Wenige Tage vor Weihnachten
Riese Paraplü rieb sich die Hände. Was sein Fernrohr ihm von Himmeland verriet, bereitete ihm großes Vergnügen. Sein Plan ging auf. Sie hatten das Loch nicht bemerkt. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er zur Tat schreiten und nach Kandelaber zu seiner Burg Zwiebelturm zurückkehren konnte. Mit großem Gepäck. Mit ganz großem Gepäck.
Nona und Tubo
Nona und Tubo, die beiden unzertrennlichen Nesthäkchen langweilten sich meist droben in Himmeland. In Himmeland, der Heimat der Engel. Kaum zu zählen, wie oft sich die beiden auf die Erde oder ins unendliche Weltall träumten.
Als einziger Engel in ganz Himmeland hatte Nona fünf Sommersprossen auf ihrer Nase - verteilt wie auf einem Spielewürfel, einen Punkt in der Mitte und vier Punkte gleichmäßig rundherum angeordnet.
"Sommersprossenengel" wurde sie gerne von den anderen geneckt.
Kleider und Röcke waren Nona zuwider und beim Anziehen maulte sie "damit kann man ja nicht richtig toben", schlüpfte stattdessen in ihre Hose. Ihre schwarzen Haare trug die streichholzlang. Trotz ihrer Engelsflügel beherrschte sie die Kunst des Radschlagens wie keine zweite in Himmeland und schaffte fast dreißig Meter am Stück. In Himmeland ein absoluter Rekord. Engel Emilion, der älteste Engel Himmelands, behauptete steif und fest: "Ich bin mir sicher, nicht nur in Himmeland ein Rekord. Sondern im ganzen Universum."
Vor nicht allzu langer Kling-Klong-Zeit oder auch Himmelszeit war Nona im Engelstrompetenwald fünf Meter in die Tiefe gestürzt und hatte sich dabei ihren linken Flügel gebrochen. Engelsflügel wachsen aus silberfädrigem Seidengespinst und feinstem gesponnenem Engelshaar und sind sehr biegsam und elastisch. Sind sie allerdings gebrochen, können sie nie wieder wiederhergestellt werden. Seit dem Sturz hing Nonas linker Flügel schlaff herunter. Mehr als fünf Meter Fliegen am Stück schaffte sie seitdem nicht mehr.
Auch wenn es mit dem Fliegen vorbei war, blies Nona noch lange keine Trübsal. Hatte sie doch Tubo, ihren besten Freund, der ihretwegen meist auch auf das Fliegen verzichtete. War sie vom Laufen sehr erschöpft, hob Tubo sie einfach Huckepack und trug sie manches Mal ein Stück des Wegs. Oder sie bewegte sich per Radschlagen weiter. Komischerweise ermüdete sie das kaum. Trotz ihres lahmen Flügels blieb Nona ein Wildfang. Kurz nach dem Unglück hatte Tubo einen schwarzglänzenden Mondstein mit Goldsprenkel im Unterholz gefunden und ihn Nona geschenkt. Nona war darüber ganz aus dem Häuschen, gelten Mondsteine doch als Glücksbringer in Himmeland. Ihnen werden magische Kräfte nachgesagt. Dieser Mondstein begleitete Nona fortan.
Tubo war einen halben Kopf größer als Nona und hatte blonde Engelslocken, haselnußbraune Augen und war noch dürrer als Nona. Was nicht verwunderte, denn er war ein richtiger Zappelphilipp mit Ameisen im Hintern. Ruhigsitzen empfanden alle beide als Strafe. Beim Nachdenken vergrub er beide Hände tief in seine Hosentaschen und kaute auf seiner Unterlippe. Ständig träumte er von Abenteuern. Leider hatte Himmeland davon wenig zu bieten. Oft träumten die beiden im Engelstrompetenwald, geschützt unter den tiefhängenden Ästen einer uralten Engelstrompete, von Reisen bis ans andere Ende des Universums.
"Woran denkst du, Tubo?" fragte Nona, wenn er in Gedanken ganz woanders war und seine Lippe wieder zerbiss.
Mit Sehnsucht in der Stimme gestand er: "Wie wir am leichtesten aus Himmeland verschwinden könnten?"
Nona umschloss ihren Mondstein und meinte zuversichtlich. "Uns fällt noch was ein, Tubo. Dein Mondstein hilft uns bestimmt dabei."
"Er gehört dir, Nona."
"Er gehört uns." Wie zur Besiegelung eines Schwures schlug Nona fünfmal das Rad.
