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德语故事:Elfenlied

时间:2009-11-27来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
(单词翻译:双击或拖选) 标签: 故事 德语 und die der er sie
Durch das weit offen stehende Fenster schaute Joni auf das Land hinter dem Haus. Der Mond war aufgegangen, von hier jedoch nicht zu sehen. Aber jenseits des Schattens, welchen das flache Gebäude warf, lag sein silbriges Licht auf allen Dingen. Direkt unter dem Fenster führte ein Weg an der Hauswand entlang bis zum ehemaligen Gemüsegarten und weiter zum Fluss hinunter, wo seine Mutter immer die Kleider und das Bettzeug wusch. Jenseits des Weges sah Joni den Schweinepferch. Das Gatter stand weit offen, ein paar der klobigen Bretter der Einfriedung waren herausgebrochen, und der morastige Boden, in dem sich die Borstentiere so gerne suhlten, längst eingetrocknet und von langen Rissen durchzogen. Und dahinter lag sie, seine Wiese und wartete.
Seit vier Jahren wartete sie, dass er wieder zu ihr kam. So lange lebte er in der Stadt bei seinem ungeliebten Onkel. Und fast drei Jahre waren nun vergangen, seit seine Eltern von einer unheimlichen Seuche dahingerafft wurden. Und mit ihnen alle anderen, die hier im Dorfe lebten. Sein Onkel hatte ihm diese schlimme Nachricht lange vorenthalten. Erst im vorigen Jahr, einen Tag vor seinem fünfzehnten Geburtstag, erfuhr Joni, dass er ein Waisenknabe war - ohne Eltern, ohne Heimat. Er wollte unbedingt in sein Dorf zurück, jedoch sein Onkel - eigentlich kein böser, aber ein sehr strenger Mann - verlangte, dass er zuerst die Schule fertig machen musste. Alles Betteln half nichts.
"Du willst doch nicht dein ganzes Leben Schweine mästen und Korn anbauen, wie mein Bruder, dein Vater? Mach die Schule, dann kannst du bei mir als Gehilfe anfangen. Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass dies alles mal dein sein wird. Also reiß dich zusammen. Nach der Schule fahren wir hin und schauen uns die Sache an. Ich muss sowieso euren Hof verkaufen. Wird schwer genug sein, denn bisher traut sich kaum einer in diese Gegend zurück."
So hatte der Onkel immer gesagt, wenn Joni ihn bat, heimgehen zu dürfen. Und weil er ein artiger Junge war und den Zorn des Onkels nicht ohne Grund fürchtete, schloss er die Schule mit gutem Erfolg ab.
Heute, am späten Nachmittag, waren sie aus der neunzehn Meilen entfernten Stadt Helwald angekommen. Der Onkel hielt in der Tat sein Wort. Nur er und Joni hatten die beschwerliche Reise durch den Knüppelwald auf der schlechten Straße unternommen. Joni wäre nur allzu gern geritten, aber Onkel Winburg bestand darauf, den zweispännigen Wagen zu nehmen. Natürlich, so mutmaßte der Knabe, um ein paar Dinge aus seinem Elternhaus fortzuschaffen. Der Onkel war ein reicher Kaufmann - und ein guter Teil seines Reichtums rührte nicht nur von seinem Talent her, ein gutes Geschäft zehn Meilen gegen den Wind zu wittern. Die Leute in der Gegend munkelten, sein immenser Geiz trage mindestens genauso viel dazu bei. Die Straße durch den Wald war schlecht, überhaupt die letzten Meilen, seit dieses Stück schon fast drei Jahre nicht mehr benutzt und ausgebessert wurde. Joni taten alle Knochen im Leibe weh, als er vom Kutschbock sprang. Onkel Winburg hingegen schien bester Laune zu sein. Er stand in der breiten Hofeinfahrt und blickte sich um.
"Joni, ich sag dir was. Man könnte einen guten Preis bekommen für so ein schönes Anwesen, wenn ..."
Er ließ den Satz unvollendet und seufzte schwer. Joni sprach ihn in Gedanken fertig:
"... wenn endlich die Leute ihre Angst vor der Seuche ablegten und herkämen, um all die leerstehenden Höfe und Häuser zu kaufen."
Ob ihm der Onkel wohl etwas von dem Gewinn abgeben würde? Kaum, und er würde ihm seinen Anteil mit dem Hinweis verweigern, dass er dereinst ohnehin alles erbte. Das zumindest stand mit großer Sicherheit zu erwarten. Denn der Onkel Winburg und Tante Delma hatten keine Kinder. Und wenn das Schicksal nicht ganz verrückt spielte, mochte das auch so bleiben. Der Onkel war über sechzig. Tante Delma nur zwei Jahre jünger. Sie liebte Joni wie ihr eigenes Kind, und sie war es auch, die ihm manchmal ein kleines Silberstück zusteckte. Heimlich, wie man sich denken kann. Wie gesagt, Onkel Winburg war kein schlechter Mann, aber einen Jüngling zu verwöhnen, das sprach gegen das, was er unter Erziehung verstand. Irgendwann mal würde es ihm Joni schonend beibringen müssen. Bauer zu sein, das reizte ihn ja wirklich nicht. Aber er wollte auch kein Kaufmann werden wie der Onkel. Lesen und schreiben zu können, das schätzte er schon, doch was damit anfangen?
Er trat vom Fenster zurück und seine tastenden Hände suchten und fanden das Bett. Rasch zog er sich aus und legte sich hin. Wie gut tat es doch, endlich wieder in seinem Zimmer zu sein und in seinem alten Bett zu liegen. Ein wenig klein war es ihm geworden und seine nackten Füße schauten unter der Bettdecke hervor und ragten ein Stückchen über den Rand der Matratze hinaus. Mit einem zufriedenen Lächeln um den Mund schlief er ein. Morgen würde er seine kleinen Freunde wiedersehen.
Der Onkel weckte ihn kurz nachdem die Sonne aufging.
"Geh zum Wagen und hol uns was Anständiges zu essen!", rief er ihm durch die Türe zu. Während Joni sich anzog, hörte er, wie im Haus Schubladen auf- und zugezogen und schwere Möbel verschoben wurden. Onkel Winburg machte Bestandsaufnahme, wie er so was zu nennen pflegte. Der Junge schlüpfte in die Schuhe und - einer spontanen Erinnerung aus seiner Kindheit folgend - kletterte er durch das Fenster ins Freie. Rasch lief er hinab zum Fluss und wusch sich. Das Wasser war kalt, zu kalt für die Jahreszeit. Als Kind hatten er und seine Freunde oft hier gebadet. Heute kam es ihm zu frisch dafür vor.
"Wo bleibt das Essen?", klang es ungeduldig aus dem Haus. Joni lief zurück, schlüpfte durch die schief in den Angeln hängende hintere Pforte in den Hof. Er überquerte ihn und trat durch die Einfahrt auf die staubige Straße. Der Wagen stand noch immer vor dem Haus. Nur die Pferde hatten sie gestern schon auf eine Weide in der Nachbarschaft gebracht, wo der Zaun noch halbwegs vertrauenswürdig ausschaute. Joni wuchtete einen schweren Beutel von der Ladefläche und schleppte ihn ins Haus.
"Hier kommt das Frühstück, Onkel.", sagte er und begann, in dem Sack zu wühlen. Er holte Schinken, Brot, harten, rötlichen Käse und einige Äpfel hervor und legte sie auf den Tisch.
"Pass doch auf", schimpfte der Onkel, "du bringst mir noch die Papiere durcheinander!"
Auf der Tischplatte lagen einige Dokumente ausgebreitet. Winburg nahm sie rasch an sich und trug sie hinüber zu einer Kommode, wo er sie in einer Lade verstaute. Überall auf dem Fußboden lagen Dinge herum, die seinen Eltern gehörten. Kleidungstücke, arg von den Motten zerfressen sah Joni zwischen verstaubten Büchern, allerlei Kleinkram und Geschirr. Sein Onkel war schon dabei, das Brauchbare von dem zu trennen, das in den Jahren Schaden davon getragen hatte.
"Wie ein Plünderer.", dachte Joni und fühlte ein wenig Ärger in sich aufsteigen.
"Das meiste Zeug taugt nichts mehr und man muss es wegschmeißen!", erklärte ihm der Onkel mit vollem Mund. Joni passte das nicht. Er wollte nichts von dem wegwerfen, das einst seiner Familie gehörte. Das Frühstück verlief einsilbig, weil Joni schlechte Laune hatte und sein Onkel schon wieder auf ein Blatt Pergament schrieb. Wie nebensächlich aß er dabei. Joni fiel auf, dass danach kein noch so winziger Krümel auf der Tischplatte zurückblieb. Winburg war in allem, was er tat, ein äußerst gewissenhafter und ordentlicher Mensch. Joni nicht.
"Such dir einen Lappen und putz den Tisch! Schau nur, was für eine Schweinerei du wieder hinterlassen hast!", schimpfte der Alte und Joni fing an, innerlich zu kochen. Er mochte seinen Onkel nicht, weil er seine Art zu leben, nicht mochte. Aber er respektierte ihn als seinen Vormund - und er fürchtete ihn ein wenig.
Es wurde Mittag, bis er endlich alles erledigt hatte, was ihm der Onkel auftrug. Kisten musste er aus den Kammern in die große Stube schleppen, Bücher und Pergamente sortieren und Geschirr, Besteck, Töpfe und Pfannen putzen. Winburg hieß ihn, einen Berg alter Kleider, Bettzeug und zerfressener Teppiche neben dem Bach verbrennen. Joni gehorchte mit wachsendem Widerwillen. Die ganze Zeit waren seine Gedanken auf der Wiese. Viel hätte nicht mehr gefehlt, und er wäre einfach hingelaufen und hätte seinen Onkel die Arbeit alleine tun lassen. Doch dann rief dieser:
"So, das reicht vorerst. Ich lege mich eine Stunde aufs Ohr! Mir ist es zu heiß zum Mittagessen, also fang ohne mich an. Aber wisch den Tisch nachher sauber, hörst du?"
Der Onkel zog sich in das ehemalige Schlafzimmer seiner Eltern zurück, um seinen wohlverdienten Mittagsschlaf abzuhalten. Joni verzichtete gleichfalls auf Speise und Trank. Jetzt war es endlich soweit. Durch das Fenster seiner Kammer kroch er heute schon zum zweiten Mal aus dem Haus. Er umging den Schweinepferch und nun lag die Wiese vor ihm.
Etwas stimmte nicht! In dem Moment, wo er die Wiese betrat, hätte er sie sehen müssen.
"Wo seid ihr? Ich bins, Joni! Hört ihr mich nicht?"
In den Blättern der Bäume, die den nahen Bach umstanden, raunte leise der Wind. Eine Amsel saß auf dem Zaun des verwilderten Gemüsegartens und schimpfte zu Joni herüber. Schmetterlinge taumelten zwischen den Blüten wie heimatlose Seelen umher. Und überall war das Brummen der Hummeln und das Gesumm der Fliegen.
Aber das, was Joni hören wollte, wonach er sich all die Jahre gesehnt hatte, das vernahm er nicht. Für seine Ohren herrschte eine entsetzliche Stille, hier am Wiesenrand. Denn das leise, gläserne Singen, das er als Kind so oft vernahm, war verstummt.
