Ich möchte euch eine Geschichte erzählen.
Die Geschichte von Herrmann, einem kleinem Mann.
Niemand weiß, wo er herkam. Eines Tages war er da. Ob er ein Heinzelmann war, ein Kobold oder einfach ein ganz kleiner Mann, ist auch nicht bekannt.
Viele Kinder haben ihn gesehen, von ihnen habe ich erfahren, dass Herrmann für einige Zeit in ihrer Stadt war.
Der Ernst des Lebens
Papa gibt Hannes einen Kuss auf die Wange. "Schlaf gut, kleiner Mann", sagt er, "morgen beginnt der Ernst des Lebens für dich."
Hannes will nicht fragen, was das heißt. Ein Schulkind muss das sicher wissen.
Hannes kennt nur einen Ernst. Der ist lang und dünn und mag keine Kinder.
Einmal hat Hannes einen Ball in seinen Garten geschossen. Er hat sich nie getraut, ihn zurückzuholen.
Hannes freut sich nicht auf die Schule. Im Kindergarten kennt er sich aus.
Er weiß, wo die Spiele sind, er mag die Erzieherinnen.
Und außerdem kann er von allen Kindern am schnellsten laufen.
Weil er der Größte ist.
In der Schule wird er lange Zeit zu den Kleinen gehören.
Hannes seufzt.
"Was ist los mit dir?", hört er jemanden fragen.
Hannes schaut auf den Boden. Dort steht der kleinste Mann, den er je gesehen hat.
"Ich bin Herrmann", sagt das Männchen, "heb mich hoch!"
Hannes nimmt ihn zu sich aufs Bett. Der Kleine sieht nett aus.
"Ich habe Angst", sagt Hannes. "Morgen soll ich zur Schule gehen."
"Was ist Schule?", fragt Herrmann, "wird einem dort wehgetan?"
"Nein", lacht Hannes, "das glaube ich nicht. Man geht in die Schule, um etwas zu lernen. Dort darf man nicht spielen. Man muss still sitzen und aufpassen. Und am Nachmittag muss man immer Hausaufgaben machen."
"Das klingt doch nicht so schrecklich", meint Herrmann.
"Doch", sagt Hannes. "Manchmal sind die Lehrerinnen ganz streng. Die schauen dann so böse und schimpfen."
"Wer sagt das?", fragt Herrmann.
"Der Thomas, aus dem Nachbarhaus."
"Ich habe etwas für dich", sagt Herrmann.
Aus seinem Rucksack zieht er einen kleinen, grünglitzernden Stein.
"Das ist ein Zauberstein. Wer ihn besitzt, hat keine Angst mehr."
Hannes nimmt den Stein ganz vorsichtig in die Hand. Er fühlt sich gut an, ganz warm.
"Du darfst den Stein so lange behalten, wie du ihn brauchst. Eines Tages wirst du ihn vielleicht weiterschenken", sagt Herrmann.
Hannes hört ihn nicht mehr. Er schläft tief und fest.
Den Stein hält er die ganze Nacht in der Hand.
"Du isst ja gar nichts", wundert sich Mama beim Frühstück.
Hannes ist viel zu aufgeregt, er kriegt keinen Bissen hinunter.
Er zappelt so lange herum, bis sie aufbrechen.
Vor der Schule sind noch keine anderen Kinder.
"Ihr könnt jetzt gehen", sagt Hannes tapfer zu seinen Eltern.
"Ich schaffe das schon alleine."
Mutig marschiert er auf die Schule zu.
Den Zauberstein hält er fest in der Hand.
Die Lehrerin hat Hannes einen Brief mit einer Sonne geschickt.
Also muss er die Sonnenklasse suchen.
Es dauert nicht lange, und Hannes steht vor der richtigen Tür.
Noch immer sind keine anderen Kinder da.
Am Ende des Korridors steht eine junge Frau.
Sie hat braune Haare und lustige Sommersprossen im Gesicht.
Jetzt sieht sie aber nicht sehr lustig aus.
Eher sorgenvoll. Oder richtig ängstlich.
Sie sieht auf ihre Uhr.
Plötzlich weiß Hannes, was er tun muss.
Er geht zu der jungen Frau und legt ihr den Zauberstein in die Hand.
"Damit du keine Angst haben musst", sagt er.
Nach und nach füllt sich die Sonnenklasse mit Kindern.
Hannes entdeckt Manuel, den er vom Kindergarten kennt. Sie setzen sich nebeneinander auf eine Bank.