Durfte man doch erst als erwachsener Engel Reisen außerhalb Himmelands unternehmen. Engel verreisen höchst selten, denn sie fühlen sie sich in Himmeland am wohlsten und dank des durchsichtigen Baldachins und der großen Mauer, die Himmeland umgab, in Sicherheit. Himmeland war eine friedliche Oase inmitten des geheimnisvollen Universums. Höchstens unternahmen Engel mal einen Ausflug über die Milchstraße nach Galaxia, wo die Jojos wohnten oder bis nach Funkia zu den Sternschnuppen. Und vom Erwachsensein waren Nona und Tubo noch etliche Klingklong-Zeit entfernt.
Mehr als alles sehnte sich Tubo nach einer Reise zur Erde, um endlich die Erdenkinder kennen zu lernen, deren Bilder an Himmelands Litfasssäulen prangten. "Ich würde so gerne Jonas, Maike, Lisa, Manuel und wie die alle heißen, kennen lernen."
"Ich auch", hatte Nona sehnsüchtig erwidert.
Ebenso gern hätten die beiden eine Fahrt durch das unendliche Weltall mit all seinen Sternen, Milchstraßen und Umlaufbahnen unternommen. Viel zu langsam verrann für Nona und Tubo die Zeit bis zum Erwachsensein.
Mitunter liebäugelte Tubo sogar mit dem Himmobil, einer Gondel mit Engelsflügeln, in der Postengel Klaus in der Weihnachtszeit ständig zwischen Himmeland und Erde pendelte, um Unmengen an Wunschzettel von der Erde nach Himmeland zu befördern. Von Klaus hatte er sich mal die Technik der Gondel erklären lassen. Das Himmobil konnte fliegen, auf vier Rädern fahren und schwimmen. Je nachdem. Klaus hatte ihn sogar mal damit ein paar Runden durch Himmeland drehen lassen. Tubo war verblüfft gewesen, wie einfach das Himmobil zu bedienen war.
Ungern erinnerten sie sich an ihre Bruchlandung im letzten Herbst und schämten sich im Nachhinein des in ihren Augen stümperhaften Plans. Mit zwei Drahteseln aus dem Spielzeuglager wollten sie über die Milchstraße zur Erde zu radeln. Was sie seinerzeit nicht wussten, war, dass sich das Himmelstor nur mit dem passenden Himmelsschlüssel öffnen ließ. Da sie keinen Himmelsschlüssel besaßen, standen sie vor verschlossener Tür und mussten sie notgedrungen umkehren. "Welch eine Blamage?" hatte Tubo zwischen seinen Zähnen gegrummelt, puterrot im Gesicht vor Ärger, während sie umkehrten.
Liliane, die Hüterin des himmlischen Spielzeuglagers, hatte als erste die fehlenden Räder im himmlischen Spielzeuglager entdeckt und gleich Alarm geschlagen. Daraufhin hatten sich Himmelands Engel auf die Suche nach den beiden gemacht, die sich bereits wieder auf dem Rückweg befanden. Sie hatten keine Wahl, als dem fassungslosen Rat der Engel ihren tollkühnen Plan zu beichten.
Engel Emilion, das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, hatte gestammelt: "Ihr... ihr... ihr wolltet tatsächlich mutterseelenallein zur Erde strampeln? Ihr Knirpse ihr?"
"Ja", hatte Tubo geantwortet. Nona schlug wie zur Bestätigung dreimal hintereinander das Rad. "Hör auf damit, Nona. Du brauchst nicht abzulenken", hatte sie daraufhin das himmlische Raubein Mäschtild angeherrscht.
Engel Bernhard, der geniale Tüftler Himmelands, fragte: "Aber warum? Gefällt es euch denn nicht in Himmeland?"
Tubo hatte es herum gedruckst: "Äääh...hmm... schon, aber uns ist so langweilig. Hier passiert ja nichts. Alle sind so brav. So lieb."
Dann gestand er dem versammelten Rat der Engel seine und Nonas Lust auf Abenteuer. Verstehen konnten das Himmelands Engel nicht und die beiden mussten schwören, zukünftig von derartigen Ausflügen die Finger zu lassen.
"Ansonsten wären wir gezwungen, euch unter die besondere Obhut von Engel Mäschtild zu stellen."
Diese Drohung hatte genügt. Sie versprachen es, doch Nona knetete dabei mit der rechten Hand den Mondstein und kreuzte hinterm Rücken beim Schwur die linken Finger. Tubo vergrub seine Hände in den Taschen. Niemand sah seine gekreuzten Finger, als er schwor, solche Reisen zukünftig zu unterlassen.
