Viele Stunden reiten SternLicht und König Peter nun schon durch das weite Tal im Hexenland. Seit je her hat die Sonne dieses Tal gemieden. Dämmerung beherrscht das Land. Die wenigen blattlosen Bäume und Sträucher kennen keine Schatten. Das harte Gras unter SternLichts Hufen lässt sich kaum niedertreten. Überall liegen Steine und kleine Felsbrocken herum. Häufig versperren auf dem Boden liegende Baumstämme den kaum erkennbaren Weg.
SternLicht und Peter sind müde. Aufmerksam schauen sie sich nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht um.
Und wieder schlägt Peter SternLicht vor, einfach zur Burg zu fliegen.
SternLicht seufzt leise und sagt traurig: "Ach, lieber Freund. Du weißt noch viel zu wenig von unserer Welt. Hier, in Antras Land, regiert das Böse. Es hält alle Lebewesen in seinem Bann. Nachdem wir den verzauberten Wald hinter uns gelassen hatten, konnte ich meine Flügel wieder gebrauchen. Nun lähmt mich Antras Zauber. Wohl oder übel! Den Weg zur Burg Rabenstein müssen wir zu Fuß überwinden!"
SternLicht weist in den grauen Himmel. "Hast du die eigentümliche, lilafarbene Wolke gesehen, Peter? Sie begleitet uns schon Stunden lang. Ich nehme an, dass Antra uns von dort oben beobachtet. Es wird ihr ein Vergnügen sein, dauernd neue Hindernisse in unseren Weg zu zaubern. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen oder Angst zu haben, Peter. Meine Zauberkraft ist nur geschwächt, nicht verloren! Die lilafarbene Wolke wird sich im Nachthimmel verlieren. Dann fliegt Hexe Antra zu ihrer Burg zurück. Und bevor sie uns in ihrer Kristallkugel sieht, haben wir ein sicheres Nachtlager gefunden!"
Allzu gern will Peter SternLichts Worten trauen. Denn plötzlich wird es stockdunkel im Tal. So wie die Sonne meiden auch Sterne und Mond den Himmel über Antras Reich. Solch eine Finsternis haben SternLicht und Peter noch nie erlebt.
Sie wagen es nicht weiterzugehen.
"In dieser Dunkelheit werden wir niemals einen Rastplatz finden, SternLicht!", sagt König Peter ein wenig mutlos.
"Sorge dich nicht, mein Freund!", antwortet das Zauberpferdchen. Leise murmelt es ein paar fremd klingende Worte. Und plötzlich erhellt warmes Licht den steinigen Weg. Staunend schaut Peter nach unten. Bei jedem Schritt erstrahlen die Hufe des Zauberpferds.
In unmittelbarer Nähe eines Wäldchens finden die beiden endlich einen gemütlichen Lagerplatz. Vier gewaltige Baumstämme liegen auf weichem Moos. Wie von Zauberhand zu einem Viereck zusammen gefügt. SternLicht schafft es, mit einem Sprung auf dem Moos - in mitten der Stämme - zu landen.
"Hier sind wir sicher, Peter. Zumal ich immer noch ein wenig Zauberkraft besitze. Nimm mir bitte den Sattel ab und breite die Decke darunter auf dem Boden aus!"
Sekunden lang starrt SternLicht aus unwahrscheinlich weit geöffneten Augen auf die Decke. Dieses Mal erhellen die langen, silberfarbenen Wimpern die Dunkelheit. Plötzlich beginnt die Pferdedecke zu schweben. Dabei verändert sie ihre Form und legt sich wie ein Dach über das Baumstamm - Viereck.
Gemütlich ist es in dem kleinen Zelt. Eng aneinander geschmiegt sitzen Peter und SternLicht auf dem weichen Moos. Wieder essen sie Honigkraftbrot und trinken Rosen-Nektar aus einer Feldflasche. Nachdenklich betrachtet Peter das Zeltdach.