Noch einmal rief er. Wieder kam keine Antwort und auf einmal wusste er es:
Sie waren fort.
Genauso wie sein Vater, seine Mutter. Wie Nachbar Bertham und seine große Familie. Wie all jene, die er einst kannte.
Aber SIE mussten doch noch da sein! Oder hatte die Seuche auch ihnen ein jähes Ende bereitet? Joni sank in die Knie, dann setzte er sich ins duftende, lange Gras, schlug die Hände vors Gesicht und hob an, bitterlich zu weinen. Der ganze Schmerz kam auf einmal hoch. Sie waren ins Dorf gekommen, durch dessen menschenleere Straßen gefahren, und Joni hatte außer einem seltsamen Gefühl der Beklemmung nichts gespürt. Selbst als er das Elternhaus betrat, als er in seiner Kammer schlief, war der Schmerz nur ein dumpfes Pochen in seiner Brust gewesen. Aber nun erwachte wieder das ganze Leid über den Verlust seiner Familie, seiner Freunde und der Elfen. Denn er hatte sie gesehen, wie sie um die Blumen geschwebt waren. Niemand sonst konnte mit ihnen reden und ihren Liedern lauschen. Als er noch ganz klein war, hatte er davon seinen Eltern und Spielkameraden erzählt. Doch man glaubte ihm nicht und lachte ihn aus. Sein Vater machte sich große Sorgen um den Geisteszustand seines Sohnes und war froh, als ihm sein Bruder anbot, Joni zu sich nach Helwald zu holen und ihn dort in die Schule zu stecken.
Joni wollte nicht aufhören, zu weinen. Seine Tränen fielen ins Gras und glänzten fast so hell und schön wie die winzigen Elfenkörper, die früher immer um ihn herumtanzten, kaum dass er die Wiese betrat. Nicht einmal ein Grab gab es von seinen Eltern. Die Leute, die nach der Seuche ins Dorf gekommen waren, erzählten davon, dass man die grausig entstellten Leichen so rasch es ging verbrannte. Das Vieh trieb man fort und seither mied man diesen Ort. Eigenartig war nur, dass außer Jonis Dorf die ganze Gegend von der Seuche unbehelligt geblieben war. Was für eine Krankheit mochte das sein, die ein einziges Dorf ausrottete - und die Blumenelfen?
"Joni, komm her, bitte!" Der Ruf seines Onkels riss den Jungen aus seinen düsteren Überlegungen. Hatte er soeben das Wort BITTE gehört? Onkel Winburg verwendete es doch sonst nie, wenn er mit ihm sprach. Joni rappelte sich aus dem Gras hoch, wischte sich die Tränen mit dem Ärmel seines Hemdes von den Wangen und ging langsam zum Haus zurück.
Er fand seinen Onkel in der Stube, über ein Stück Pergament gebeugt, am Tisch sitzen. Als Joni eintrat und der alte Mann aufblickte, glaubte er, in seinem Gesicht eine Mischung aus Schmerz und Fassungslosigkeit zu erkennen. So hatte Onkel Winburg noch nie dreingeschaut.
"Setz dich, Joni!", forderte er ihn auf, und der Knabe war fast bestürzt über die Brüchigkeit dieser Stimme. Alle Berechnung und Strenge war daraus gewichen. Winburg tippte mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf das Dokument und sprach:
"Ich habe im Schlafzimmer deiner Eltern das da gefunden. Hör mal, was hier steht!"
Joni hatte Platz genommen und überlegte, was sein Onkel wohl gefunden haben mochte. Ein Testament, das jemand anderen als Joni oder Winburg als Erben benannte? Sein Onkel schob das Blatt ein wenig von sich fort, bis er mit seinen weitsichtigen Augen die Buchstaben erkennen konnte und las vor:
"Winburg, ich bin sicher, dieses Schreiben fällt dir dereinst in die Hände. Zumindest wenn die Ereignisse, vor denen ich gestern gewarnt wurde, wirklich eintreffen, musst du es finden. Ich muss mich kurz fassen, also, wo fange ich an? Joni hat als kleines Kind doch immer davon geredet, wie er mit den Elfen sprach. Du erinnerst dich, ich hab dir davon erzählt. Gestern Nacht hab ich sie auch gesehen. Du magst mich für verrückt halten, Winburg, aber sie waren da. Direkt vor meinem Fenster, im Fliederstrauch, und sie riefen meinen Namen. Hab sie fast nicht verstehen können, so leise und fremd war ihr komischer Singsang. Aber soviel verstand ich dennoch. Die kleinen Geschöpfe sagten, ich müsse sofort am nächsten Morgen meine Frau nehmen und fortgehen, weil großes Unheil über das Dorf kommen wird. Ich dürfe niemandem etwas davon erzählen, auch keinen warnen, denn das Unheil würde dadurch nur noch größer. Sie wollen uns noch heute an einen sicheren Ort bringen, wo wir auf den Rest von ihnen warten sollen. Dann würden sie mit uns gehen und uns den Weg zeigen. Darum kann ich dir jetzt, wo ich das schreibe, auch nicht sagen, wohin uns die Reise führt. Winburg, ich muss Schluss machen, denn ich höre die Elfen draußen singen. Ich hoffe, wir sehen uns einst wieder. Grüße Joni von mir und Elga.
Dein dich liebender Bruder Massim."
Als Winburg fertig war und zu seinem Neffen blickte, sah dieser Tränen in den Augen des alten Mannes.
Joni schluckte, als er fragte:
"Was bedeutet das, Onkel Winburg?"
"Das könnte heißen, dass deine Eltern noch leben." Dabei erhob er sich, und zu Jonis allergrößter Überraschung kam er zu ihm hin und umarmte ihn. Dann weinten sie beide. Der alte, harte Mann und der Knabe, der geglaubt hatte, seine Eltern für immer verloren zu haben. Joni fragte, als ihn Winburg wieder losließ:
"Aber wenn sie noch leben, wo sind sie dann?"
Winburg seufzte schwer:
"Wenn ich das wüsste, mein Junge. Glaub mir, ich habe sehr um meinen Bruder und meine Schwägerin getrauert. Und nun diese Hoffnung! Aber das alles ist jetzt drei Jahre her, und wir haben kein Lebenszeichen von ihnen erhalten, in all der Zeit. Ich will nicht, dass du dir zu große Hoffnung machst. Komm, Joni, pack deine Sachen, wir fahren heim!"
In diesem innigen Ton hatte der Onkel noch nie mit ihm gesprochen. Joni war ganz verwirrt. Er stand auf und ging in seine Kammer. Zuerst schloss er das Fenster, dabei lief sein Blick hinüber zur Wiese, die so schrecklich verlassen dalag, trotz der üppigen Blumenpracht eines heißen Sommers. Er nahm seine paar Habseligkeiten aus dem Schrank und steckte sie in einen großen Sack. Als er zurück in die Stube kam, war sein Onkel reisefertig.
"Wir lassen alles hier", sagte er, "nur das Schreiben deines Vaters nehmen wir mit. Kommst du?"
Während Winburg das Haus abschloss, lief Joni die Pferde holen.
Der miserable Weg durch den Knüppelwald war eine Tortur für Mensch und Pferd. Zum Glück hielt der Wagen durch. Wenn sie in der Dunkelheit ein Rad verloren oder die Achse brach, dann hieß das, zu Fuß durch diese wilde Gegend weiterzugehen. Es gab Bären und Wölfe im Wald. Und falls an den Sagen und Schauergeschichten, welche die Holzfäller und Jäger mit nach Helwald brachten, etwas dran war, auch Hexen und Kobolde. Der Knüppelwald galt allgemein als eine verruchte Gegend. Als sie ihn glücklich hinter sich gelassen hatten, fehlten nur noch gut sechs Meilen bis zur Stadt. Joni erkannte seinen Onkel nicht wieder. Denn der lenkte den Wagen in den Hof eines Wirtshauses und führte seinen Neffen an einen Tisch unter freiem Himmel. Er bestellte zu essen und zu trinken. Zum ersten Mal erhielt Joni einen Becher Wein. Was war los mit Onkel Winburg? Geld in einer Schänke auszugeben, nicht mal eine Stunde von zuhause entfernt, war bisher nicht seine Art gewesen. Sie aßen schweigend, zahlten und fuhren weiter. Die Kühle der Nacht tat gut auf der Haut, besonders nach einem so heißen Tag. Wenn bloß die Mücken nicht gewesen wären.
Sie erreichten die Stadt zwei Stunden vor Mitternacht.
 
In den nächsten Tagen sah und hörte Joni nicht viel von seinem Onkel. Dieser verließ frühmorgens sein stattliches Haus, welches nur zwei Straßen vom großen Platz mit dem ehemaligen Königsschloss entfernt stand. Der Hof war vor gut achtzig Jahren von Helwald nach Angmor übersiedelt. Heute beherbergte das stolze Bauwerk die Residenz des Stadtfürsten und die königlichen Archive mit der weithin berühmten Bibliothek. Und Winburg kehrte immer erst spät zurück. Meist war es schon Nacht. Er redete nur wenig, doch soviel wusste Joni. Winburg suchte nach Informationen, die Blumenelfen betreffend. Tante Delma meinte, ihr Mann wäre dabei, den Verstand zu verlieren. Er, der beinharte, nüchterne Händler, auf der Suche nach Körnchen von Wahrheit in alten Fabeln. Dass er nach wie vor nicht an Zauberwesen glaubte, davon war sie überzeugt. Umso mehr wunderte sie sich darüber, dass er stundenlang in der königlichen Bibliothek alte Schriften durchstöberte.
"Weißt du, Joni, der alte Winburg ist gar nicht so ein harter Bursche, wie er selber immer geglaubt hat. Er hat schon sehr darunter gelitten, als er erfuhr, dass deine Eltern ums Leben kamen, doch zugegeben hätte er es um nichts in der Welt, nicht mal vor sich selber. Er hat sich verändert, der Gute, seid ihr wieder zurück seid. Und ich glaube, nicht zum Schlechten. Stell dir vor, was er gestern Abend sagte: Ganz egal, was es mich kostet, ich finde Elga und Massim!"
Die Tante stellte ein Teller mit Kuchenstücken auf den Tisch. Kuchen gabs bisher doch auch nie unter der Woche. Sie bemerkte seinen erstaunten Blick und lachte:
"Ja, ich sagte es dir doch. Mein lieber Winburg hat sich sehr zum Guten gewandelt. Er hat zu mir gesagt, wir hätten es nicht nötig, zu sparen, denn mitnehmen in die andere Welt könne niemand etwas. Unglaublich, was? So was aus seinem Mund zu hören. Aber er war stocknüchtern, als er so redete. Mir ist es recht. Weißt du, Joni, mein Mann ist einer der Reichsten in der Stadt, aber du hast es ja selber erlebt, wie geizig er war und wie einfach wir lebten. Ich finde, es schadet nicht, ein wenig zu prassen auf unsere alten Tage."
Wieder lachte sie.
Jedoch - auch wenn Winburgs Geiz verschwunden war, auch wenn er fast so etwas wie Wärme ausstrahlte - glücklich schien er nicht zu sein. Wenn er spät nach Hause kam, dann blieb er einsilbig und in seinem Blick lagen Hoffnungslosigkeit und Trauer. Joni spürte, dass sein Onkel verzweifelt etwas suchte, das er noch nicht gefunden hatte. Dann blieb er überhaupt drei Tage fort. Nicht einmal Tante Delma konnte sagen, wohin er gegangen war. Aber als er dann wieder auftauchte, staubig, durstig und verschwitzt von einem langen Ritt, hatte sich seine Stimmung geändert. Er kam in die große Eingangshalle seines Hauses, wo Joni und seine Tante an einem niedrigen Tisch saßen und plauderten, und rief:
"Joni, ich hab Neuigkeiten!"