Mäschtild war der unbeliebteste Engel in Himmeland. Als einzige verstand nur sie, durch ihre Finger zu pfeifen. Pfeifen erzeugt in Engelsohren ziemliche Schmerzen. Sie war bekannt dafür, nicht so zimperlich und nachsichtig mit den Kleinen zu verfahren. Und hielt ihnen schon mal eine Gardinenpredigt. In ihren Augen waren die erwachsenen Engel Himmelands viel zu gutmütig und nachsichtig.
Nachdem Tubo und Nona geschworen hatten, waren sie entlassen und durften wieder nach draußen zum Spielen. So hörten sie nicht mehr, wie Engel Bernhard anerkennend sagte: "Auch wenn ich es nicht gutheißen kann, aber die zwei haben Mut bewiesen. Und Phantasie. Davon könnten wir alle ein Quäntchen gebrauchen."
In der Tat. Tubos und Nonas Plan hatte so manchem der Engel Respekt abgenötigt. Nur Mäschtild hatten die Zähne gefletscht. Wäre es nach ihr gegangen, hätten die beiden eine ganze Woche lang die Straßen von Himmeland fegen müssen.
Zu guter Letzt traf Emilion eine weise Entscheidung: "Im nächsten Jahr werden die zwei mit in die Weihnachtsvorbereitungen eingebunden. Dann fehlt ihnen die Zeit für solche Mätzchen."
Ein schlechtes Gewissen hegten Nona und Tubo der liebenswürdigen Liliane gegenüber, die sich über die zwei Ausreißer empört hatte, was ihr Lispeln noch verstärkte: "Das hat man nun davon. Wollte ich euch eine Freude machen und ihr klaut einfach zwei Fahrräder, um abzuhauen. Noch nie ist jemand aus Himmeland abgehauen. Wie kommst du bloß auf solche Ideen, Tubo?"
Besorgt hatte sie ergänzt: "Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welche Gefahren dort draußen lauern. Seid froh, hier in Himmeland in Sicherheit zu sein."
Als Tubo wissen wollte, welche Gefahren denn dort lauerten, verdrehte Liliane die Augen. "Viele, Tubo. Schrecklich viele."
Engel Liliane mit der rosa Federboa hatte jahrelang Emilion in den Ohren gelegen und darum gebettelt, den Kleinen das Spielzeuglager bis Heiligabend zur Verfügung zustellen. Zum Dreiradfahren, Rollerblades-Fahren, Fahrrad-Fahren und argumentierte stets: Auch kleine Engel wollen spielen."
Bis Emilion und der Rat der Engel endlich zugestimmt hatten, aber zur Bedingung machten: "Aber wenn nur ein Teil in die Brüche geht, hat der Spaß sofort ein Ende."
Sämtliches Spielzeug erreichte immer in tadellosem Zustand den Erdball. Wie besessen hatten Nona und Tubo damals Fahrradfahren geübt, bis sie freihändig fahren konnten.
Die gelenkige Nona konnte schließlich auf einem Bein stehend auf dem Fahrradsattel balancieren.
Die Himmelsschlüsselwiese
Als etwas Gras über ihren missglückten Ausflug gewachsen war, lagen Nona und Tubo wieder einmal unter ihrem Engelstrompetenbaum und träumten. Immer noch wurmte Tubo der Vorfall mit dem Himmelsschlüssel. Wie konnten sie nur so dumm gewesen sein? Aus seiner Lippe trat ein Blutstropfchen aus:
"Nona."
"Ja."
"Denkst du auch daran?"
"Woran, Tubo?"
"An den Himmelsschlüssel."
Nona wusste sofort, worauf Tubo hinaus wollte und setzte sich auf. Ihr schlechtes Gewissen trat auf den Plan. "Wir haben versprochen..." Tubo lachte auf.
"Aber nicht richtig. So ein Schlüssel", fuhr Tubo fort und vergewisserte sich mit einem Blick rundum, ob jemand in der Nähe lauschte, "kann ja nicht schaden."
"Aber es ist verboten..." warf Nona ein.
"Es muss ja niemand wissen." Haselnussbraune Augen betrachteten Nona.
"Denkst du, wir sollten..." Sie traute sich nicht, weiterzusprechen.
Tubo ergänzte ihren Satz: "...uns einen Schlüssel besorgen. Ja genau."
Nona flüsterte: "Kennst du denn den Weg zur Himmelsschlüsselwiese? Die soll doch ganz tief verborgen in Himmeland liegen."
Tubo erwiderte nickend: "Ungefähr. Ich hab Klaus mal so nebenbei gefragt. Der hat mir den Weg dahin beschrieben."