Da wird es still. "Die Lehrerin", hört Hannes.
Alle Kinder schauen zur Tür.
Herein kommt die junge Frau mit den Sommersprossen.
"Guten Morgen", sagt sie. "Ich bin Carmen, eure Lehrerin.
Zuerst war ich sehr aufgeregt. Ihr sein nämlich die erste Klasse, die ich übernehmen darf. Aber dann hat mir jemand sehr geholfen."
Sie zwinkert Hannes zu.
Hannes und die Lehrerin verstehen sich.
Beim Mittagessen hat Hannes viel zu erzählen.
Kleine Brüder und volle Windeln
Thomas ist wütend.
Voller Zorn kickt er einen Stein gegen die Mülltonne.
Er trifft nicht. Wie sollte er auch.
Alles läuft zurzeit verkehrt.
Beim letzten Fußballspiel hat seine Mannschaft verloren.
Heute Morgen wollte er sich sein Jausenbrot selbst schmieren und hat sich prompt in den Finger geschnitten.
Doch das größte Problem ist Max. Sein kleiner Bruder.
Seit der da ist, herrscht zu Hause das Chaos.
Mama ist ständig müde, Papa hat viel weniger Zeit für Thomas als früher.
Alle Verwandten, die zu Besuch kommen, knuddeln den kleinen "Süßen".
Ihn schicken sie aufs Zimmer.
Zum Spielen.
Er ist ja schon groß.
Dabei hat er sich so auf das Brüderchen gefreut. Als Mamas Bauch immer dicker wurde, konnte er es kaum erwarten.
Thomas nimmt noch einen Stein."
"Du musst dich konzentrieren", sagt eine Stimme. "Dann kannst du alles treffen, was du willst."
Auf der Mülltonne sitzt ein kleiner, dicker Mann. Herrmann.
"Ich zeige dir, wie es geht."
Geschickt hüpft er von der Tonne, zielt und trifft.
"Siehst du", sagt er.
Thomas versucht es auch. Diesmal verfehlt er die Tonne nicht.
"Wenn nur alle Probleme so leicht zu lösen wären", seufzt Thomas.
"Erzähl mir von deinem Kummer", bittet Herrmann.
Da legt Thomas los.
Er erzählt, wie er sich auf Max gefreut hat. Wie er sich ausgemalt hat, dass er und sein Bruder die dumme Tante Edith ärgern. Wie sie sich in der Nacht Gruselgeschichten erzählen würden, am liebsten von der verlassenen Braut mit dem Kopf unter dem Arm.
"Doch dann ist Max geboren", schimpft Thomas. "Er war so klein und hässlich, hässlicher als die Braut ohne Kopf. Und jetzt krabbelt er überall herum, reißt alles herunter und sabbert alles voll. Nie kann Mama ihn alleine lassen. Sogar das neue Legoauto hat er kaputtgemacht. Er zeiht alle an den Haaren und schmeißt seinen Brei in der Küche herum. Und er stinkt alle Windeln voll. Für meine Eltern bin ich jetzt ganz überflüssig."
"Das bist du nicht."
Herrmann hat sich die ganze Schimpftirade kommentarlos angehört.
Erst jetzt meldet er sich wieder zu Wort.
"Ich verstehe dich sehr gut, kleine Geschwister sind nervig.
Aber deine Eltern sind stolz auf dich.
Und Max braucht dich auch. Du bist sein großer Bruder.
Ich werde dir etwas zeigen."
Umständlich kramt er in seiner Tasche.
Endlich zieht er eine gläserne Kugel heraus.
In der Kugel ist ein schlanker, großer Junge.
"Das bin ja ich", ruft Thomas begeistert.
"Das bist du in ein paar Jahren", stellt Herrmann richtig.
Noch ein anderes Kind ist im Spiegel zu sehen.
Ein bisschen kleiner, ein bisschen dicker. Aber sonst ganz normal.
Max. Er hält ein Modellflugzeug in der Hand, ein Flügel ist abgebrochen.
"Kannst du das richten Thomas?" Bewundernd schaut er zu seinem großen Bruder auf.
Plötzlich ist Thomas mächtig stolz.
"Für den kann ich ja wirklich alles."
"Siehst du, sagt Herrmann, "es ist nicht immer schlimm, der Ältere zu sein. Für Max bist du ein Vorbild, einer der alles kann."
Zuhause öffnet Thomas vorsichtig die Tür vom Elterschlafzimmer.