Er wollte sich zu ihnen setzen, aber seine Frau stellte sich ihm in den Weg und schimpfte, aber ein Lachen klang dabei mit:
"Halt, mein Freund! Mit den schmutzigen Kleidern setzt du dich nicht auf das schöne Sofa! Und schau nur, wie dreckig deine Schuhe sind. Du hast es doch oft genug erwähnt, wieviel der Teppich gekostet hat, auf dem du nun stehst."
Da begann Winburg schallend zu lachen, drückte seiner verdutzten Frau einen lauten Schmatz auf die Stirn und verließ die Halle. Eine halbe Stunde später kam er zurück, gebadet, mit frischen Kleidern am Leib und einem Grinsen um die Lippen.
"Darf ich mich jetzt zu euch setzen?", fragte er. Joni staunte immer mehr. Wann sah er je den Onkel lächeln? Und vor einer halben Stunde hatte er sogar laut gelacht. Unfassbar. Winburg selbst schien seine eigene Wandlung nicht aufzufallen, und ganz offensichtlich fühlte er sich nicht unwohl, so als neuer Mensch. Er schenkte Wein für alle drei ein - auch etwas, das es in diesem Hause früher nicht gab - und dann sagte er:
"Ich war beim Zauberer auf dem Krähenberg!"
Seine Frau stieß einen leisen Schrei des Erschreckens aus. Der alte Magier, der dort oben in der Einschicht des Berges hauste, galt als verschroben und unzugänglich. Ihn suchte man nur dann auf, wenn von keiner anderen Seite mehr Hilfe zu erhoffen stand. Insgeheim bewunderte Joni seinen Onkel für den Mut und die Überwindung, welche ihn solch ein Gang gekostet haben musste. Elga, wieder zu Fassung gekommen, weil sie ja mit eigenen Augen sehen konnte, dass ihrem Mann nichts passiert war, fragte:
"Na und, hast du was erfahren?"
"Und ob", antwortete ihr Winburg, und zu Joni gewandt, fuhr er fort:
"Es scheint diese Blumenelfen wirklich zu geben."
Joni musste lächeln:
"Onkel Winburg, es scheint sie nicht nur zu geben, es GIBT sie tatsächlich! Ich habe sie oft genug getroffen, aber mir wollte ja keiner glauben."
"Na gut", sprach der Onkel besänftigend, "du hast also immer recht gehabt. Ich bin jetzt auch geneigt, deinen Hirngesp - ich wollte sagen, deinen Worten Glauben zu schenken. Aber nur um herauszufinden, ob du spinnst oder die Wahrheit sagst, hab ich den schweren Weg auf den Krähenberg nicht unternommen. Ich musste etwas über diese Elfen herausfinden, etwas, das uns weiterhelfen kann."
Jetzt war Joni gespannt auf die nächsten Worte seines Vormunds. Der nahm einen guten Schluck und erzählte dann:
"Ich sag euch was, der Zauberer ist schon ein komischer Kauz. Jedoch leider nicht komisch genug, um nicht den Wert eines Goldstückes zu kennen. Aber er besitzt ein uraltes Wissen um Dinge, die ich mir nie im Leben hätte träumen lassen. Hab eine Menge über die seltsamsten Wesen erfahren, von deren Existenz ich nicht einmal gehört habe. Auf alle Fälle wusste er einiges über das Elfenvolk. Hast du gewusst, Joni, dass die Blumenelfen eigentlich keine richtigen Elfen sind?"
Joni nickte nur. Klar wusste er das, die kleinen Geschöpfe hatten ihm in all den Jahren viel erzählt. Aber nicht alles, wie er sogleich erfahren sollte. Denn Winburg sprach weiter:
"Dachte mir, dass du es weißt. Wo war ich stehen geblieben? Ah, bei dem Elfenvolk. Gut, man nennt sie Blumenelfen, jedoch mit den großen Waldelfen, wie es sie angeblich weiter im Westen noch gibt, haben sie nichts gemein."
Auf einmal wurde seine Stimme leise und düster:
"Sag mal, Joni, weißt du auch etwas über die Blutelfen?"
Joni erschrak. Nicht, dass er dieses Wort je vernommen hätte. Aber das Wort selber war es, das ihn zusammenzucken machte. Blutelfen - ein schauriges, schlimmes Wort. An seinem Gesichtsausdruck sah Winburg genug, um weiterzureden:
"Ist dir neu, was? Jetzt hört mir mal genau zu. Der Zauberer sagte etwa folgendes - im übrigen hab ich alles, Wort für Wort aufgeschrieben: Die Blumenelfen sind freundliche, lustige Geschöpfe, die zwar manchmal gerne Schabernack treiben, aber niemandem ein Leid antun. Im Gegenteil, sie warnen jene Menschen, die in der Lage sind, sie zu erblicken, vor Unwetter oder Erdbeben."
Joni unterbrach ihn:
"So wie sie es bei meinem Vater taten, stimmts?"
Winburgs Stimme war noch eine Spur düsterer geworden:
"Nein, deinen Vater warnten sie - vor sich selber!"
Ein zweites Mal erschrak Joni, diesmal noch heftiger. Er wollte etwas fragen, doch sein Onkel ließ ihm keine Zeit. Er fuhr fort:
"Ja, sie warnten ihn vor sich selber, genauer gesagt, vor ihren Kindern. Denn, wenn der Magier nicht gelogen hat, dann trug sich folgendes zu: Die Blumenelfen sind langlebige Wesen. Etwa alle drei- bis vierhundert Jahre bekommen sie Nachwuchs. Ihre Kinder kommen im Frühjahr zur Welt, wenn die Elfen ihre Winterquartiere tief im Erdboden verlassen. Blumenelfen können die Kälte nicht ertragen und meist verwenden sie verlassene Maulwurfbaue, um sich dort gemütlich einzurichten. Angeblich züchten sie in den Gängen und Kammern eine Art Pilz, dessen Früchte langsam vermodern und dabei Wärme abgeben. Ihre Kinder jedoch führen in den ersten Wochen ein eigenartiges Leben. Zuerst werden sie von ihren Eltern mit Nektar gefüttert, dann aber geht eine Verwandlung in ihnen vor. Sie wachsen sehr rasch, und kurz bevor sie die Größe ihrer Eltern erreicht haben, und um ihre Entwicklung abzuschließen, brauchen sie menschliches Blut."
Wieder ein spitzer Schrei von Tante Delma. Joni gruselte es auf einmal. Er hauchte:
"Das sind die Blutelfen, habe ich recht, Onkel?"
Der nickte und erst nach einer längeren Pause hörte man wieder seine Stimme:
"Ja, das sind die Blutelfen. Sie haben die Leute aus deinem Dorf getötet. Warum sie deine Eltern gewarnt haben, das weiß ich nicht. Der Zauberer meinte, es läge wohl daran, dass du der Freund der Elfen warst und sie deswegen die Deinen verschonen wollten. Aber wieso dein Vater sie sehen und hören konnte, ich weiß es nicht. Der Zauberer meinte noch, dass es das Gesetz der Elfen - oder gar ein Fluch, der auf ihnen lastet - verlange, von dort für immer fortzugehen, wo ihre Kinder den Tod unter uns Menschen brachten. Wohin sie allerdings gingen, vermochte er mir nicht zu sagen. Aber noch was erfuhr ich. Joni, die Elfen auf eurer Wiese, das war das ganze Volk. Nirgendwo sonst auf der Welt leben andere von ihnen. Das kommt mir schon seltsam vor."
Joni nicht, und er sagte:
"Was ist daran seltsam. Onkel? Ich hab sie nie gezählt und auch nicht danach gefragt, aber es müssen viele Tausende von ihnen dort gewesen sein. Vergiss bitte nicht, dass sie winzig klein sind. Vaters Wiese neben dem Bach war, nach ihren Maßstäben gemessen, ein riesiger Kontinent. Ich hab das übrigens gewusst, dass man sie sonst nirgends trifft. Und natürlich auch selber gesehen. Alle anderen Wiesen weit und breit waren elfenfrei."
Winburg tat sich noch immer schwer, all das zu fassen. Er fragte Joni:
"Aber warum lebten sie ausgerechnet hinter eurem Haus?"
"Auch das weiß ich, Onkel. Zum einen brauchen sie zum Leben Wiesen, die selten gemäht werden. Unsere war so steinig, dass Vater sie nur im Herbst mähte. Meine Mutter war froh darüber, hatte sie doch das ganze Jahr über stets frische Blumen. Außerdem sagten sie mir einmal, dass in den Jahrhunderten, die sie hier waren, sie immer auf Mitglieder unserer Familie trafen, die sie sehen und hören konnten."
"Du meinst sicher EURER Familie!", korrigierte ihn Winburg, der mit solcherlei Begabung nicht gerne in Verbindung gebracht wurde. Überhaupt, seit ihm eines klar geworden war: Wenn sein Bruder Massim mit den Elfen reden konnte, dann am Ende auch er. Aber das wollte er um keinen Preis erleben. Ja, er fürchtete sich sogar davor, den Blumenelfen zu begegnen. Einer der Gründe, warum er so rasch aus Jonis Dorf abgereist war, nachdem er Massims Brief las. Der arme Winburg hatte sein Lebtag mit Zahlen zu tun gehabt. Das war etwas Greifbares. Ein verdientes Goldstück konnte man in die Hand nehmen. Dieser Elfenzauber, das war so fremd für ihn, dass er wirklich Angst hatte, sich darauf einzulassen. Aber es ging nicht mehr um ihn, es ging um seinen Bruder, den er immer geliebt hatte. Wie sehr, das war ihm erst klar geworden, als ihm von seinem Tod Kunde gebracht wurde.
"Was tun wir nun?", wollte Joni wissen. Onkel Winburg zuckte mit den Achseln und meinte:
"Nachdenken, und abwarten. Ehe wir nicht mehr wissen, macht es keinen Sinn, loszuziehen und deine Eltern zu suchen. Wer weiß, ob sie noch immer mit den Elfen zusammen sind? Und ich hoffe inständig, ihnen ist nichts zugestoßen auf der Wanderung. Am Ende haben wir Glück und sie kommen hierher, ehe wir uns auf die Suche machen."
"Dann willst du wirklich gehen?", fragte seine Frau, und ihre Stimme zitterte ein wenig dabei.
"Delma, ich MUSS, das bin ich Massim und Elga schuldig. Und du, Joni, wirst mich begleiten müssen. Da du der Einzige bist, der die Elfen sehen kann, brauche ich dich an meiner Seite!"
Damit erhob er sich und zog sich mit der Bemerkung, dass er müde von der langen Reise sei, zurück. Joni und seine Tante blickten sich an. Keiner sagte ein Wort.