Diese dringende Angelegenheit bedurfte in Tubos Augen keines Aufschubs und er vereinbarte mit Nona eine Verabredung für die kommende Nacht. "Dann suchen wir die Himmelsschlüsselwiese, Nona."
Nona schlug ein Rad. Diesmal eher aus Unbehagen als aus Vergnügen.
"Meinst du wirklich, Tubo?" Ihre Sommersprossen waren kaum erkennbar. Tubo dagegen war es ernst. Sehr ernst.
Ganz Himmeland schlief, als Nona und Tubo zur Himmelsschlüsselwiese aufbrachen. Im fahlen Mondenschein durchquerten sie den Engelstrompetenwald, folgten einem Bachlauf bis zur Quelle. Hier bogen sie links ab und marschierten weiter und gerieten tief in einen Wald, bis Tubo schließlich stehen blieb und voller Besorgnis gestand: "Ich glaube, wir haben uns verirrt, Nona. Nach Klaus' Beschreibung hätten wir schon längst an einer Wiese vorbeikommen müssen. Lass uns lieber umkehren, ehe wir den Weg gar nicht mehr zurückfinden."
Doch sie fanden aus diesem Wald nicht mehr heraus. Es war, als liefen sie im Kreis. Sie irrten und irrten umher, bis sie erschöpft, hungrig und durstig stoppten. Nona plumpste ins Moos und "ich kann nicht mehr, Tubo, mir tun die Füße weh" jammerte.
Tubo sank ebenso ermattet neben sie und kaute auf seiner Lippe. Mutlos verweilten sie und wussten nicht mehr weiter, bis Nona sich des Mondsteins in ihrer Tasche erinnerte, dem doch magische Kräfte nachgesagt wurden. Sie zog den Stein heraus und bat eindringlich: "Lieber, lieber Mondstein. Dir werden doch magische Kräfte angedichtet. Bitte, bitte hilf uns, den richtigen Weg zur Himmelsschlüsselwiese zu finden." Der Mondstein blieb stumm.
Ihnen blieb keine Wahl. Sie mussten aufbrechen und folgten einem Pfad bis zu einer Kreuzung auf einer Waldlichtung. Als sie
geradeaus weitergehen wollte, funkelten die Sprenkel des Steins plötzlich, golden wie Glühwürmchen, auf. Nona, ganz aufgeregt, war sich sicher. "Es ist ein Signal, Tubo. Ein Signal."
"Aber welches, Nona?"
"Das werden wir sehen."
Als sie nach links abbogen, blinkte der Stein nicht auf. Aber nahmen sie eine offensichtlich falsche Abzweigung, blinkten die Goldsprenkel wie zur Warnung. Dank des Mondsteines gelangten sie schließlich im Morgengrauen zu der taubedeckten Wiese und liefen weiter hinauf zu einem Berghang. In einem der Felsen klaffte ein Loch, durch das sie sich hindurchzwängten. Dann lag sie vor ihnen. Die Himmelsschlüsselwiese. Sonnengelbe Himmelsschlüssel leuchteten im Morgenlicht und lockten Bienen, Hummel und Schmetterlinge an. Nona bückte sich und wollte zwei Stängel abbrechen, als ein heftiger Schmerz durch ihre Finger zuckte.
"Au, autsch."
Sie zog die Hand weg.
Dann wollte eine glockenhelle Stimme, die scheinbar aus der Blume sprach, wissen: "Wer braucht einen Himmelsschlüssel? Nenne mir deinen Namen."
Nona und Tubo stockten verdutzt, bis Nona stotterte: "Nona aus Himmeland."
Zeit verging, ehe die Stimme antwortete:
"Nona aus Himmeland? Tut mir leid, Nona. Aber du darfst noch keinen Himmelsschlüssel besitzen, weil du noch zu klein bist. Komm in ein paar Klingklong-Jahren wieder."
Damit hatten weder Tubo noch Nona gerechnet. Flüsternd beratschlagten sie sich. Dann beugte sich Tubo zu dem Himmelsschlüssel nieder, um sie zu knicken. Ihn ereilte das Gleiche wie Nona.
"Autsch" schrie er auf und zog seine Hand weg.
Als die Blume von ihm wissen wollte, wer er sei, schwindelte er:
"Ich bin Bernhard."
"Bernhard." Es dauerte, bis sie einwilligte.
"Gut. Dir gestatte ich, einen Himmelsschlüssel mitzunehmen."