Im Bettchen liegt Max. Thomas schaut ihn lange an.
"Eigentlich bist du ja gar nicht so hässlich", sagt er dann.
Papa ist fort
Hannah liegt auf ihrem Bett. In der Hand hält sie ein Foto.
Es ist das letzte Foto, das sie zusammen mit ihrem Papa zeigt. Mama hat es gemacht, als sie in Spanien in Urlaub waren.
"Du bist traurig", sagt eine Stimme.
Hannah sieht, dass jemand auf ihrem Polster sitzt.
Es ist ein kleiner Mann mit einer roten Hose. Über seinem dicken Bauch spannt eine schwarze Weste.
"Ich bin ein Freund für traurige Kinder", sagt Herrmann, "ich möchte dir gerne helfen."
Hannah wird schrecklich zornig.
"Lass mich in Ruhe, du Zwerg", schreit sie. "Papa ist tot, Mama ist oft traurig. Sie weint, wenn sie alleine ist. Und sie glaubt, ich merke es nicht.
Wie willst du mir da helfen?"
Sie zieht ihre Turnschuhe unter dem Bett hervor.
"Ich gehe jetzt", sagt sie. "Ich will, dass du verschwunden bist, wenn ich wiederkomme."
Hannah rennt aus dem Zimmer.
"Warte auf mich", keucht Herrmann hinter ihr.
Es sieht lustig aus, wie er versucht, auf seinen kurzen Beinchen mit Hannah Schritt zu halten.
Wider Willen muss Hannah lächeln.
Sie hebt den kleinen Mann hoch und setzt ihn vorsichtig in die Tasche ihrer Jacke.
Normalerweise sind im Park viele Kinder.
Heute ist der Himmel bewölkt, es schaut nach Regen aus. Ein alter Mann führt seinen Hund spazieren.
Hannah setzt sich auf eine Bank.
"Papa hat mir vieles erklärt", sagt sie. "Die Namen der Bäume und der Blumen. Von ihm habe ich gelernt, wie man die Stimmen der Vögel unterscheiden kann.
In der Nacht hat er mit mir die Sterne beobachtet. Papa war der Allerklügste."
Sie beginnt zu weinen.
Stumm reicht ihr Herrmann ein Taschentuch.
Dann zieht er einen Spiegel aus dem Rucksack. "Schau hinein", sagt er.
Hannah sieht ihren Papa.
Er hält ein Baby auf den Armen.
Sie sieht sich als Einjährige, die den Löffel unbedingt selber halten will und Papas Hemd voll kleckert.
Die Bilder wechseln schnell.
Hannah ist drei Jahre alt und vom Fahrrad gefallen. Papa klebt ein Pflaster auf das wunde Knie.
Hannah zeigt Papa strahlend ihren ersten herausgefallenen Milchzahn.
Hannah mit der Schultasche auf dem Rücken, Papa macht noch schnell ein Foto.
Hannah morgens im Papas Bett. Sie fühlt seine Wange auf ihrem Kopf und kann seinen Duft riechen.
Hannah und Papa in all ihren glücklichen Momenten.
"All diese Augenblicke gehören dir. Niemand kann sie dir wegnehmen. Immer wenn du an deinen Papa denkst, ist er bei dir. Dann kannst du spüren, wie lieb er dich hat."
Lange bleibt Hannah auf der Bank sitzen.
"Da bist du ja", sagt Mama, als Hannah den Kopf zu Küchentür hereinsteckt.
"Ich habe uns Omeletten gemacht."
"Die mochte Papa gar nicht", sagt Hannah.
Sie geht zu Mama und nimmt sie fest in den Arm.
Ein etwas anderer Tag
Missmutig stapft Ralph die Straße entlang.
Er ist auf dem Weg nach Hause.
Wo eh keiner auf ihn wartet.
Sein Handy läutet.
Jetzt, wo Papa ein neues hat, hat Mama sein altes.
Und das alte von Mama hat Ralph.
Wenn Papa wieder mal ein Handy kauft, wird das wohl Nives kriegen.
Nives ist der Hund.
"Hallo", sagt Ralph.
Mama ist dran.
"Schatz", sagt sie, "ich habe vergessen, dir zu sagen, dass du heute bei der Omi isst. Also dann, tschüss mein Kleiner."
"Tschüss", sagt Ralph.
Er dreht um und stapft zurück.
Das Telefon klingelt wieder.