 
Joni fieberte von nun an dem Aufbruch entgegen. Jedoch sollte seine Geduld auf eine harte Probe gestellt werden. Onkel Winburg schien mit allem Möglichen beschäftigt zu sein, nur nicht mit den Reisevorbereitungen. Zwei Wochen und ein Tag waren verstrichen, seit er vom Krähenberg heimgekehrt war, als der Zufall in die Geschichte eingriff. Joni saß in der Halle und blätterte lustlos in einem Buch über Fabelwesen, welches Winburg aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Sein Onkel stand an der Türe, fertig angezogen, um auszugehen. Wohin, das hatte er nicht erwähnt. Da vernahm man draußen das langsame Klappern von Pferdehufen. Der Onkel ging hinaus, gerade als der Reiter am Haus vorüberkam. Joni hörte, wie das Pferd stehen blieb und durch die offenen Fenster zur Straße vernahm er eine laute Stimme:
"Entschuldigt, guter Mann, dass ich Euch aufhalte, aber könnt Ihr mir sagen, wo ich eine anständige Herberge finden kann?"
Diese Frage musste Winburg gegolten haben, denn Joni hörte ihn sagen:
"Eine Herberge sucht Ihr? Ihr scheint von weit her zu kommen, guter Ritter ..."
Mehr brauchte Joni nicht zu hören. Ein Ritter! Den musste er sehen. Darum warf er das Buch achtlos auf den Tisch, sprang auf und trat an eines der Fenster. Er schaute hinaus. Er sah ein riesiges, fuchsbraunes Pferd, das nervös mit dem langen Schweif schlug, um die lästigen Fliegen zu verscheuchen. Auf dem Tier saß eine Gestalt, die so eindrucksvoll war, dass Joni einen leisen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnte. Er sah einen Mann mittleren Alters, großgewachsen und kräftig. Langes, blondes Haar quoll unter dem Helm hervor. Ein kantiges Gesicht hatte sich seinem Onkel zugewandt. Joni schaute in dunkelgraue Augen, sah eine große Nase, über welche quer eine dünne Narbe lief und merkte, dass der Mann schlecht rasiert war, aber gewöhnlich keinen Bart trug. Seine Haut war braungebrannt wie bei einem, der die meiste Zeit seines Lebens im Freien verbringt. Wams und Beinkleid waren, der Jahreszeit entsprechend, recht dünn und die Brust bedeckte ein lederner Harnisch. In der Rechten hielt er eine Lanze, die kurz genug war, um sie auch als Speer einzusetzen. Ein langes, breites Schwert hing an seiner Hüfte und ein runder Schild war mittels eines Lederriemens auf den Rücken des Ritters geschnallt. Dieser sagte soeben:
"Verzeiht mir, guter Mann, dass ich Euch belästige, ohne mich erst vorgestellt zu haben. Ich bin Orlan von Shang, einer Stadt weit von hier im Westen. Als fahrender Ritter ziehe ich durch die Lande auf der Suche nach Abenteuern. Ich will versuchen, hier in dieser Stadt am Fürstenhof Arbeit zu bekommen. Doch mein gutes Tier und ich haben einen weiten Weg hinter uns und das, was wir am dringendsten brauchen, sind ein Stall und ein Bett. Darum erlaubt mir, dass ich meine Frage noch einmal stelle!"
Wann hatte Joni zuletzt so einen Recken gesehen? Die Zeiten waren friedlich, und die Ritter aus des Fürsten Gefolge kannte er alle. Keiner war so wie dieser, so, so, er fand den passenden Ausdruck nicht. Helwald war ein wenig an den Rand des Reiches gerückt, seit der König nicht mehr hier residierte. Wirkliche Helden konnte man in Angmor treffen. Darum war das Erscheinen dieses Mannes eine Sensation - zumindest für den Jungen. Wie von weit weg vernahm er seines Onkels Stimme, doch als er den Sinn der Worte erfasste, ließ er das Nachdenken und hörte wieder aufmerksam zu:
"Nun, Herr Orlan, wäret Ihr eventuell geneigt, auch in meine Dienste zu treten. Sagen wir mal, für fünfzig Goldstücke für ein Jahr?"
Zwei Männer reagierten sehr überrascht auf Winburgs Angebot. Zum einen Joni, der den Wert eines Goldstückes wirklich gut kannte. Umsonst lebte er nicht vier Jahre in Winburgs Haus. Für drei bis fünf Goldstücke - je nachdem, wie gut man im Feilschen war - konnte man ein gutes Pferd samt Sattel und Zaumzeug kaufen. Was sein Onkel dem Ritter da anbot, war das Zehnfache von dem, was einer wie er am Hofe eines Fürsten erhielt.
Und der Ritter sah das genauso.
"Ist dieses Angebot ernst gemeint, guter Mann", rief er, "oder wollt Ihr Euch einen Scherz auf meine Kosten machen? Nun, Ihr sollt wissen, dass ich solcherlei Scherze nicht gerade liebe. Aber wenn Ihr es wirklich ernst meint, dann lässt sich darüber reden. Die Frage, ob Ihr imstande seid, die Summe aufzubringen, erübrigt sich, wenn Ihr mir sagt, dass dieses Haus, vor welchem wir stehen, das Eure ist."
Winburg schien geschmeichelt von des Ritters Worten und erwiderte:
"Ja, dieses bescheidene Anwesen gehört mir. Und ich bitte Euch, Herr Orlan: Tretet ein und seid mein Gast. Euer Pferd wird von meinen Dienern in einen guten Stall geführt werden. Und für Euch lasse ich eine feine Kammer herrichten. Ist das ein Wort?"
Der Ritter sprang vom Pferd, lehnte die Lanze gegen das wie versteinert dastehende Tier und streckte Winburg die Rechte hin:
"In der Tat, Mann, das ist ein Wort!"
Aus dem Hause daneben, welches auch zu Winburgs Anwesen gehörte, kamen zwei Bedienstete herbei und führten das Pferd fort. Der Ritter aber folgte Winburg ins Haus und es kam Joni vor, als ginge ein seltsamer Windhauch durch die Halle, als er eintrat.
"Joni, komm bitte her!", rief Winburg, der noch gar nicht mitgekriegt hatte, dass sein Neffe nicht mehr über das Buch gebeugt saß, sondern neben einem Fenster stand und verlegen grinste.
"Darf ich Euch meinen Neffen Jongard vorstellen, Herr Orlan? Eigentlich ist es er, in dessen Dienste zu treten ich Euch bitte."
Der fremde Reitersmann reichte Joni die Hand und zerquetschte ihm die seine fast dabei, so fest war sein Händedruck. Joni war derart verdattert, dass er nur stottern konnte:
"Meine Freunde nennen mich Joni."
Der Ritter lachte:
"Dann wollen wir hoffen, Joni, dass wir zwei auch Freunde werden!"
Winburg brannte darauf, mit dem Ritter zu reden. Dieser aber schien wirklich müde zu sein und bat darum, sich in seine Kammer zurückziehen zu dürfen. Dort verschlief er den Rest des Tages und die ganze Nacht. Am nächsten Morgen erschien er gut gelaunt und frisch rasiert zum Frühstück, und nachdem er allen einen guten Morgen gewünscht hatte, erklärte er:
"Nun, Herr Winburg, bin ich bereit, von Euch mehr über den besagten Dienst zu hören."
Winburg und Joni erzählten ihm von den Elfen, dem Dorf, der Seuche, die gar keine war und vom Verschwinden Massims und seiner Frau. Der Ritter hörte aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen, die Joni zeigten, dass er ein heller Kopf war und dann sagte er:
"Wenn ich das alles richtig kapiert habe, dann geht es auf eine lange Reise. Gut, ich bin dabei. Höret nun meine Bedingungen. Ihr habt mir Gold geboten für die Dauer eines Jahres. Nun, ich akzeptiere die Summe, mit einer Einschränkung allerdings. Falls unsere Mission vor Ablauf des Jahres beendet ist, zahlt Ihr mir trotzdem den vollen Betrag. Sollte sie länger dauern, verlange ich aber nicht mehr als das, was wir ausgemacht haben. Gilt das?"
"Es gilt.", bestätigte Winburg ohne Zögern. Der Ritter fuhr fort:
"Die Hälfte sogleich, den Rest, wenn wir zurückkommen. Und die Reisekosten gehen auf Euch, so bin ich es gewohnt."
"Ich auch.", lächelte Jonis Onkel.
"Wie steht es um Waffen für Euch und den Jungen?", erkundigte sich Orlan. Es stellte sich heraus, dass keine im Haus waren. Und Winburg erklärte, dass er auf gar keinen Fall eine zu tragen gedachte.
"Aber der Junge wird eine brauchen, er ist alt genug, ein Schwert zu führen. Ihr müsst ihm eines besorgen!"
Winburg bat Orlan, dies für ihn zu tun. Mit Schwertern kenne er sich nur insofern aus, dass er wusste, wie viel eines kostete. Orlan wollte nach dem Frühstück nach seinem Pferd sehen. Winburg rief einen Diener, auf dass er den Ritter zum Stall führe. Orlan kam bald wieder und rief, kaum eingetreten:
"Sagt mal, guter Winburg, diese Pferde in Eurem Stall, sind das alle, die Ihr besitzt?"
Winburg nickte und Orlan sprach:
"Dann müsst Ihr auch noch zwei Reittiere besorgen. Von den sechs Tieren in Eurem Stall taugt keines für einen weiten Ritt!"
Seufzend und mit einem Anflug seiner alten Knausrigkeit holte Winburg einen kleinen Beutel Gold aus einer Schublade, zählte fünfzehn Münzen auf den Tisch und sagte:
"Bitte, mein Herr. Nehmt das Geld und kauft zwei Pferde und das, was Ihr an Waffen für meinen Neffen für nötig erachtet! Joni kann Euch begleiten, er weiß, wo der Pferdehändler und der Schmied wohnen."
Jetzt kam Schwung in die ganze Sache, wie Joni erfreut feststellte. Orlan fand zwei gute Pferde, Einen starken Fuchswallach für Winburg und eine eisengraue, leicht gebaute Stute für Joni. Er schaffte es wirklich, für beide Tiere nicht mehr als sieben Goldstücke zu bezahlen. Das würde bei Winburg mächtig Eindruck machen, soviel wusste Joni schon jetzt. Beim Waffenschmied suchten sie lange. Endlich fand Orlan eine Klinge, die seinen Vorstellungen entsprach. Ein langes, aber leichtes Schwert aus feinstem Stahl kaufte er nebst einer passenden Scheide aus dickem Rindsleder. Was man bei den Pferden einsparte, das verlor man hier wieder. Der Schmied war nicht bereit, unter einen bestimmten Preis zu gehen. Diese Klinge sei äußerst gut gearbeitet und in Angmor würde er locker das Doppelte dafür bekommen. Orlan teilte die Meinung des Waffenschmiedes über die Qualität des Schwertes und schaffte es zumindest, dass der Mann noch einen Dolch für Joni dazulegte. Es war Nachmittag geworden, als sie wieder im Hause des Onkels ankamen. Der wartete schon ungeduldig und lief heraus auf die Straße, um die Pferde in Augenschein zu nehmen.
"Was ist an diesen hier anders als bei denen, die ich im Stall stehen habe?", fragte er und ging um die Tiere herum. Orlan lachte laut und klopfte ihm auf die Schulter:
"Das hier, guter Mann, sind richtige Reittiere. Eure Pferde würden nach zwei Wochen tot unter unseren Ärschen zusammenbrechen, das ist der Unterschied."