Jetzt ließ sich die Blume mühelos abbrechen. Auf dem Nachhauseweg versteckten sie den Himmelsschlüssel in dem hohlen Baumstamm im Engelstrompetenwald, der noch andere Schätze barg.
Himmeland
posaunten auf Himmelands Straßen die Klingklong. Engel Emilion hätte sich am liebsten seine Lamettahaare gerauft. Es blieben ihnen noch läppische zwanzig Stunden. Sputen, sputen, sputen und nochmals sputen war angesagt. Ansonsten würde es dieses Jahr zappenduster mit Weihnachten sein.
Klingklong ticken anders als Erdenuhren, und die Zeit in Himmeland hat Zeit. Viel Kling-Klong-Zeit. Pünktlichkeit nach Stunden, Tagen, Monaten oder Jahren ist in Himmeland bedeutungslos. Bis, ja, bis die ersten Weihnachtswünsche der Erdenkinder eintrudeln. Hatten doch die Engel vor Jahrhunderten die Zeit in Himmeland oftmals auf die leichte Schulter genommen hatten. Zur Enttäuschung der Erdenkinder waren Geschenke oftmals nicht rechtzeitig fertig geworden.
Um den Erdenkindern an Weihnachten fürderhin Enttäuschungen zu ersparen, hatte Engel Bernhard, der Tüftler und Erfinder in Himmeland, den Klingklong konstruiert. Eine melodische Spieluhr, die einem pausbäckigem, posaunespielendem Engel glich. Diese Klingklong hingen überall an Himmelands Laternen und verkündeten ab dem 1. Dezember stündlich die noch verbleibende Zeit bis Heiligabend.
"Klingklong, klingklong, so tönt der Weihnachtsgong..."
Mehr als beschaulich geht es während des Jahres in Himmeland zu. Geruhsam. Gemächlich. Vergnügt und ohne Stress leben Engel in den Tag hinein. Manchmal vertrödeln sie ihre Zeit mit Nichtstun oder entwerfen komplizierte Muster aus Wolkenwolle, die ihnen das Jahr über ausreichend zur Verfügung steht. Daraus hatte sich ein richtiger Wettbewerb entwickelt. Oder pflegen Freundschaften, musizieren. Machen lange Spazierflüge. Laden an Festtagen den Sandmann aus Heiaschnarch zu Kaffee und Kuchen ein. Einmal im Jahr erfreuen sie sich am vierstimmigen Konzert der Trällernoten, den berühmten Sängern des Universums, die ab und an in Himmeland gastieren.
Erreicht aber der erste Weihnachtswunsch Himmeland, geht ein Ruck durch Himmeland. Vorbei dann das Faulenzen. Ab dann wird im betulichen Himmeland gesägt, gehobelt, genäht, geklebt, gepinselt, gebastelt, gestöpselt. Und Engel Emilion, dem ältesten Engel, obliegt die Verantwortung für gutes Gelingen.
Anders als in den Vorjahren verwünschte Emilion so kurz vor Heiligabend die Klingklong. Befanden sie sich doch mit der Produktion weit im Rückstand. Die Summen seiner Endlosliste kannte er auswendig. Noch sage und schreibe einundzwanzig Dreiräder, einhundertundelf Puppen, neunundzwanzig Schlitten, sieben Ritterburgen, neunzehn Kaufläden mussten hergestellt werden. Dazu Bauklötze in einer fünfstelligen Zahl. Emilion wurde flau im Magen ob der Summe.
Eigentlich können Engel Tag und Nacht werkeln, ohne je zu ermüden. Ansporn hierfür sind kindliche Freude, Dankesbriefe und selbstgemalte Bilder der Erdenkinder, die überall auf Himmelands Litfasssäulen kleben. Daran ergötzen sich die Engel das ganze Jahr über.
Aber seit zwei Tagen stimmte nicht mehr, was jahrhundertelang Gültigkeit hatte. Seit zwei Tagen schien alles anders in Himmeland. Etwas Kräftezehrendes grassierte in Himmeland. Dauernde Erschöpfung, ständige Schläfrigkeit hatten um sich gegriffen und die Engel in einen Dämmerzustand versetzt.
Zum wievielten Male - Emilion hatte längst aufgehört zu zählen - diese bleierne Müdigkeit Besitz von ihm ergriff, wusste er nicht mehr. Übermächtig der Wunsch in ihm, ein kleines Nickerchen zu halten. Er versuchte sich mit Kopfrechnen "Dreiundzwanzig plus sieben sind dreißig, neun minus sieben gleich ..." wach zu halten. Zusätzlich tauchte er seinen Kopf kurz in kaltes Wasser und schüttelte sein silbernes Haar, das es nur so spritzte. Es half für einen Augenblick. Sorgen quälten ihn, dass ihm die Verantwortung für das schönste Fest der Erdenkinder über den Kopf wuchs.