"Sieht hübsch aus, nicht wahr, Peter? Dieses Tuch ist etwas ganz Besonderes. Die Königin der Elfen hat es für mich gewebt. Und ihre Zofen haben die unzähligen, leuchtenden Sterne hinein gestickt. Mein Großvater hat diesen Stoff mit einem schützenden Zauber belegt. Wenn es sein muss, wird aus meiner einfachen Pferdedecke eine Tarnkappe. Ich habe Großvater versprochen, diesen Zauber nur in Notfällen einzusetzen. Ich denke, diese Nacht ist so ein Notfall. Hexe Antra kann hundertmal in ihre Kristallkugel schauen! Sie wird uns nicht entdecken!"
Verwundert schaut König Peter das kleine Zauberpferd an und fragt aufgeregt: "Du hast einen Großvater, Sternlicht? Wo lebt er? Weshalb bist du nicht bei ihm?"
Schweigen erfüllt das Zelt. SternLicht möchte gern antworten. Nur mit Mühe gelingt es ihm, die aufsteigenden Tränen zurück zu halten. Nach einer Weile jedoch hat es sich wieder gefasst. Beinahe verlegen lächelt es Peter an und beginnt dann mit leiser Stimme zu erzählen: "Früher lebte ich in einer großen Familie. Oh, ja! ich habe Eltern und Geschwister. Sie wohnen alle in Großvaters Land. Hast du noch nie vom Land hinter dem Regenbogen gehört, Peter? Dort leben die Zauberpferde seit eh und je.
Meinem Großvater gehört das Regenbogen-Gold. Dieses Gold ist weitaus wertvoller als alle Schätze deiner Welt, Peter. Friedlich ging es zu in unserem Land, denn Großvater war ein guter und weiser König. Eines Tages jedoch stand Hexe Antra vor dem Stadttor. Mit all ihren bösen Mächten hat sie versucht, in die Stadt zu gelangen, um das wertvolle Gold zu rauben. Sie hat es nicht einmal geschafft, in die Nähe unseres Palastes zu kommen. Großvaters Schlachtrösser haben mit ihrem Feueratem die Hexe aus dem Land gedrängt. Dennoch hat Antra uns etwas Schreckliches angetan. Sie hat meine kleine Schwester Mondlicht in Stein verwandelt und auf Burg Rabenstein in ein Verlies geworfen. Ja, Peter, Mondlicht befand sich nicht im Schloss. Sie spielte sehr gern allein am Fluss, weitab von der Stadt. Antra hatte leichtes Spiel mit ihr. Mondlicht kann fliegen, aber zaubern kann sie nicht. Nur die Erstgeborenen in meiner Familie besitzen die Zauberkraft. Meine Eltern hatten zu dieser Zeit an einer Konferenz der Magier- und Märchenwesen-Vereinigung teilgenommen. Deshalb bekam ich die Aufgabe, Mondlicht aus den Klauen der Hexe zu befreien."
Tröstend streichelt Peter dem kleinen Zauberpferd über den Kopf.
"Ach, SternLicht", sagt er liebevoll. "Es macht mich glücklich, dein Freund zu sein! Aber eines verstehe ich nicht. Weshalb bist du so lange in deiner Höhle geblieben?
Glaubst du vielleicht, dass dein Zauber schwächer ist als Antras?"
SternLicht lächelt. Die Tränen sind verschwunden. Nachsicht blitzt in den sanften, braunen Augen auf.
"Entschuldige bitte, Peter! Ich habe vergessen, dir etwas Wichtiges zu sagen. Im Regenbogenland, in der gesamten Märchenwelt, gibt es keine Zeiten. Und sobald wir Antras Schutzwall vor der Burg überwunden haben, wird meine Zauberkraft ebenso stark wie die der Hexe sein. In der Höhle habe ich fleißig gelernt. Als ich alle Zaubersprüche beherrschte, durfte ich endlich zu den Menschen gehen. Denn nur mit Hilfe eines Menschen, der noch an Märchen glaubt, kann ich die Hexe bezwingen, hat Großvater gesagt. Ja, Peter! Auch ich bin von Herzen froh, dich zu kennen! Doch jetzt sollten wir schlafen. Morgen brauchen wir all unsere Kraft!"
Tief in der Nacht wird SternLicht durch seltsame Geräusche geweckt. König Peter schläft. Behutsam schleicht SternLicht aus dem schützenden Zelt. Vorsichtshalber nimmt es den Lichtzauber von den Hufen. Kalt, sehr kalt ist die Nacht. Dunkelrote Nebelschwaden steigen auf und wabbern langsam in den kleinen Wald. SternLicht folgt ihnen. Gerade als es eine Lichtung überqueren will, hört es eine wohl bekannte Stimme. Schnell versteckt sich das Zauberpferd hinter einer hohen Brombeerhecke.