Dabei drückte er Winburg die restlichen Münzen in die Hand. Der Onkel warf nicht einmal einen Blick darauf. Ohne nachzuzählen steckte er sie in die Tasche seiner Jacke. Das Schwert gefiel ihm schon besser und er erkannte auf der Stelle seinen Wert. Joni war bisher noch gar nicht dazugekommen, es dem Ritter zu sagen. Nun war es höchste Zeit:
"Herr Orlan, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein Schwert in der Hand gehabt. Wozu brauche ich eines, wenn ich gar nicht damit umgehen kann?"
Wieder lachte der Ritter schallend und rief:
"Wir werden lange genug zusammen reiten. Ich bringe es dir schon bei."
"Das gefällt mir aber gar nicht!", brummte Winburg besorgt.
"Es wird Euch gefallen, mein Herr, wenn wir mal in eine Lage kommen, wo ein zweites Schwert ganz hilfreich ist. Ich bin beileibe kein schlechter Kämpfer, habe vor zwei Jahren das große Turnier am Drachenstein gewonnen, wenn Euch das was sagt."
Winburg beeilte sich, ihm zu versichern, dass er von diesem Turnier gehört hatte. Wer dort den Sieg holte, war an und für sich schon ein großer Held.
"Ich mag in der Tat ein Held sein", fuhr Orlan fort, "aber auch ich kann nicht mit allem alleine fertig werden. Darüber müsst Ihr Euch im klaren sein, ansonsten bin ich der falsche Mann für dieses Abenteuer."
"Ihr mögt recht haben", seufzte Winburg, "aber ich sehe es dennoch nicht gerne, wenn der Junge das Kriegshandwerk lernt."
"Ich bin bereit, ein wenig fechten zu lernen!", rief Joni protzig und ahnte noch nicht, was ein wenig fechten lernen heißen konnte.
Am Abend saß man zusammen und nun nahm die Planung der Fahrt feste Konturen an. Auch Winburg war sehr daran interessiert, voranzukommen. Nicht zuletzt deswegen, weil er dem Ritter fünfundzwanzig Goldstücke überreicht hatte, und er nicht wollte, dass einer, den er bezahlte, lange untätig herumsaß. Orlan verlangte die Aufzeichnungen lesen zu dürfen, welche sich Winburg beim Zauberer auf dem Krähenberg gemacht hatte. Er las lange, brummte manchmal ein paar halblaute Worte und rieb sich das Kinn. Dann legte er das Blatt auf den Tisch zurück und seine nächsten Worte sagten Winburg und Joni, dass dieser Held einen scharfen Verstand besaß:
"Wir müssen in den Süden. Blumenelfen brauchen zum Leben die Blüten, nur im Winter leben sie von ihren Vorräten oder schlafen, so genau wusste es der Magier anscheinend auch nicht. Also, auf ihrer Wanderung können sie nirgendwo hingegangen sein, wo bald der Winter ins Haus stand. Deine Eltern, Joni, sind im Frühsommer fortgezogen, wie du mir sagtest. Viel Zeit blieb also nicht und ich verwette mein Pferd, dass man so rasch wie möglich in Richtung Süden marschierte. Ich weiß von Ländern, die gar nicht mal so weit von diesem liegen, dass es dort keinen Schnee gibt und die Blumen das ganze Jahr blühen. Dorthin müssen wir, einen anderen Weg KÖNNEN die Elfen gar nicht genommen haben!"
Das klang in der Tat plausibel und zumindest stand die Himmelsrichtung bereits fest.
"Wann sollten wir Eurer Meinung nach aufbrechen, Ritter Orlan?", erkundigte sich Winburg.
"Wie wärs mit morgen, noch vor Sonnenaufgang?"
Winburgs Frau erhob sich und Joni sah, dass in ihren Augen Tränen schimmerten.
 
Schon in der ersten Woche ihrer Reise war Joni nahe daran, aufzugeben. Er konnte nicht mehr. Nicht das Reiten alleine machte ihm so zu schaffen. Er war nicht schlecht im Sattel und sogar sein Onkel kam ganz gut zurecht. Die Oberschenkel brannten zwar wie Feuer, aber das würde sich geben, wie Orlan ihnen versprach. Wenn sich Winburg am Abend, dort wo sie lagerten, erschöpft auf den Boden legen konnte, ging für Joni die Plagerei erst richtig los. Denn der Ritter hatte es sich in den Kopf gesetzt, einen Schwertkämpfer aus ihm zu machen. Und diese Ausbildung begann er bereits am ersten Tag. Mehr als einmal verfluchte Joni seine voreilige Begeisterung dafür. Orlans Absicht schien es zu sein, ihn zu Tode zu schinden. Kein Teil von Jonis Körper, der nicht blaue Flecken von der Breitseite von Orlans Schwert aufwies und nicht schmerzte, als legte man ihm glühende Kohlen darauf. Aber außer dicken Beulen und blutunterlaufenen Stellen bekam er keinen einzigen Kratzer ab, kein Tropfen seines Blutes floss bei diesen Kämpfen. Der Ritter verstand es wirklich, seine Klinge wie ein Virtuose zu gebrauchen. Er selber würde ein paar Narben zurückbehalten, denn Joni hatte ihn schon mal mit seinem Schwert gekratzt. Was aber am Anfang selten genug vorkam. Erst nach vielen, vielen Stunden gelang es ihm, ab und zu Orlans Verteidigung zu durchbrechen.
"Aus mir wird nie ein Kämpfer!", rief Joni oft verzweifelt. Aber Orlan ließ nicht locker und ermunterte ihn, weiterzumachen. Er sei gut, recht gut sogar für sein Alter. Winburg schaute dem Training mit gemischten Gefühlen zu. Noch immer war er sehr besorgt über die Entwicklung, die sein Neffe nahm. Aber je länger dieser übte, desto öfter spürte der alte Kaufmann so etwas wie Stolz in seiner Brust.
Nachdem sie fünf Tage der Straße nach Süden gefolgt waren, kamen sie an den Nebelsee. Ab hier würden sie durch die Wildnis reiten müssen. Die Straße bog nämlich nach Westen ab, folgte dem Nordufer des Sees und lief dann weiter, bis nach Temm, der südlichsten Stadt des Königreichs Dungard, Winburgs und Jonis Heimat. Die drei Männer hingegen hielten sich an das östliche Seeufer und folgten ihm weiter in jene Richtung, welche ihnen die Sonne zur Mittagsstunde wies. Schlagartig änderte sich die Landschaft. Waren sie entlang der Straße immer wieder durch Dörfer geritten oder an Bauernhöfen vorbeigekommen, so umfing sie nun ein menschenleeres Land. Die Gegend war sumpfig, mückenverseucht und taugte nicht für die Viehzucht oder den Getreideanbau. Der breite Schilfgürtel machte das Ostufer überdies auch für jene, die gerne am Wasser siedelten, wie Fischer oder Korbflechter, nicht einladender. Nur in den Wintermonaten, so berichtete Winburg, kamen Leute hierher, um auf dem zugefrorenen Wasser das Schilf zu schneiden. Über fünfzehn Meilen sumpfigen Bodens lagen vor ihnen, erst dahinter sahen sie die Ausläufer einer nicht sehr hohen Bergkette und konnten damit rechnen, festeren Boden unter die Hufe ihrer Tiere zu bekommen. Fünfzehn Meilen, das kam Joni nicht sehr weit vor. Dennoch brauchten sie fast den ganzen Tag dazu. Es wurde schon dunkel, als das Schmatzen der Hufe im Morast einem harten Klappern wich. Sie galoppierten einen kahlen Hang hinauf und fanden oben ein kleines Eichenwäldchen.
"Hier lagern wir!", rief Orlan und parierte seinen roten Hengst. Hoffentlich waren sie schon weit genug vom Wasser weg, dachte sich Joni, um den Mücken heut Nacht zu entkommen. Als er endlich - es war fast zwei Stunden später - verschwitzt und erschöpft auf seine Decke sank und sein Schwert einfach neben sich fallen ließ, waren ihm die stechenden Insekten egal. Er wollte nur daliegen, die Beine ausstrecken und den Schmerz in Armen und Oberkörper vergessen.
Ein großes Feuer brannte und Winburg beeilte sich, den Proviant auszuteilen. In dem letzten Dorf hatten sie sich mit so vielen Sachen eingedeckt, wie nur möglich. Mehr als für eine Woche ging aber nicht, weil es heiß war und das Essen rasch verdarb.
An diesem Abend stellte es sich heraus, dass keiner von den Dreien je hier war. Das hieß, ab nun fing Neuland für sie an.
Das hieß aber auch, dass ab hier mit unbekannten Gefahren gerechnet werden konnte.
 
Jene Berge, welche sie vom See erblickt hatten, und die ihnen nicht allzu hoch vorgekommen waren, entpuppten sich lediglich als der Vorgeschmack ihres Weges der nächsten Woche. Denn als sie über einen flachen Pass ritten, sahen sie erst, dass sich dahinter eine noch höhere Gebirgskette erhob. Auf einigen Gipfeln glitzerte der Schnee.
"Das müssen die Berge sein, welche man Burbarts Säge nennt.", rief Winburg. Ihre Heimat, das Königreich Dungard lag längst weit hinter ihnen. Das hier musste das Land Cuest sein. Orlan, der aus einer ganz anderen Weltengegend stammte, hatte davon noch nichts gehört. Winburg wusste einwenig, eben das, was man sich so erzählte. Cuest war kein einladendes Land. Der größte Teil angeblich gebirgig, ansonsten nur Steppe und wenig Wald. Nur in einigen Hochtälern war das Klima der Landwirtschaft zuträglich, dort lebten auch die Menschen, deren Lebensgrundlage aus der Schafzucht und dem Anbau von Gerste und Reis bestand. Angeblich gab es keine Städte und auch keinen König. Die Hoheit über Cuest teilten sich verschiedene Stammesfürsten, und es hieß, dass es oft genug zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam. Alles in allem, ein wildes, unwegsames Land, auf dessen hohe Berge sie nun zuritten.
Bald mussten sie feststellen, dass sie Probleme mit der Verpflegung bekommen würden. Wohl gab es Wasser, was in einem Bergland ja zu erwarten stand, aber seit sie den Nebelsee hinter sich gelassen hatten, waren sie keinem Menschen mehr begegnet. Geschweige denn, an einem Gehöft oder Wirtshaus vorbeigekommen, wo man sich mit Nahrung hätte eindecken können. Zwar hatte sich Orlan in Helwald noch einen guten Bogen besorgt, aber sie fanden kaum jagdbares Wild. Einmal sah man, ganz weit über ihnen, große Wildziegen auf einem Schneefeld spielen, doch die Tiere waren so scheu, dass Orlan nicht auf Schussweite herankam. Den langen, mühseligen Aufstieg hätte er sich sparen können. Die Bäche waren hier in den Bergen so seicht und schmal, dass sie keine Fische darin fanden. Was blieb, war ihre wenigen Lebensmittel zu rationieren, ab und zu aufgebessert durch ein Schneehuhn, wenn sie Glück hatten. Aber nicht nur die Reiter darbten, nein, auch den Pferden ging es hier nicht gut. Die wenigen Grasbüschel, die zwischen den Steinen oder auf der grauen Erde wuchsen, waren trocken und hart. Vier Tage irrten sie herum, dann hatten sie das Rückgrat des Landes Cuest überquert und vor ihnen erstreckte sich ein breites Tal. Sie sahen, dass weiter unten grüne Wiesen lagen, ja, sogar ein paar Bäume standen am Ufer eines kleinen Sees, der tiefblau schimmerte.