Wieder hundemüde schleppte er sich durch Himmeland. Die Kraft zum Fliegen fehlte ihm. Was er beobachtete, beunruhigte ihn zutiefst. Engel waren über ihren Arbeiten eingenickt. Andere wiederum rieben sich in einem fort die Augen und gähnten laut und ungeniert. Das Arbeiten verlief im Zeitlupentempo. Wohin er schaute, über allen lag ein Mantel der Schläfrigkeit. Ganz Himmeland lief auf Sparflamme.
Als Emilion dann vierrädrige Dreiräder, runde Bauklötze und Puppenstuben, die eher Flughäfen glichen, entdeckte, befürchtete er das Schlimmste. Bisher hatten nur sie erstklassige Arbeiten, präzise und genau, abgeliefert.
Emilions Augen wanderten hinauf zum durchsichtigen Baldachin mit den Luftlöchern darin, der ganz Himmeland umspannte. Hatte sie doch dieser Riese Paraplü seit Tagen im Visier. Die Spitze seines Fernrohrs lugte fortwährend durch den Baldachin. Verrückte Gedanken kursierten in Engel Emilions Kopf. Ob der Riese Paraplü etwas gegen Himmeland im Schilde führte? Ob der popelnde Paraplü den Erdenkindern womöglich Weihnachten stehlen wollte?
Doch Emilions vage Vermutungen liefen ins Nichts. Halbmatt liebäugelte er bereits wieder mit einer Verschnaufpause, obwohl ihnen die Zeit dazu fehlte.
Poststation in Himmeland
Zum zweiten Mal an diesem Tag kippte Postengel Klaus, der laufend zwischen Erde und Himmeland pendelte, einen Sack Briefe mitten auf Engel Tubos Schreibtisch und wurde laut.
"Aufwachen, Tubo-Schlafmütze. Die Arbeit ruft."
Als sei es das Normalste auf der Welt, wie ein Maulwurf unter einem Schreibtisch hervorzukriechen, stellte sich Tubo aufrecht hin und schwindelte:
"Hab nicht geschlafen, Klaus. Sah nur so aus. Mein Bleistift war runtergefallen. Den hab ich gesucht."
Waren doch Notlügen in Tubos Augen erlaubt. Klaus nahm ihm die Ausrede nicht ab und erwiderte:
"Naja, bist nicht um Ausreden verlegen, Tubo. Obwohl Schwindeln keine der Engelstugenden ist. Allerdings bist du nicht der einzigste, der momentan lieber pennt als arbeitet. Was ist los in Himmeland? Wo ich auch hinkomme, nichts als träge Engel."
Er wies auf den Stapel Post auf Tubos Schreibtisch und stöhnte: "Dabei ist bis morgen noch ne Menge zu bewältigen. Noch zwanzig Stunden. Ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit Emilion reden."
Da Klaus offenbar über ihren Zustand Bescheid wusste, gähnte Tubo dann doch ungeniert und gestand: "Ach, Klaus. Weiß auch nicht, was mit mir los ist. Noch nie war ich soooooooooo müde. Sooooooo schrecklich müde."
Klaus hegte allergrößte Bedenken:
"Ob in dem Zustand die vielen Spielsachen noch fertig werden? Und den Kindern auf Erde fällt noch laufend was Neues ein. Ich muss noch mal runter zur Erde, Tubo. Mach dich an die Arbeit. Bis nachher."
Postengel Klaus war verschwunden.
Gähnend wühlte sich Tubo durch die Briefe und öffnete sie. Nahm es denn kein Ende? Viele Briefe hatte er schon gelesen. Aber es immer wieder spannend, zu erfahren, was die Erdenkinder für Wünsche hatten. Beeindruckend, welche Spielzeuge sich die Kinder wünschten. Jedes Jahr kamen neue Ideen dazu. Die Stapel auf seinem Tisch wuchsen und wuchsen. Ein Stapel für Schlitten, ein Stapel für Babypuppen, ein Stapel für Malbücher, ein ein Stapel für Piratenschiffe. Dazu unzählige Bücher, Memorys, Malstifte. "Bald", murmelte er vor sich hin, "bald werden Nona und ich alles hautnah erleben. Diesmal scheitert unser Plan nicht." Wenn sie doch bloß nicht so müde wären...