Gespannt hört es der Hexe zu. Diese schimpft unaufhörlich mit Yggs, dem Drachen.
"Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass du lauter brüllen musst, hirnloses Vieh! Und mit diesem kleinen Flämmchen wirst du den König und das Zauberpferd ganz bestimmt nicht beeindrucken. Vergiss endlich dein mickriges Feuersalamanderleben! Wahrscheinlich habe ich zu viel erwartet. Ein kleines Hirn bleibt ein kleines Hirn. Auch wenn es in einem Riesenschädel sitzt! Bis zum Morgengrauen wirst du üben, Drache! Hier im Wald hört und sieht dich niemand!", schreit Antra den furchtsam drein blickenden Yggs an.
Antra schwingt sich auf ihren Besen und fliegt davon. SternLicht wartet. Mühelos hat es die Gedanken der Hexe gelesen. Sie wird noch einmal zurück kommen.
"Armer kleiner Salamander! Nun weiß ich, wer in dem Drachen steckt. Der König und ich haben deinem Bruder versprochen, dich aus Antras Diensten zu befreien, Rosario!", möchte SternLicht dem Drachen zurufen. Doch in diesem Augenblick kreist die Hexe auf ihrem Besen unglaublich schnell um den Kopf des Drachen. "In meiner Kristallkugel habe ich das hässliche Zauberpferd und seinen Freund gesehen. Sie sind auf dem Weg zur Burg. Gegen Abend habe ich die beiden leider aus den Augen verloren. Sei wachsam Yggs! Sobald du die zwei entdeckst, fliegst du zur Burg und machst Meldung! Ist das klar, Dummkopf! Und lass dir nicht einfallen, mit ihnen zu reden. Bisher läuft alles nach meinem Plan. Oh, ja! Das Zauberpferd hält sich gewiss für schlau. Und doch tut es bislang alles, was ich von ihm erwarte, Hi, Hi! Es weiß ja nicht, aus welchem Grund ich seine Schwester und auch das Mädchen Sirra gefangen halte. Du schon, Yggs. Ach! Es wird besser sein, dir vorübergehend die Sprache zu nehmen", sagt Antra gehässig. Der große, kleine Drache duckt sich ergeben. Das bösartige Glitzern der Hexenaugen macht ihm Angst. Erleichtert schaut er der davon eilenden Hexe nach.
SternLicht läuft zum Zelt zurück. Peter schläft immer noch. Für einige Augenblicke schließt auch SternLicht die Augen. Am nächsten Morgen reiten die Freunde weiter. Von seinem nächtlichen Abenteuer hat das Zauberpferd nichts erzählt.
Ein großer Felsbrocken liegt am Wegesrand.
"Das ist aber ein sonderbarer Stein, SternLicht! In seinem Innern scheint es zu leuchten! Und sieh mal! Hier ist eine winzige Holztür. Irgendjemand scheint in dem Stein zu wohnen!" Vorsichtig klopft Peter gegen das brüchige Holz.
"Wer ist da? Wer ist da?! Freund oder Feind?" Eigentümlich hoch, fast schrill klingt die Stimme des Fremden hinter der Tür.
"Freund!", rufen Peter und SternLicht wie aus einem Munde. Geschwind öffnet sich die Tür. Ein Igel schaut heraus. Seltsam. Er trägt einen Pullover, eine Hose und an den Füßen winzige Holzschuhe.
"Juch hu! Endlich seid ihr da! Alle im Tal warten schon so lange auf euch! Ja sicher weiß ich, wer ihr seid! Der König und das Zauberpferd natürlich! Aufgeregt läuft der Igel hin und her. "Oh! Verzeihung. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Hugo, der Igel, genannt Fröstelchen. Ich friere immer. Tag und Nacht! Doch jetzt friere ich aus Freude. Die dicke Kröte hatte Recht. In letzter Zeit hat sie andauernd von eurer Ankunft gesprochen. Niemand hat der Alten geglaubt. Nun seid ihr wahrhaftig da!"