Und eine Herde von Schafen entdeckten sie auch.
"Jetzt werden wir auf Menschen treffen, hoffentlich sind es friedliche Leute. Du bist noch nicht soweit, Joni, einen richtigen Kampf zu bestehen!" So sagte Orlan und grinste zu dem Jungen hinüber. Er schien sich keine Sorgen zu machen. Schafhirten waren in der Regel nicht sehr kriegerisch. Sie spornten ihre Pferde an und diese liefen nur allzu freudig los. Der Geruch des frischen Grases war schon in ihren Nasen und sie konnten es nicht erwarten, ausgiebig zu äsen.
 
In der Nähe des Sees ordnete Orlan an, die Pferde in den Schritt fallen zu lassen. Überall waren nun die Schafe und man wollte sie nicht versprengen. Das hätte keinen guten Eindruck bei deren Besitzern gemacht, die gewiss irgendwo in der Nähe waren.
Waren sie auch. Denn plötzlich tauchten aus dem Wäldchen vier Männer auf. Joni erschrak ziemlich beim Anblick dieser verwegenen Gestalten. Sie waren groß, alle vier sahen fast gleich aus, als wären sie Brüder. Schwarze Haare, ungewöhnlich kurz geschnitten, dafür umso verwegenere Schnurrbärte, hagere Gesichtszüge, aus denen Entbehrung, aber auch Stolz sprachen. Gekleidet waren sie in grobe Gewänder aus Leder und Schaffell. In den Händen hielten sie lange Hirtenstäbe, aber in ihren Gürteln steckten große, gefährlich aussehende Haumesser. Orlan zügelte seinen Hengst und stieg ab. Mit solchen stolzen Leuten verhandelte man nicht von oben herab, man stellte sich ihnen Auge in Auge gegenüber. Das begriff Joni in dem Moment, als er den Ritter aus dem Sattel gleiten sah. Und er bewunderte Orlan dafür. Immer mehr, so musste er sich eingestehen, wurde der Mann aus Shang sein Vorbild. Er konnte nur hoffen, dass der Onkel nicht zu bald davon Wind bekam.
"Seid mir gegrüßt, Ihr Männer! Erlaubt Ihr mir, Euch ein paar Fragen zu stellen? Wir sind drei Wanderer auf dem Weg in den Süden, um die verschwundenen Eltern dieses Jungen da zu suchen."
Orlans höfliche Rede schien Eindruck zu machen. Einer der Vier, der älteste, trat einen Schritt vor und sprach:
"Willkommen, Wanderer in unserem Tal. Man sieht es Euch und Euren Tieren an, dass Ihr eine entbehrungsreiche Zeit hattet. Wir sind gerne bereit, Euch Antwort auf Fragen zu geben, sofern wir dazu in der Lage sind. Doch zuerst bitte ich Euch, uns zu unserm Lager zu folgen. Eure Pferde sollen derweil gut versorgt werden."
Er stieß einen Pfiff aus, worauf ein paar Kinder lachend aus dem Wald hervorbrachen und neben ihm stehenblieben. Kaum dass auch Joni und Winburg abstiegen und von ihren Pferden wegtraten, liefen die Kinder hin. Flugs waren die Tiere abgesattelt und wurden von den lachenden und singenden Kleinen auf die Wiese geführt. Joni gefielen diese Kinder. An ihnen sah er, dass die Hirten ein guter Menschenschlag waren. Man brachte sie zu einer Lichtung im Wald, wo ein großes Zelt stand, vor welchem ein Feuer brannte. Joni lief das Wasser im Mund zusammen, als er den Hammel sah, der über der Glut seiner Vollendung als Festschmaus entgegenging.
Es wurde ein herrlicher Tag, der lange dauerte und erst zuende ging, als der Mond über den Horizont kam. Und er sollte mit einer ziemlichen Überraschung enden.
Schon seit Stunden saß man um das Feuer, man aß und trank ein seltsam süßes Bier. Orlan und Winburg hatten sich natürlich erkundigt, ob jemand aus dem Hirtenvolk vor drei Jahren einen fremden Mann und eine Frau gesehen habe, die nach Süden wanderten. Die Blumenelfen erwähnte er mit keinem Wort, denn die Hirten hätten sie ja ohnehin nicht sehen können. Aber sie erhielten immer die gleiche Antwort, niemand sei hier durchgekommen. Zumindest niemand, auf den die Beschreibung passte. Händler aus dem Süden oder aus Dungard kamen manchmal, um Wolle zu kaufen. Joni sah, wie sein Onkel aufhorchte. War ihm hier ein Geschäft entgangen? Winburg fühlte den Blick seines Neffen, blickte zu ihm hin und musste lächeln. Die Zeit war vorbei, wo er nur an Geschäfte und Profit dachte.
Im Verlauf des Abends kamen immer wieder Neuankömmlinge. Die Kunde vom Besuch dreier Fremder schien sich rasch durch das Tal auszubreiten. Plötzlich entstand ein kleiner Tumult, man hörte jemand aufgeregt sprechen, aber so leise, dass niemand es verstand. Dann kam ein junger Bursche herbei und wandte sich an Orlan:
"Herr Ritter, meine Leute sagten, Ihr sucht zwei Personen, die Eltern dieses ..."
Dabei deutete er auf Joni und stutzte plötzlich. Sein Gesicht nahm einen verstehenden Ausdruck an, dann rief er:
"Ja, sie müssen es gewesen sein. Denn der junge Herr sieht dem Manne, der mir in Begleitung einer Frau begegnete, so ähnlich, wie es nur bei Vater und Sohn sein kann!"
Jetzt packte Joni und Winburg die Aufregung. Jonis Frage erfolgte sofort:
"Wann und wo seid Ihr meinen Eltern begegnet?"
Der junge Hirte überlegte einen Moment, wohl wissend, dass hier genaue Auskunft von Nöten war. Dann sprach er:
"Es war heuer, kurz nach der Schneeschmelze."
Eigentlich hätte er weiterreden wollen, aber ein Aufschrei aus Jonis Kehle unterbrach ihn:
"HEUER? Seid Ihr ganz sicher, dass es heuer war und nicht vor drei Jahren?"
Der Junge war sich absolut sicher - und es sollte noch schlimmer kommen. Als ihn nämlich Orlan bat, ihnen die Stelle zu benennen, wo er Jonis Eltern begegnete, sagte dieser:
"Es war ein Stück weiter im Westen, dort wo der Ziegenpass über die Berge führt. Sie fragten mich nach dem Weg und ich sagte ihnen, der Ziegenpass sei die leichteste Strecke über die Berge."
Orlan war ein wenig verwirrt, darum fragte er:
"Über welche Berge, gibt es denn noch mehr davon auf dem Weg in den Süden?"
"Wieso Süden? Das Paar, welches ich traf, ging nach NORDEN."
Joni hätte um ein Haar der Schlag getroffen, und bei Onkel Winburg war er sich nicht sicher, ob ihn dies Schicksal nicht schon ereilte. Denn der Onkel ächzte wie im Todeskampf, dann saß er kreidebleich da.
"Hab ich was falsches gesagt?", fragte der junge Hirte, verängstigt und erstaunt über die Reaktion auf seine Worte.
Die Hirten von Cuest erwiesen sich als verständnisvolle Menschen. Als sie erkannten, dass ihre Gäste sehr verwirrt waren, zogen sie sich unauffällig zurück und überließen sie ihrem Gespräch. Joni fragte:
"Warum sind Vater und Mutter nach Norden gegangen? Ihr scheint Euch geirrt zu haben, Herr Orlan."
Der Ritter, die ganze Zeit grübelnd dasitzend, war scheinbar zu einer Antwort gekommen:
"Joni, es ist eigentlich ganz logisch. Überlegt doch mal, ihr zwei! Fassen wir zusammen, was wir über die Blumenelfen wissen. Sie müssen fort aus der Gegend, wo ihre Kinder den Tod unter die Menschen trugen. In so einem Jahr bleibt ihnen gar keine andere Wahl, als den Süden aufzusuchen, weil sie wegen ihres Nachwuchses erst im Sommer fort können. Da ist keine Zeit, sich auf den Winter einzurichten. Stimmt ihr mir darin zu?"
Er sah Joni und Winburg nicken und fuhr fort:
"Aber im Süden können oder wollen sie aus irgend einem Grund nicht bleiben, was mir auch logisch erscheint. Denn wenn sie jedesmal nach Süden ausweichen, dann wird ihnen mal die Welt zu klein. Also kehren sie nach einer gewissen Zeit wieder in nördlichere Gefilde zurück. Ziemlich weit weg von ihrer alten Heimat, wie ich vermute, damit niemand je von ihrem furchtbaren Geheimnis erfährt."
Winburg wiegte seinen Kopf und sagte:
"Klingt logisch, was Ihr da sagt, Orlan. Aber das erschwert unsere Suche ungemein, oder?"
"Kann sein", erwiderte der Ritter, "doch sehen wir es positiv. Zumindest wissen wir, dass Jonis Eltern heuer noch am Leben waren - und wir haben eine Spur von ihnen. Ich finde es nett von dem Jungen, dass er uns morgen den Weg zum Ziegenpass zeigen will. Darum schlage ich vor, dass wir uns zur Ruhe hinlegen. Uns scheint noch eine lange Reise bevorzustehen."
 
Zu Mittag des nächsten Tages stieß man an eine schmale Straße, die von Südosten daherkam. Hier nahm ihr Führer Abschied von ihnen.
"Wenn Ihr auf diesem Pfad nach Norden reitet, dann kommt Ihr über den Ziegenpass. Viel Glück wünsche ich Euch noch und dass Eurer Suche Erfolg beschieden sei!"
Damit ließ er sie stehen und lief zurück. Die drei Reiter lenkten ihre Rosse auf das staubige Band der Straße und ließen sie in einen leichten Trab fallen. Ihre Satteltaschen waren prall gefüllt mit Proviant, den ihnen die freundlichen Hirten einpackten. Vor sich erblickten sie die Berge und ihr Weg schien auf einen tiefen Einschnitt zwischen zwei hohen Gipfeln hinzuführen. Das musste der Ziegenpass sein. Joni war von einer eigenartigen Unruhe erfüllt. Hier, genau auf dieser Straße, waren vor nicht einmal vier Monaten seine Eltern gegangen. Er ertappte sich dabei, wie er immer die Ohren spitzte, wenn sie an einem Stück Wiese vorbeiritten.
"Hier finden wir sie nicht!", sagte Orlan, dem dies nicht entgangen war.
Sie überquerten den Pass mitten in der Nacht, was sie sich nur deshalb erlauben konnten, weil sich der Aufstieg als recht unproblematisch erwies. Ein kurzes Stück ritten sie noch drüben hinab, dann war es aber höchste Zeit für ein Nachtlager. Die Pferde waren erschöpft und Joni genoss die zweite Nacht in Folge, wo er nicht mit Orlan üben musste.
Am Fuße des Gebirges gabelte sich die Straße. Ein Teil lief weiter in Richtung Nordosten, der andere folgte den Ausläufern der Berge nach Westen.