Es gab auch Wünsche, die die Weihnachtsengel nicht erfüllen konnten. Dieser Stapel war ähnlich groß und die Engel darüber traurig. Leider stand es nicht in ihrer Macht, es zu ändern.
"Lieber Weihnachtsmann,
mach bitte, dass Mama und Papa sich wieder lieb haben und sich nicht soviel streiten".
Lieber Weihnachtsmann,
mach, dass Papa wieder zu uns zurückkommt."
Lieber Weihnachtsmann,
ich wünsche mir nur Schnee zu Weihnachten. Damit ich mit Mama und Papa Schlittenfahren kann. Sonst nix."
Tubo erwischte sich dabei, wie sein Kopf vornüber auf die Tischplatte sank. Unter Aufbietung letzter Reserven erhob er sich und hüpfte mehrmals auf einem Bein um seinen Schreibtisch, wozu Emilion ihnen geraten hatte.
Warum war dieser Schlafensdrang so groß? Komisch. Allein Postengel Klaus schien davon verschont. Könnte er sich doch nur ein klitzekleines Minütchen hinlegen? Stattdessen öffnete er einen Brief, der ihn beeindruckte. Denn Mike aus Boston schrieb:
"Lieber Weihnachtsmann!
Ich wünsche mir eine Kuckucksuhr. Eine richtige Kuckucksuhr, wie sie mein Großvater Johann besaß. Mein Opa Johann aus Ingolstadt in Deutschland. Als ich vier Jahre alt war, flogen meine Mama und ich von Boston nach Ingolstadt. An Weihnachten. Bei meinem Opa Johann hing die Kuckucksuhr in der Küche. Sie gefiel mir so gut, dass Opa Johann sie Mama mitgeben wollte. Doch Mama weigerte sich, die Kuckucksuhr mitzunehmen. Sie mag keine Kuckucksuhren. Jetzt ist mein Opa gestorben, und ich hätte so gerne eine Kuckucksuhr. Damit ich mich immer an meinen Opa erinnern kann.
Dein Mike aus Boston."
Mike hatte in dem unteren Teil des Briefes eine Kuckucksuhr gezeichnet, die einer echten Kuckucksuhr täuschend ähnlich sah. Wünsche nach Kuckucksuhren waren eher selten in Himmeland, doch in diesem Jahr war dies bereits das zweite Mal, dass sich ein Kind eine Kuckucksuhr wünschte. Engel Bernhard würde sich freuen. Wenn er nicht zu müde war.
Die Herstellung von Uhren gehörten zu Bernhards Lieblingsbeschäftigungen und dessen Werkstatt beherbergte die ausgefallensten Werkzeuge. Für die Kuckucksuhr war Eile angesagt. Tubo packte sich die Stapel und begab sich erst zu Bernhard, den er laut schnarchend mit einem Schraubenzieher in der Hand an der Werkbank vorfand.
Nona, die Bernhard in der Werkstatt zur Hand ging, hatte ihren Kopf in ihre Armbeuge gelegt und schlief tief und fest auf einem unbequemen Stuhl. Behutsam weckte er beide und drückte Bernhard den Kuckucksuhrenwunsch in die Hand. Bernhard wirkte anders als sonst nicht gerade glücklich ob dieses Auftrages.
Dann begab sich Tubo auf die Suche nach Emilion. Allenthalben wurde Emilions Rat und Entscheidung benötigt. "Emilion, sollen die Dreiräder rot oder grün werden? Sollen wir der Puppe blaue Augen machen oder doch besser braune? Blonde Haare oder schwarz. Welche Pferderassen gehören auf einen Ponyhof?"
Mit solcherlei Fragen behelligten die Engel Emilion, während dieser durch Himmeland eilte.
Tubo fand ihn schließlich beim Spielzeuglager. "Hier bist du, Emilion", und drückte ihm den Stapel ihn die Hände.
"War auch wieder eine Kuckucksuhr dabei. Den Zettel hab ich schon bei Bernhard abgegeben."
Auf der Stelle hätte er jetzt zu Boden sinken und sich dem Schlaf hingeben können. Er gähnte mit Emilion um die Wette, der ihn hm lobend auf die Schulter klopfte: "Gut gemacht, Tubo. Da wird sich Bernhard freuen", und fügte hinzu: "falls er nicht zu müde ist." Tubo verriet ihm nicht, dass Bernhard alles andere als glücklich darüber war.
Tubo kehrte an seinen Platz zurück, und Emilion hätte sich gerne einen Moment lang in eine Ecke zum Schlafen verdrückt, als er beobachtete, wie Liliane das Spielzeuglager pflichtbewusst von außen verriegelte.