"Schatz", sagt Mama, "du isst bei Oma Moni, nicht bei Oma Trudi."
"Tschüss", sagt Ralph.
Noch missmutiger stapft er weiter.
Jetzt muss er den Bus auch noch nehmen.
Das Essen bei Oma Moni muntert ihn nicht auf. Sie kocht so fade Sachen.
Und Ralph muss immer noch mit dem Kinderbesteck essen, obwohl er schon sieben ist. Am liebsten würde sie ihm wohl noch das Lätzchen mit den Rüschen umbinden.
Nach zwei Partien Memory schafft es Ralph, sich zu verabschieden.
Obwohl er zuhause eigentlich auch nichts Besseres zu tun hat.
Seine Nachmittage verbringt er vor dem Fernseher.
Ralph öffnet den Kühlschrank. Bewaffnet mit einer Dose Cola, zwei Packungen Vanillepudding und einem übrigen Stück Pizza macht er es sich vor dem Fernseher bequem.
Da klingelt sein Handy.
Das wird wohl wieder Mama sein.
Sie ruft immer am Nachmittag an. Um ihn zu ermahnen, nicht zu viel fern zu sehen und nicht zu viel zu essen.
"Hallo", sagt Ralph.
"Die Sonne scheint", sagt eine unbekannte Stimme. Willst du nicht ein bisschen rauskommen?"
Ralph zögert.
"Und nimm Nives mit", redet der Unbekannte weiter. "der Hund braucht auch mal Auslauf, er ist sowieso zu dick."
"Ich komme", sagt Ralph.
Er schnappt sich seine Jacke, hängt Nives an die Leine und rennt die Treppe hinunter.
Unten ist niemand.
"Da hat mich wohl jemand auf den Arm genommen", schimpft Ralph und will wieder hochgehen.
"Hier bin ich", hört er da.
Auf der zweiten Treppenstufe sitz ein kleiner Mann und baumelt mit den Beinen."
"Gerade mager bist du auch nicht", entschlüpft es Ralph.
Als er Herrmanns beleidigtes Gesicht sieht, sagt er schnell:" Also los, wohin soll es gehen?"
"Nimm mich hoch", befiehlt Herrmann.
In Ralphs Jackentasche sitzend, sagt er ihm den Weg an.
Die Straße rauf, an der Kreuzung nach rechts... immer weiter.
So weit ist Ralph schon lange nicht mehr gegangen.
Nives keucht neben ihm her.
Endlich kommen sie zu einem Fußballfeld.
Ralph erkennt ein paar Jungs aus seiner Klasse.
Hier also treffen sie sich jeden Nachmittag. Er will wieder umdrehen, die brauchen ihn ja doch nicht.
"Hallo Ralph", ruft Hannes. "Schön, dass du auch mal kommst. Magst du mitspielen?"
Und schon ist Ralph mittendrin.
Dass sein Handy läutet, hört er gar nicht mehr.
Vom Anderssein
Heute herrscht in der Klasse große Aufregung.
Lehrerin Carmen hat den Kindern eine Mitteilung gemacht.
"Ihr bekommt eine neue Mitschülerin", hat sie gesagt.
"Ich habe es gerade erst erfahren. Das Mädchen heißt Milica. In ihrem Land gibt es kaum Arbeit. Deshalb wollen es ihre Eltern bei uns versuchen."
"Eine Zigeunerin", wird sie von Ralph unterbrochen.
"Zigeuner sind Gesindel", sagt Tamara ernst. "Das weiß ich von Papa."
"Sie stehlen alles, sogar Kinder", macht sich Ruth wichtig.
"Sie wird uns alles aus der Schultasche klauen."
"Und unsere Eltern bestrafen uns dann dafür", rufen die Kinder durcheinander.
Es klopft an die Tür.
In dem Tumult hört es keiner.
Plötzlich geht sie auf.
Zuerst sehen die Kinder den kleinen Mann gar nicht.
Doch dann ruft Hannes: "Das ist Herrmann!"
Sofort sagt Ralph: "Ich kenne ihn auch."
Bewundernd schauen die anderen Kinder die beiden an.
Herrmann klettert auf das Pult der Lehrerin.
Das geht gar nicht so leicht.
In der Klasse ist es mucksmäuschenstill.
"Glaubt ihr, dass ich böse bin?", fragt Herrmann, als er es sich endlich bequem gemacht hat.
Verwundert verneinen die Kinder.
