Für einen der beiden Männer, die durch den tiefen Schnee stapften, sah der Sternenhimmel über den Feldern genauso aus wie immer. Dem anderen schien es plötzlich, als hätte sich ein beinahe knopfgroßes, wie weichgoldenes Mondlicht schimmerndes Loch im Nachthimmel aufgetan.
"Siehst du das Licht dort oben?", fragte der Vater.
"Was für ein Licht? Ich sehe nur Sterne."
"Wir laufen geradewegs darauf zu.
"Du meinst den Abendstern. Er ist der hellste am Nachthimmel."
"Nein, nein!", widersprach der Vater ungeduldig. "Den Abendstern kenne ich auch. Aber diesen großen Stern habe ich noch nie zuvor gesehen."
Sie waren stehen geblieben. Der Vater hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Es war, als hätte ein ferner Planet ihn ganz in seinen Bann gezogen.
Mit den Augen suchte Lukas den Nachthimmel ab. Doch er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
Endlich löste sich der Vater aus der Faszination des strahlenden Lichts, das er sah. "Lass uns nach Hause gehen", sagte er. "Ich bin sehr müde."
Schweigend liefen sie weiter durch die Nachtstille. Nur das Knirschen ihrer schweren Schuhe im harschen Schnee war zu hören.
Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, blieb der Vater noch einmal stehen. "Schau nur", sagte er fast andächtig, "der hell leuchtende Stern steht genau über unserem Haus."
Doch der Sohn sah nur den Himmel, der gesprenkelt war mit dem mattsilbernen Staub unendlich weit entfernter Himmelskörper, und darunter ihr kleines Haus, das im tiefschwarzen Schatten hoher Tannen lag. Ihm wurde unheimlich.
"Lass uns schnell hineingehen", sagte er.
"Ja, lass uns hineingehen. Mir ist kalt bis ins Mark."
Noch in derselben Nacht starb der Vater an Herzversagen.
Hatte er etwas geahnt? Das fragte sich Lukas manchmal, wenn er an die merkwürdigen Worte seines Vaters zurückdachte. Oder hatte der Tod, der schon die Arme nach ihm ausstreckte, seine Sinne verwirrt?
Im Laufe der Jahre verblasste die Erinnerung an diesen letzten Nachtspaziergang mit seinem Vater. Dann aber besuchte Lukas seinen ältesten Freund, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte. In einer warm duftenden Sommernacht saßen sie zusammen auf der Terrasse. Beide waren sie bedrückt und bemühten sich, es vor dem anderen zu verbergen.
"Weißt du noch, wie wir fast jeden Morgen zu spät in die Schule kamen, weil wir noch so viele Dinge zu bereden hatten?", fragte Lukas.
Sein Freund lachte leise. "Unsere Eltern haben uns schließlich schon ganz früh von zu Hause losgeschickt, aber es nützte nichts."
Lukas lachte nun auch. "Und die Ermahnungen der Lehrer, die Tadel - die haben auch nichts bewirkt."
Der Freund wurde ganz plötzlich still. "Schade", flüsterte er, "dass unser Lebensweg uns so weit auseinander geführt hat."
Sie schwiegen.
"Dann wäre ich wenigstens nicht so allein gewesen", fügte er schließlich hinzu. Er fröstelte.
"Soll ich dir eine Decke holen?"
"Nein, danke. Aber reich mir bitte mein Glas Wasser."
Vorsichtig nahm der Freund einen Schluck. Danach schob Lukas den Rollstuhl noch etwas näher an den Tisch heran.
Sein Freund wollte gerade etwas sagen, als er stockte und wie gebannt nach oben starrte.
"Was ist? Was hast du?", fragte Lukas beunruhigt.
"Siehst du das Licht dort am Himmel?"
Noch ehe Lukas richtig begriff, lief ihm eine eisige Gänsehaut über den Rücken. "Was für ein Licht?", fragte er.
"Es steht genau über uns. Siehst du es denn nicht?"
Aber Lukas konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. "Meinst du den Abendstern?", fragte er.
Sein Freund schüttelte den Kopf. "Nein, diesen großen, hell leuchtenden Stern habe ich noch nie zuvor gesehen."
Schaudernd sah Lukas, wie der schmächtige Mann im Rollstuhl seinen Blick nicht mehr vom Himmel abwenden konnte. Leicht berührte er ihn an der Schulter. Der Freund schrak zusammen und wandte ihm sein Gesicht zu. Seine Augen waren erfüllt von ungläubigem Staunen.
"Lass uns ins Haus zurückkehren", sagte er. "Ich bin sehr müde."
Der Freund starb in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages.
Von da an konnte Lukas das magische Himmelslicht nicht mehr vergessen. Er sprach zu niemandem darüber. Eine Art heilige Scheu hielt ihn davon ab. Aber er war überzeugt, dass dieser Stern über jedem Menschen aufging, dessen Todesstunde nahte. Niemand hatte dieses Geheimnis bisher enthüllen können. Vielleicht war die Zeit, die den Todgeweihten blieb, zu kurz bemessen. Oder aber sie hatten die Bedeutung dieses Zeichens nicht erkannt. Nur er, Lukas, war dem Mysterium durch Zufall auf die Spur gekommen.
Doch er trug schwer an seinem Wissen, denn die Nacht erfüllte ihn nun mit Furcht und Entsetzen. Kaum dass die Dämmerung einsetzte, flüchtete er sich in sein Haus, und noch ehe der Abendstern aufging, ließ er alle Rollläden herunter. Kein Lichtstrahl konnte von außen in sein Haus eindringen.
Seine Erinnerung an silbrigen Sternenstaub und an die hart funkelnden Diamanten, mit denen der Mantel der Nacht so reich besetzt ist, wurde immer schwächer. Auch kannte er bald nur noch das blasse Abbild des Mondes am Taghimmel. Er vergaß, wie nächtliche Dunkelheit schmeckte und wie sie sich anfühlte, wenn sie kühl über das Gesicht strich.
So bemerkte er nicht, wie sich einige Zeit später ein beinahe knopfgroßes, wie weichgoldenes Mondlicht schimmerndes Loch in dem tintenschwarzen Tuch auftat, das die Nacht auch über sein Haus gebreitet hatte.