicht, aber die Seuche wurde als Grund für die scharfe Kontrolle der Grenzen genannt und das Notfallgesetz nicht weiter hinterfragt - auch ich dachte mir nichts dabei. Aber bei der Abholung meines Passes ging es dann zur Sache: Ich wurde in ein Konferenzzimmer geführt und man offenbarte mir die unglaubliche Wahrheit. Seit dreißig Jahren gab es keine "echte" WM mehr, auch alle anderen Staaten hatten das deutsche Modell übernommen! Die WM spielte sich in über vierzig nationalen Varianten nur noch in den Computern ab. Jede Fußballnation hielt sich für den absoluten Dauer-Weltmeister! Die Notwendigkeit, echte Spiele zu veranstalten, hatte sich erledigt.