"Glaubt ihr, dass ich alten Damen die Handtasche wegreiße? Oder eure Fahrräder stehle? Oder dass ich kleine Hunde brate?"
Die Kinder kichern.
"Warum solltest du?", fragt Hannes.
"Ja, warum sollte ich", überlegt Herrmann. "Vielleicht weil ich anders bin, als ihr."
"So ein Blödsinn", verteidigt ihn Ralph. "Du bist nicht anders. Nur kleiner."
"Und dicker", murmelt Ruth.
Wieder müssen die Kinder lachen.
"Warum denkt ihr dann so schlecht von Milica?", fängt Herrmann wieder an.
Ein bisschen beleidigt ist er schon. Ihn als dick zu bezeichnen. Er ist höchstens stattlich. Und das geziemt sich ja auch für einen Herrn seines Alters.
"Sie ist ein ganz normales Kind. Und sicher nicht dicker als ihr."
Diesen kleinen Seitenhieb kann er sich nicht verkneifen.
Er öffnet seinen Rucksack.
Nach einigem Kramen zieht er ein Foto heraus.
Darauf ist ein hübsches Mädchen zu sehen. Es hat braune Haare und große, braune Augen.
"Milica hatte in ihrem Leben einfach weniger Glück als ihr. Ihr müsst euch vorstellen, dass es für sie sicher nicht leicht war, ihre Heimat zu verlassen. Hier ist alles fremd. Doch ihre Familie ist arm, der Vater muss außerdem noch Geld an seine alten Eltern schicken. Stellt euch vor, Milica besitzt nur ein Paar Schuhe."
"Überlegt mal, wie viele Paar Schuhe ihr selber habt", mischt sich da die Lehrerin ein.
Die Kinder denken angestrengt nach: Turnschuhe, Sandalen, Sonntagsschuhe. Regenstiefel. Und Schischuhe und Schlittschuhe.
"Ich könnte ihr ein paar Schuhe schenken", überlegt Lukas.
Sein Vater hat ein Schuhgeschäft.
"Und ich könnte ihr meine alte Jacke bringen", meint Christa. "Mir ist sie eh zu klein."
Eifrig machen die Kinder Pläne.
Bis es zur großen Pause läutet, will fast jeder etwas bringen.
Am nächsten Tag sind alle ein bisschen früher da.
In der Leseecke stapeln sich die mitgebrachten Sachen.
Da sind Schuhe aus dem Geschäft von Lukas Vater, zwei schöne Pullover, Christas alte Jacke.
Einige Kinder haben Spielsachen mitgebracht.
Ruth hat sogar ihre Prinzessinnen-Bettwäsche geopfert.
Alle sind sehr gespannt auf das neue Mädchen.
Lehrerin Carmen kommt in die Klasse.
An der Hand hält sie Milica.
Die sieht lieb aus, nur ein bisschen schüchtern.
"Hallo", sagt sie. Dabei hält sie etwas in der Hand. Hannes könnte wetten, dass es etwas Grünglitzerndes ist.
Draußen auf der Fensterbank sitzt Herrmann.
"Das habe ich mal wieder prima hingekriegt", murmelt er stolz.
Sein Magen knurrt.
Er hat sich entschlossen, eine Diät zu machen.
Träumen kann man auch zu zweit
"Ruth", ruft Mama.
Bringst du bitte heute die Milch zu Frau Brunner rüber?
Und red ein bisschen mit ihr, die Frau ist einsam."
Ruth übt gerade für die Ballettvorführung am Samstag.
Da darf sie alleine vortanzen.
Sie freut sich fürchterlich.
Und sie ist fürchterlich aufgeregt.
In jeder freien Minute probiert sie die Tanzschritte durch.
Vor dem Einschlafen, nach dem Aufwachen und sogar in der Schule übt sie im Kopf.
Mamas Auftrag passt ihr gar nicht.
Sie fürchtet sich ein bisschen vor der alten Frau. Außerdem riecht es seltsam bei ihr.
"Ruth", ruft Mama wieder.
"Ich muss Anna vom Kindergarten holen. Danach gehe ich noch einkaufen.
Bitte tu, was ich dir sage!"
Ruth tanzt weiter.
Sie ist eine berühmte Ballerina, alle Menschen jubeln ihr zu.
Sie vergisst alles um sich herum.
Lange Zeit später holt sie sich Orangensaft aus dem Kühlschrank.
Da fällt ihr die Milch ein.
Ob sie es einfach vergessen soll? Dann muss Mama halt später zu Frau Brunner rüber gehen.