Fröstelchen bietet Peter und dem Zauberpferd Hilfe an. Er will die Freunde auf einem sicheren Weg zum Schloss geleiten. Aber nur bis dorthin! Hinein gehen will er nicht. Die Angst vor der Hexe ist allzu groß. Peter nimmt den Igel auf den Schoß.
Der kleine Kerl grunzt und pfeift vor Wohlbehagen. "Von hier oben sieht die Welt ganz anders aus!", ruft er fröhlich.
Fröstelchen kennt sich aus. Seine schwarzen, glänzenden Augen entdecken im Nu die kaum, erkennbaren Stolperfallen auf dem Weg zum Schloss.
Nach etwa drei Stunden erreichen die drei Freunde das vorläufig letzte Hindernis vor der Hexenburg. Ein schlammiger See versperrt den Weg.
"Schaut nicht so traurig, liebe Freunde. Mit dieser Schlammpfütze werden wir im Handumdrehen fertig! Dieser harmlose Zauber Antras wird uns keineswegs aufhalten können"; verspricht Hugo, genannt Fröstelchen.
Er stellt sich ans Ufer und schreit lauthals: "Ultra! Ultra! Komm rauf! Unsere Retter sind da!" Plötzlich zischt und brodelt es in der schwarzen Masse. Wellenartig klatscht der Schlamm an das Ufer. Unzählige Kröten verlassen den dunklen See. Allen voran ein sehr hässliches Tier. Peter und SternLicht trauen ihren Augen nicht. So Etwas Abstoßendes haben sie noch nie gesehen. Die Kröte setzt sich vor SternLichts Hufe. Misstrauen drücken die trüben, hervor quellenden Augen aus. König Peter schwingt sich aus dem Sattel und setzt den Igel auf den Boden. Schnell läuft Fröstelchen zur Kröte, stößt sie mit seiner spitzen Schnauze an.
"Nun sag schon was, Utra! Wo bleibt die Höflichkeit? Willst du unsere Retter nicht begrüßen?"
Ultra, die dicke Kröte, gibt sich einen Ruck. "Blubb! Blubb!", sagt sie laut. Etwas Schlamm läuft links und rechts aus ihrem breiten Maul. Ihr faltiger Halssack bläht sich auf und fällt sofort wieder zusammen.
"In der Märchenweltsprache, Ultra! Krötisch verstehen meine Freunde nicht", flüstert Hugo Fröstelchen. Ultra entschuldigt sich.
"Wisst ihr. Leider führe ich viel zu lange dieses Krötenleben. Tut mir leid, dass ihr mich als solche kennen lernt. Früher! Ja, früher war ich die schönste Seerose, weit und breit. Hexe Antra hasst schöne Dinge. Deshalb hat sie diesem herrlichen Tal, unserem See, meinen Schwestern und mit besonderem Vergnügen mir, die Schönheit genommen. Danke! Endlich bist du da, liebstes Zauberpferd! Nun wird alles gut!"
Freundlich stupst SternLicht die Kröte an.
"Ich danke dir für dein Vertrauen, Ultra. Leicht wird es nicht, die Hexe zu besiegen und aus dem Land zu vertreiben. Peter und ich können ohne Hilfe diesen Schlammsee nicht überwinden. Antras böser Zauber lähmt meine Flügel. Jetzt können wir nichts anderes tun als warten.
Ultra schüttelt ihren dicken Kopf. "Nein, nein! Ihr müsst nicht warten. Wir werden die Hexe mit ihren eigenen Waffen schlagen. Passt auf! Dieses Kunststück hat sie uns beigebracht." Mit einem Satz springen die Kröten in den Schlamm zurück. Sie formieren sich zu einer langen Reihe, die sich durch den gesamten See zieht.
Nicht eine von ihnen versinkt. Ultra fordert SternLicht auf, über die Krötenbrücke zu gehen.
Es hat geklappt. SternLicht reitet nun schnell wie der Wind. Das fröhliche Blubbern der Kröten verklingt. Mit einem Male endet der Weg. SternLicht und König Peter sind angekommen. Vor ihnen ragt ein grauer, unbeschreiblich glatter Fels in die Höhe. Auf seiner Plattform steht Antras Haus. Burg Rabenstein!