"Wir nehmen den linken!", schlug Orlan vor, "Geradeaus gehts wieder zurück nach Dungard, wie mir scheint."
Winburg pflichtete ihm bei:
"Ja, das muss die Straße sein, die von Süden kommend Temm erreicht. Ich bin auch dafür, nach Westen zu gehen!"
Joni wurde nicht gefragt, aber er hätte die gleiche Antwort wie sein Onkel gegeben. Trotzdem - er wusste, dass von hier an seine Eltern überall hingegangen sein konnten. Es war gar nicht gesagt, dass sie weiterhin der Straße gefolgt waren. Er behielt seine Überlegungen aber für sich und vertraute ganz der Klugheit des Ritters.
Zu recht. Am späten Abend erreichten sie müde und staubig ein Dorf und fragten nach einer Bleibe für die Nacht. Man verwies sie an eine Herberge zwei Meilen weiter und dort bekamen sie Essen und ein weiches Bett. Und sie erfuhren, dass Jonis Eltern hier übernachteten. Der Wirt selber hatte das Gespräch darauf gebracht, weil auch ihm die Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und seinem Vater aufgefallen war.
"Wir sind noch immer auf der richtigen Fährte, ich hoffe, das bleibt so!", stellte Orlan zufrieden fest, als sie am nächsten Morgen darauf warteten, dass man ihre Pferde vors Haus führe.
"Ich auch", seufzte Joni.
Am Abend hatten sie den Wirt über das Land, welches vor ihnen lag, ausgefragt. Sie waren noch immer in Cuest. Über fünfzig Meilen weiter gäbe es eine große Stadt, sie hieß Tanargá und gehörte schon zum Königreich Assant. Sowohl Winburg als auch Orlan kannten das Land. Winburg war ein-, zweimal dort gewesen. Er importierte einige Waren aus Assant, vor allem Teppiche und seltene Hölzer. Orlan war eine Zeit durch das Land gereist. Joni erfuhr nun, dass jenes berühmte Turnier am Drachenstein vom König Assants veranstaltet wurde. Es beruhigte ihn ein wenig, nicht in unbekannte Gefilde zu reisen. Assant schien eine zivilisierte Gegend zu sein, wo man Handel treiben konnte und Ritterehre etwas galt. Aber Orlan nahm ihm sogleich wieder ein Stück seines Mutes, als er ihm sagte, es gäbe wilde, einsame Gegenden dort. Bestien und Ungeheuer lauerten in den unzugänglichen Wäldern im Norden des Landes und es wäre klüger, gleich morgen Abend mit der Fechtausbildung fortzufahren.
Zwei Tage mussten sie reiten, dann tauchten die Türme einer großen Stadt vor dem Hintergrund eines blutigen Sonnenuntergangs vor ihnen auf. Sie sahen Tanargá, die goldene Stadt am gleichnamigen Fluss.
Von einer Grenze zwischen Cuest und Assant hatten sie nichts gemerkt. Aber der Charakter des Landes hatte sich in den zwei Tagen stark geändert. Wo früher trockene Ebene mit wenig Gras war, sahen sie nun immer größer werdende Wälder, dazwischen üppige Viehweiden und malerisch gelegene Weiler. Einmal schon überquerten sie den Fluss Tanargá auf einer steinernen Brücke. Die Straße führte sie aber wieder fort von seinem Bett und sie würden ihn erst in der Stadt wiedersehen.
"Kennt Ihr jemanden in Tanargá, Meister Winburg?", fragte Orlan, mit dem Ellenbogen auf das Sattelhorn gelehnt und mit der Lanze in der anderen Hand zur Stadt deutend.
"Kennen nicht wirklich. Ich habe einen Geschäftspartner hier, aber ehrlich gesagt, ich möchte nicht, dass er von unserer Reise erfährt."
"Na gut, dann lasst uns hinreiten und eine Herberge suchen!", forderte der Ritter, richtete sich wieder gerade im Sattel auf und brachte seinen Hengst mit einem aufmunternden Druck seiner Fersen zum Gehen.
 
Auf der Straße kamen ihnen zwei Reiter entgegen. Gerade, als sie an ihnen vorbeiritten, rief einer:
"Hoh, Fremde, wenn Ihr in die Stadt wollt, dann müsst Ihr Euch sputen! Die Tore werden bald geschlossen!"
Orlan rief ihm ein Dankeschön nach und sie hatten es auf einmal eilig. Aber sie erreichten das Tor gerade noch rechtzeitig. Die Wachen ließen sie aber erst durch, als ihnen Orlan seinen Namen verriet. Als Sieger des großen Turniers kannte man ihn im ganzen Land, wenn auch nicht persönlich. Joni staunte. Das machte einen wirklichen Helden aus - man nannte den Leuten nur seinen Namen und sie wussten, wer man war. Einst wollte er so werden wie Orlan, falls er dessen harte Ausbildung überlebte.
Von Winburg und dem Ritter hatte er heute einiges über Tanargá erfahren. Die Stadt musste wirklich riesig sein, selbst Angmor wäre eine Kleinstadt im Vergleich mit ihr. Er freute sich schon sehr darauf. Einmal hatte ihn Onkel Winburg nach Angmor mitgenommen und schon diese Stadt war ihm gewaltig vorgekommen, nicht so eng und verwinkelt wie Helwald. Über fünfunddreißigtausend Menschen sollten in Tanargá wohnen. Unvorstellbar! Fünfzehntausend höchstens seien es in Angmor, hatte Winburg gemeint, und in Helwald glaubte Joni jeden zu kennen.
In einer so riesigen Stadt einen Menschen zu suchen und auch zu finden, stellte er sich als sehr schwierig vor. Den Gesuchten aber zufällig zu treffen, gar als den ersten in der Stadt, musste ein Wunder sein.
Und genau so ein Wunder passierte.
Kaum waren sie durch den Schatten des Tores geritten und hörten, wie sich rasselnd die schweren Flügel schlossen, da trat ihnen im dämmrigen Dunkel der breiten Straße eine Gestalt entgegen.
"Joni!"
Nur dieses Wort hörte der Junge, doch er wusste sogleich, wer da stand.
"Vater!", schrie er, sprang von seiner Stute und fiel dem Mann um den Hals. Ja, es war Massim, Jonis Vater und Winburgs Bruder. Der alte Kaufmann stand nun daneben und wartete, bis Massim seinen Sohn wieder freigab. Dann fiel er ihm um den Hals und Joni hörte beide Männer weinen. Orlan war als einziger im Sattel sitzen geblieben und ließ die Begrüßung vorübergehen. Dann räusperte er sich und sagte:
"Es freut mich, Euch gefunden zu haben, Herr Massim. Doch schlage ich vor, dass wir uns von der Straße fortbegeben. Ihr könnt uns sicher den Weg zu einer Herberge weisen. Dort, so denke ich, haben wir Zeit und Muße zum Reden. Uns alle drei interessiert, warum Ihr hier seid. Wie mir scheint, habt Ihr sogar gewartet auf uns."
Jonis Vater erklärte, dass er in einem Wirtshaus um die Ecke wohne, um immer dem Stadttor nahe sein zu können. Ja, er habe auf sie gewartet, aber der Ritter habe recht - bei einem Becher Wein ließe es sich angenehmer plaudern.
In der Herberge gab es noch freie Zimmer für sie, lediglich die Gaststube war so überfüllt, dass sie kein ruhiges Eckchen fanden, wo man ungestört blieb. So ließ man sich vom Wirt einen großen Krug Wein in Massims Kammer bringen, trug aus den Zimmern von Winburg und Orlan noch die zwei fehlenden Stühle herüber und setzte sich an den kleinen Tisch, auf dem eine rußende Kerze brannte und die Nachtfalter anzog.
"Erzähl mal, Massim, warum bist du hier?", forderte Winburg seinen Bruder auf.
Der fing an:
"Ich bin hier, weil ich auf euch gewartet habe. Drei Jahre haben uns die Elfen hierhin und dorthin geführt und ließen uns nicht fort. Nicht dass sie uns gezwungen hätten, sie baten einfach, noch so lange bei ihnen zu bleiben, bis sie ihre neue Heimat fanden. Und immer noch warnten sie uns eindringlich davor, anderen Menschen Nachricht zu hinterlassen oder jemandem den Grund unserer Reise zu verraten. Erst vor über einem Monat konnten Elga und ich weg. Stellt euch vor, wir kamen nach Helwald einen Tag nachdem ihr aufgebrochen seid. Es war zum Verzweifeln. Leider konnte uns Delma nur sagen, dass ihr euch in den Süden aufgemacht hattet. Allein von Helwald führen zwei Straßen in diese Richtung. Es erschien mir zwecklos, euch nachzureisen. Aber ich musste euch finden und weil Delma von einem starken und klugen Helden, der mit euch reist, erzählte, bestand die kleine Hoffnung, dass ihr unsere Spur findet. So eilte ich auf dem schnellsten Weg hierher zurück. Seit drei Tagen bin ich wieder in Tanargá, und wenn sie die Tore am Morgen aufmachten, war ich dort und ging erst heim, wenn sie geschlossen wurden. So habe ich euch endlich gefunden und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie ich mich freue. Joni, deiner Mutter geht es gut, sie wartet bei Tante Delma."
Orlan witterte aus dem Wenigen, was Massim bisher von sich gab, etwas, das nicht gut war. Darum fragte er:
"Guter Mann, zuerst muss ich Euch sagen, dass an diesem glücklichen Zusammentreffen mehr der Zufall beteiligt war als meine Klugheit. Doch nun sagt an: Warum wartet Ihr hier, in der Stadt auf uns?"
Wie weggeblasen war auf einmal der frohe Ausdruck auf Massims Gesicht. Seine Stimme war leiser geworden und wenn sich Joni nicht täuschte, zitterte sie jetzt:
"Hört mir zu! Ich hab euch ja gesagt, dass wir die Elfen bis zu ihrer neuen Heimat begleiteten. Nun, sie haben sie gefunden."
Dabei seufzte er tief und nahm den Becher, um einen Schluck zu trinken. Orlan, wirklich von rascher Auffassungsgabe, rief verwundert:
"Heißt das am Ende, sie sind HIER, in der Stadt?"
Winburg und Joni schrieen vor Schreck auf und blickten zu Massim, damit dieser den grausigen Verdacht entkräftige. Aber der nickte nur mit dem Kopf, nahm noch einen Schluck, ehe er weitersprach:
"Ja. Ihr habt Tanargá noch nicht gesehen, außer du, Winburg vielleicht, aber die Stadt ist riesig und sehr weitläufig. Es gibt nahe am Fluss einen großen Park. Und mit groß meine ich wirklich groß. In dem Park, Joni, hätte unser ganzes Dorf Platz gefunden. Alte Bäume stehen dort, aber vor allem, alles ist Wiese und es wachsen die mannigfaltigsten Blumen in großer Zahl. Dort haben sich die Elfen niedergelassen und waren durch nichts zu bewegen, weiterzuwandern. Damals wusste ich noch nichts von ihrem schrecklichen Geheimnis - erst deine Frau, Winburg, öffnete mir die Augen - und dachte nur, sie wären hier, unter so vielen Menschen, in Gefahr. Aber sie beharrten darauf, zu bleiben. Ihr wisst es ja, was das bedeutet?"