"Ich komme mit dir", sagt Herrmann. Er sitzt im Kühlschrank.
Natürlich.
Ein bisschen kalt ist es da schon, aber der Schinken hat ihn zu sehr gelockt.
Zögernd klingelt Ruth bei der Nachbarin.
Das Namenschild auf der Tür ist ganz verblasst.
Langsam öffnet sich die Tür.
Die Frau sieht wirklich ein wenig wie eine Hexe aus. Sie hat lange, graue Haare. Ihre Arme und ihr Gesicht sind voller Runzeln. Finger und Armgelenke sind mit Schmuck behängt. Um den Hals hat sie sich ein violettes Tuch geschwungen.
"Bringst du mir endlich meine Milch. Ich habe schon geglaubt, ihr hättet mich vergessen", jammert sie. "Meine armen Katzen haben großen Hunger."
Ruth liegt schon eine schnippische Antwort auf der Zunge.
Aber Herrmann stupst sie sanft.
Da sagt sie: "Tut mir leid, Frau Brunner. Ich habe die Zeit vergessen. Am Samstag habe ich eine Ballettvorführung. Dafür muss ich noch üben. Wissen Sie, ich darf alleine vortanzen."
Ruth gerät ins Schwärmen.
"Ich tanze nämlich für mein Leben gern."
"Du interessiert dich fürs Ballett?", fragt Frau Brunner.
Komm herein, mein Kind. Ich möchte dir etwas zeigen."
Ruth folgt Frau Brunner in den düstern Gang.
Die Alte führt sie in ein großes Zimmer.
Neugierig schaut Ruth sich um.
Dicht Vorhänge sperren jeden Sonnenstrahl aus.
Der Raum ist mit schweren dunklen Möbeln und dicken Teppichen ausgestopft. Staub liegt überall.
Auf der Couch und den Teppichen räkeln sich sechs Katzen.
An der Wand hängen unzählige Fotos.
Alle zeigen eine junge Frau in verschiedenen Tanzstellungen.
"Schau dir die Bilder ruhig an", sagt Frau Brunner. "Das bin ich, in meiner Jugend. Ich war eine der besten Ballerinas aller Zeiten."
In Ruths Jackentasche fängt Herrmann zu kichern an.
Diesmal bekommt er einen Stups.
"Schau Kind, zu jedem Foto kann ich dir etwas erzählen."
Lange Zeit fachsimpeln die beiden über Schritte und Sprünge beim Ballett. Arabesque, Attitude, Grand Écart...
Frau Brunner bekommt vor Freude rote Wangen. Sie kann sich an all ihre großen Momente erinnern. Es ist, als ob sie ihre Vergangenheit noch einmal erleben würde.
Auch Ruth fühlt sich wohl.
Endlich hat sie jemand gefunden, der ihre Leidenschaft teilt.
Endlich kann sie von ihrem Traum erzählen, eine große Ballerina zu werden.
Weil Frau Brunner sie versteht.
Herrmann hingegen ist eingeschlafen.
Monster im Schrank
Zum dritten Mal erscheint Lukas im Wohnzimmer.
Er sollte schon seit über einer Stunde schlafen.
Papa wird zornig: "Wenn du jetzt nicht innerhalb einer Viertelstunde schläfst, ist unser Ausflug morgen gestrichen!"
Ziemlich unsanft packt er seinen Sohn am Arm und befördert ihn ins Zimmer zurück.
"Im Kleiderschrank sind keine Monster.
Und auch keine Hexen, keine wilden Tiere.
Keine fleischfressenden Pflanzen. Nichts dergleichen. Wir haben ja nachgesehen."
Das haben sie wirklich.
Im Kasten liegen nur Lukas Hosen, seine Pullover und die Unterwäsche.
Alles ordentlich zusammengefaltet.
Außerdem noch ganz unten die Puppe, die er seiner Schwester versteckt hat.
Aber Lukas weiß, dass im Schrank wilde Wesen wohnen.
Sie warten, bis er eingeschlafen ist.
Dann werden sie munter.
Wieder liegt Lukas im Bett. Papa hat ihn zugedeckt und ihm seinen Teddy in die Hand gedrückt.
"Dein Sohn sieht zu viel fern", hört er ihn zu Mama sagen.
Lukas liegt ganz still.
Sein Herz klopft laut.
Durch den Vorhang sickert das Licht der Straßenlaternen.
Wenn ein Auto vorbeifährt, wird es für kurze Zeit heller im Zimmer.
Schatten tanzen an der Decke.
Lukas hört seinen Atem.
Er bemüht sich, ganz leise Luft zu holen.
Gerne würde er noch einmal aufstehen, aber Papa versteht ihn nicht.
Wenn Lukas so groß und so stark wäre, hätte er auch keine Angst.
Ganz sicher ist er sich allerdings nicht.
"Wenn bloß Herrmann da wäre", denkt er plötzlich. "Ob ich ihn rufen soll?"
Aber Herrmann ist schon da. Er sitzt auf dem Nachtkästchen.
"Verjag du die Monster", bittet Lukas.
"Das kann ich nicht", sagt Herrmann. "Ich kann nicht in deine Träume.
Aber ich habe etwas für dich."
Aus seinem Rucksack zieht er einen kleinen Schlüssel.
Er glänzt silbern im Mondlicht.
Lukas ist enttäuscht.
Ein Schlüssel. Er hätte sich eine Zauberwaffe erwartet.
Etwas Großes und Gefährliches um den Monstern den Garaus zu machen.
"Der Schlüssel hat Zauberkräfte", sagt Herrmann.
"Er kann die Gestalten wegschließen. Aber nur du hast die Macht dazu, weil die Wesen in deinen Träumen wohnen. Du musst ganz mutig sein."
Lukas will nicht einschlafen.
Aber im Bett ist es warm und gemütlich.
Herrmann hält seine Hand. Nach einiger Zeit schläft Lukas ein.
Er träumt.
Vom Kleiderschrank her hört er leise Geräusche.
Tapfer steigt Lukas aus dem Bett. Auf nackten Füßen tapst er zum Kasten.
Er steckt den Schlüssel in das Schloss und will ihn herumdrehen.
Doch plötzlich zögert er.
Eigentlich könnte er die Monster schnell anschauen.
Er hat ja einen Schlüssel, um sie einzusperren.
Die Tür öffnet sich mit einem leichten Quietschen.
Lukas Herz klopft laut.
Im Schrank sitzt nur die Puppe und lächelt ihn an.
Den Rest der Nacht schläft Lukas tief und traumlos weiter.
Am nächsten Abend wundern sich die Eltern, dass Lukas kein einziges Mal ins Wohnzimmer kommt.
"Ich hab ja gewusst, dass es bloß eine Marotte war. Solchen Launen darf man nur nicht nachgeben", sagt Papa zufrieden und greift nach der Fernbedienung.
Wenn sich Eltern streiten
Christa versteckt sich.
Zwischen Bett und Kommode ist ein ganz kleines Plätzchen, wo sie sich verkriechen kann.
Das tut sie immer, wenn Mama und Papa streiten.
Und das passiert in letzter Zeit immer öfter.
Die lauten Stimmen dringen nur gedämpft zu ihr durch.
Wenn Christa sich die Ohren zuhält, hört sie gar nichts mehr.
Da spürt sie eine Bewegung an ihrem Knie.
"Hallo Christa", sagt Herrmann. "Darf ich zu dir kommen?"
Christa nickt.
"Dann eben nicht!", hört sie Papa jetzt schreien.
Die Eingangstür fällt ins Schloss.
"Du brauchst gar nicht mehr zurückzukommen!", ruft ihm Mama wütend nach.
Christa beginnt am ganzen Körper zu zittern.
"Was ist bloß los?", fragt sie.
Herrmann streichelt sie ganz sanft.
Im Moment weiß er nicht, was er sagen soll. Und das kommt bei ihm nicht oft vor.
"Hast du nicht ein Zaubermittel für meine Eltern?", fragt Christa.
"Damit sie sich wieder verstehen."
"Einen so mächtigen Zauber besitze ich nicht", bedauert Herrmann.
Aber Christa schaut ihn so flehend an, dass er trotzdem seinen Rucksack ausleert.
Da ist der grüne Zauberstein gegen die Angst.
Den drückt er Christa schon mal in die Hand.
Dann ist da der Spiegel mit den guten Erinnerungen.
"Der wäre vielleicht das Richtige für Mama und Papa", hofft Christa.
Herrmann verneint.
Christas Eltern haben zusammen wenig gute Erinnerungen.
Beide waren noch sehr jung, als Christa auf die Welt kam. Für beide war es eine schwierige Zeit. Papa musste sehr viel arbeiten, damit sie über die Runden kamen, Mama war viel allein mit dem Kind.