Der Ritter war es, der sprach. Ganz leise, aber sehr hart klang seine Stimme:
"Ja, wir wissen es. Das bedeutet, dass es hier in drei Jahrhunderten ein entsetzliches Blutbad geben wird."
Stille. Ein dicker Falter fiel in die Flamme und verbrannte zischend.
Stille. Von unten hörte man ein schweres Fuhrwerk vorbeifahren. Jemand rief einen Namen, eine Tür im Haus fiel krachend zu, worauf in der Nachbarschaft ein Hund zu kläffen anfing. Bald ein zweiter und nach einigen Minuten schien das Viertel nur aus wütenden Hunden zu bestehen.
Stille. Bis auf das schwere Atmen der vier Männer im Raum. Nur langsam tauchten Jonis Gedanken, die in einen Abgrund gefallen zu sein schienen, wieder in der richtigen Welt auf. Er blickte um sich und direkt in Orlans graue Augen.
"Wir müssen was tun!", Hauchte er, und der Ritter nickte.
Wieder ein schwerer Wagen auf der Straße. Man hörte die Fuhrleute schimpfen, wenn sie den Weg durch Passanten verstellt fanden. Massim erhob sich und schaute durch das offene Fenster auf die nächtliche Straße.
"Was ist heute nur los, ich habe den Verdacht, die Tore sind wieder offen. Denn, schaut nur, die vielen Wagen müssen von draußen kommen!"."
Sie erhoben sich und traten an sein Fenster. Was ging da vor? Man sah eine lange Reihe von großen Wagen, gezogen von Pferden oder Ochsen. Daneben schritten Männer mit Dingen in den Händen, die in der Dunkelheit nicht genau zu erkennen waren.
Nur Joni war sitzen geblieben. Er dachte nach. Etwas zumindest konnte er tun. Gleich morgen früh würde er sich von seinem Vater den Park zeigen lassen. Vielleicht hörten die Elfen auf ihn, ihren alten Freund, und zogen doch noch weiter?
"Kommt ihr", hörte er Winburg rufen, "unten in der Gaststube ist ein Tisch freigeworden. Wir sollten alle etwas essen!"
Joni hatte gar nicht mitbekommen, wie sein Onkel den Raum verließ. Sie standen auf und gingen die knarrenden, engen Stufen hinab. Die Gaststube war halb leer und der Wirt führte sie an einen Tisch neben dem Hintereingang. Am Nebentisch saßen drei Männer, deren Uniformen sie als Mitglieder der Stadtwache auswiesen. Beim Hinsetzen bekam Joni mit, dass über sie getuschelt wurde. Auf einmal drehte sich einer der drei Männer zu ihnen und sagte:
"Entschuldigt, meine Herren, aber darf ich einen Moment stören?"
Sie nickten nur und warteten auf den Wirt, damit er ihre Bestellung aufnahm. Der Wächter fuhr fort:
"Wir haben Euch vorher am Tor gesehen, erinnert Ihr Euch? Meine Kameraden und ich fragen uns, Ritter Orlan, ob Ihr heuer wieder am Turnier teilnehmen wollt. Ist es so?"
Orlan schaute ein wenig verdutzt drein, als er sagte:
"Nein, das Turnier muss ja in den nächsten Tagen stattfinden, oder? Ich würde den weiten Weg bis zum Drachenstein gar nicht mehr in der kurzen Zeit schaffen."
Jetzt waren die Wachen an der Reihe, verdutzt zu sein. Ein zweiter, der bisher nur zugehört hatte, mischte sich ein:
"Dann wisst Ihr es am Ende noch gar nicht. Ritter Orlan, Ihr könnt am Turnier teilnehmen, wenn Ihr möchtet."
"Wie, ich könnte am Turnier teilnehmen?", fiel ihm der Ritter ins Wort.
"Aber ja, Ihr habt es in der Tat noch nicht gehört. Das große Turnier findet heuer ausnahmsweise hier, in Tanargá statt. Der Kampfplatz am Drachenstein ist durch einen Erdrutsch verschüttet worden. Das dauert lange, bis man den Platz wieder freikriegt. Und weil der Sieger des Vorjahres aus unserer Stadt kommt, hat der König angeordnet, das Turnier hier abzuhalten."
Sie staunten über diese Auskunft. Orlan schien wirklich seine Teilnahme an den Kampfspielen in Erwägung zu ziehen, denn er fragte:
"Wo soll das Turnier denn stattfinden?"
Die Antwort hätte Joni laut aufschreien lassen, hätte ihm nicht Orlan geistesgegenwärtig die Hand auf den Unterarm gelegt und fest zugedrückt:
"Habt Ihr den großen Park mitten in der Stadt schon gesehen? Heute nacht kommen die Bauern aus der Umgebung, um die Wiese zu mähen. Morgen wird der ganze Platz planiert. Einen besseren Ort für ein Turnier werdet Ihr kaum finden, Herr Orlan."
"Hat es den Herren nicht geschmeckt?", fragte der Wirt, als er ihre halbvollen Teller wegräumte.
"Doch, doch, guter Mann. Wir sind nur so müde von der langen Reise, dass wir nicht mehr essen können.", beeilte sich Winburg zu versichern, und ein sehr großzügiges Trinkgeld versöhnte den Mann wieder. Sie hatten es eilig, auf Massims Zimmer zu kommen. Joni schoss immer nur ein Wort durch den Kopf - PLANIERT. Das Mähen der Wiese machte den Blumenelfen nicht viel aus, sie zogen sich in ihr unterirdisches Versteck zurück, bis die Blumen wieder blühten. Aber wenn man den Platz feststampfte, dann war ihr Schicksal besiegelt.
"Ich muss hin!", rief er, als sie alleine waren. Der Ritter sagte, und unglaubliche Härte hörte man in seinen Worten:
"Du bleibst hier, ich will nicht, dass du was tust, was wir später alle bedauern! Ich werde gehen. Herr Massim, Ihr kennt den Weg?"
Jonis Vater nickte.
"Dann führt mich bitte hin. ihr anderen verlasst diese Herberge nicht, bis wir zurück sind!"
Orlan und Massim verließen den Raum. Die Kerze brannte und von unten vernahm man die typischen Geräusche der Nacht in einer großen Stadt. Winburg war aufgestanden und schaute stumm aus dem Fenster. Joni wäre am liebsten aus dem selbigen hinab auf die Straße gesprungen, so viel Unruhe war in ihm. Warum nur hatte ihn der Ritter nicht gehen lassen?
Orlan und Jonis Vater kamen schneller zurück, als der Junge und Winburg dachten.
"Keine Chance!", rief der Ritter, "Die Gegend um den Park ist weiträumig abgesperrt. Überall sind Wachen, welche die Schaulustigen in Schach halten. Tut mir leid, Joni, aber du kannst heute nicht hin. Angeblich ist ohnehin schon alles gemäht, wie mir einer sagte, der es wissen muss. Es war ein Bauer, der mit einer großen Fuhre Gras vom Park daherkam. Joni, ich fürchte, deine Elfen gibt es nicht mehr. Und ich weiß nicht, ob das nicht gut so ist."
Aber Joni weinte. Da legte ihm Onkel Winburg die Hand väterlich um den Hals und sagte:
"Wir gehen hin, morgen. Oder übermorgen, jedenfalls gleich, wenn der Platz wieder zugänglich ist. Tut mir leid, aber ich verstehe auch unseren Freund Orlan. Es ist wirklich nicht zu verantworten, die Elfen in Tanargá zu lassen. Bedenke nur, wie viele unschuldige Menschen einst sterben werden!"
Joni schrie auf:
"Aber die Elfen sind doch auch unschuldig!"
Der Ritter sagte ganz sanft und leise:
"Es trifft immer die Unschuldigen, Joni. Denk nur an dein Dorf! So war es seit Anbeginn der Zeit, und so wird es bleiben."
Nun mischte sich auch Jonis Vater ein:
"Mein Junge, deine Mutter und ich sind lange mit den Elfen gewandert und haben sie liebgewonnen, das kannst du mir glauben. Erst von Tante Delma erfuhren wir, was sie mit den Leuten aus meinem Dorf angestellt haben. Ich weiß wirklich nicht ..."
Doch Joni wollte es nicht einsehen.
"Sie können doch nichts dafür, dass sie so sind!", rief er. So heftig stieß er dies hervor, dass Winburg fast erschrocken seinen Arm zurückzog und Joni freigab. Doch der Ritter fragte leise:
"Joni, würdest du das auch sagen, wenn deine Eltern unter den Opfern gewesen wären?"
Zur Antwort bekam er nur ein trockenes Schluchzen.
 
Zwei Tage warteten sie, dann probierten sie es. Massim führte sie durch die Stadt, die wirklich sehr groß und unglaublich schön war. Aber Joni hatte kaum einen Blick dafür. Jenen Ort, wo einst ein blühender Park lag, sahen sie nur von Ferne. Denn niemand durfte hin. Die Leute des Königs waren schon dabei, den Platz für das Turnier vorzubereiten. Zelte wurden aufgestellt, darunter das große, hellblaue für den König, den man morgen erwartete. Barrikaden aus Brettern waren zusammengezimmert worden und wurden nun an den rechten Stellen platziert. Fahnenstangen hatte man aufgerichtet, und schon flatterte so mancher Wimpel lustig im Wind. Joni interessierte das alles nicht. Er schaute hinüber und wusste, dass er dort keine Elfen mehr finden würde. Die weite Fläche war flach gestampft und mit Sand bedeckt worden. Eine winzige Hoffnung blieb ihm noch. Vielleicht hatten seine kleinen Freunde das drohende Unheil rechtzeitig erkannt und waren weitergezogen. Ja, so konnte es sein. Dieser Trost machte es ihm leichter, umzukehren und mit den anderen zur Herberge zurückzugehen.
"Morgen geht es ab nach Hause!", sagte Winburg, als sie beim Essen saßen. Dann fiel ihm noch was ein:
"Ritter Orlan, Ihr habt mir und meinem Neffen gut gedient. Wenn Ihr am Turnier teilnehmen wollt, so entbinde ich Euch von Eurem Auftrag. Ich hätte soviel Geld bei mir, um Euch den Rest des versprochenen Lohnes auf der Stelle auszuzahlen."
"NEIN!", rief Joni. Alle schauten ihn verwundert an. Er lächelte ein wenig verlegen und sagte:
"Ritter Orlan, mein Onkel sagte einst, Ihr stündet in MEINEN Diensten. Nun, das Jahr ist noch lange nicht vorbei. Ich möchte, dass Ihr mit uns nach Helwald geht. Ich hab noch viel zu lernen, ehe ich mein Schwert so zu führen verstehe wie Ihr."
Joni erwartete eine scharfe Widerrede seitens seines Vaters oder Onkel Winburgs. Doch niemand sagte ein Wort. Nur Orlan lachte laut, klopfte Joni auf die Schulter, dass dieser fast vom Stuhl gefallen wäre und rief:
"Bei meiner Ehre, junger Freund. Ich mach aus dir einen Meister der Klinge, das verspreche ich dir. Und weil ich mich darauf verstehe, die Gedanken eines jungen Hüpfers, wie du einer bist, zu lesen, sage ich dir: Wenn das Jahr vorbei ist, dann gehe ich mit dir, die Elfen suchen."
Da sagte auf einmal Winburg, ein feines Lächeln im Gesicht:
"Wenn der arme Junge Eure Ausbildung überlebt."
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