Jetzt hat Papa das Angebot erhalten, für einige Zeit in einem anderen Land zu arbeiten.
Und Mama fühlt sich wieder alleingelassen.
All das weiß Christa nicht.
Herrmann findet, dass es die Aufgabe ihrer Eltern wäre, ihr alles zu erklären. Deshalb sagt er nichts.
Er steckt den Spiegel wieder in den Rucksack.
Ganz unten ist noch der Schlüssel, mit dem man schlechte Träume wegsperren kann.
Christa träumt aber nicht.
"Was soll ich bloß machen, wenn sie sich nie mehr verstehen?"
Das Wort "Scheidung" mag sie gar nicht aussprechen.
"Manchmal kommen Menschen nicht mehr miteinander zurecht", sagt Herrmann. "Das ändert aber gar nichts daran, dass dich beide sehr lieb haben."
"Wenn sie mich gern hätten, würden sie sich niemals trennen", meint Christa trotzig.
"Eben doch", sagt Herrmann. "Stell dir vor, das geht so weiter, bis du erwachsen bist. Du kannst dich nicht immer verstecken, irgendwann wirst du für dein geheimes Nest zu groß. Die ewigen Streitereien musst ja auch du aushalten."
"Aber wir wären dann ja keine richtige Familie mehr", wendet Christa ein.
"Ich zeig dir was", sagt Herrmann munter.
Jetzt hat er unter all den Dingen im Rucksack doch etwas für Christa gefunden.
Wie ein Zauberer zieht er ein Päckchen Karten heraus.
Christa schaut sich die Karten an.
Sie sieht eine Mama mit einem Kind.
Sie sieht einen Papa mit zwei Kindern.
Sie sieht eine Mama mit ihrem Sohn und ihrem neuen Freund.
Sie sieht einen Vater mit Zwillingen und seiner neuen Freundin. Deren Tochter ist auch noch auf dem Bild.
Sie sieht eine Oma mit zwei Kindern, sie sieht Onkel und Tanten mit Kindern, Kinder mit Geschwistern, Halbgeschwistern, Stiefvätern, Stiefmüttern.
Und sie sieht viele Kinder, die mit den Menschen, bei denen sie wohnen, gar nicht verwandt sind.
"Es gibt unzählige Familien", sagt Herrmann. "Alle sind verschieden. Und alle sind richtig. Und genauso ist deine Familie immer eine richtige Familie. Ganz egal ob deine Eltern zusammenbleiben, oder ob sie sich trennen."
Herrmann kratzt sich am Kopf.
"Vielleicht sind deine Eltern glücklicher, wenn sie alleine weiterleben."
Christa muss über all das nachdenken.
Vielleicht hat Herrmann ja Recht.
So richtig gemütlich war es bei ihnen nie.
Und in letzter Zeit kam es ihr so vor, als hätten die Eltern sie über ihren Streitigkeiten ganz vergessen.
Ralph aus ihrer Klasse lebt auch mit seiner Mutter.
Nach den Osterferien hat er vom Besuch bei seinem Papa erzählt.
Und da haben ihn alle ein bisschen um seine zwei Kinderzimmer beneidet.
Vor allem Simon, der mit seinen beiden jüngeren Brüdern das Zimmer teilen muss.
Am nächsten Tag klopft Mama an Christas Tür.
"Kommst du mal, Liebes", bittet sie. "Wir müssen mit dir reden."
Das Herz klopft Christa bis zum Hals.
Aber als sie in die ängstlichen Gesichter ihrer Eltern blickt, erkennt sie die Liebe, die sie umgibt.
Beide machen sich große Sorgen, wie Christa die Neuigkeit aufnehmen wird.
"Ich weiß schon", sagt Christa tapfer. "Ihr werdet euch trennen.
Manchmal ist es das Beste."
Verwundert schauen die Eltern sie an.
Würdevoll dreht Christa sich um und schließt ihre Zimmertür hinter sich.
Sie weiß, dass sie noch oft weinen wird.
Aber dann wird Herrmann da sein, und ihr zuhören.
Und ihr von all den verschiedenen Familien erzählen, die es auf der Welt gibt.
Das geht die Eltern aber nichts an.
Sie haben ja auch nie mit Christa geredet.
Christa war die Letzte, die Herrmann gesehen hat.
Wo er jetzt ist, weiß ich nicht.
Aber wenn ich mal wieder etwas über ihn höre, werde ich euch davon erzählen.
Versprochen.