Er sprach nicht aus, was er dachte: "Reiß dich zusammen, Emilion. Was sollen die anderen von dir denken?"
Nein, er durfte sich keine Blöße geben und verzichtete unter Aufbietung sämtlicher Kräfte auf die Mütze Schlaf.
Himmeland im Tiefschlaf
Das himmlische Spielzeuglager wurde von Engel Liliane wie deren Augapfel gehütet und kaum von ihr aus den Augen gelassen. An ihrer Gürtelschlaufe baumelte der zweitwichtigste Schlüssel Himmelands. Der Schlüssel zum himmlischen Spielzeuglager.
Das Spielzeuglager hatte etwa die Größe eines Fußballfeldes und war zugestellt mit Regalen bis unter die Decke. Diese Regale waren jetzt, knapp zwanzig Stunden bis Heiligabend, zum Bersten mit dem Kostbarsten voll gepfropft, was Himmeland derzeit zu bieten hatte. Mit den Weihnachtswünschen der Erdenkinder.
Es bereitete Liliane große Freude, durch das Spielzeuglager zu streifen, denn dort fühlte sie sich als Kind. Es kam vor, dass auch sie aus kindlichem Spieltrieb heraus schon mal Runden mit dem Roller im Spielzeuglager drehte. Besonders hatten es ihr die Eisenbahnen angetan. So oft es ging, ließ sie die Züge auf den Schienen kreisen. An den Fingerfarben und dem Knetgummi hatte sie nicht soviel Vergnügen, weil sie etwas etepetete war und schmutzige Fingernägel nicht mochte.
Minütlich wurde ihre Ankunft in Himmeland erwartet. Die Ankunft der hundert Weihnachtsmänner, die alljährlich kurz vor Heiligabend via Schlitten und Rentiere bis nach Himmeland reisten, um all die Schätze des Spielzeuglagers rechtzeitig zu den Erdenkindern zu transportieren. Gehörte dies doch seit Weihnachtsgedenken zu den Pflichten der hundert Weihnachtsmänner. Liliane ging auf Emilion zu. Ihr schleppender Gang spiegelte ihre Erschöpfung wider.
"Grüß dich, Emilion. Noch unterwegs?"
"Ja."
"Siehst müde aus."
Er zwang sich zu einem Lächeln.
"Bin irgendwie hundsmüde. Du wirkst auch nicht ausgeschlafen."
Liliane wickelte ihre Federboa fester um den Hals, als könne sie damit ihrer Müdigkeit entgehen.
Sie zuckte ihre Schulter.
"So müde war ich in meinem ganzen Leben noch nicht."
Emilion gähnte hinter vorgehaltener Hand.
"Ich auch nicht, Liliane. Hast du gehört, was die Klingklong geschlagen haben und wirf mal einen Blick auf meine Liste?"
Liliane traute ihren Augen kaum, als sie die Zahlen las.
"Ojemine. So viel noch? Dabei sind es noch kaum zwanzig Stunden."
Emilions Stirn krauste sich in Sorgenfalten.
"Es wird knapp. Sehr, sehr knapp werden."
Mit Müh und Not konnte Emilion sein Gähnen unterdrücken und appellierte an Liliane:
"Vergiß um Himmelswillen nicht, das Spielzeuglager abzuschließen, Liliane."
Liliane zeigte auf den Schlüssel an ihrem Gürtel.
"Hab sogar zweimal abgeschlossen, Emilion."
"Gut so, Liliane. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste."
Einen Moment lang erwähnte er, Liliane von seinem Verdacht zu erzählen. Er entschied sich anders. Nein, er wollte sie nicht beunruhigen, doch da war wieder dieses Gefühl; wie eine Vorahnung, irgendjemand - vermutlich Paraplü - führe nichts Gutes im Schilde.
Dann sprach Liliane sprach, was derzeit jeder in Himmeland fühlte.
"Was ist bloß mit uns los? Warum sind alle auf einmal so erschöpft, Emilion? Kannst du mir das verraten?"
Dabei gähnte sie und riss den Mund bis hinten hin auf. Emilion konnte es nicht mehr unterdrücken.
"Aaaaaahhhhhhhhh."
Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Hand vor den Mund zu halten.
"Genau deswegen mache ich mir große Sorgen, Liliane. Vergleichbares gab es noch nie in Himmeland. Und du weißt, dass ich schon eine Ewigkeit in Himmeland bin."
Er plumpste auf die Bank vorm Spielzeuglager und winkte Liliane neben sich. Lieber hätte er sich gleich der Länge nach darauf ausgestreckt.
Er vertraute Liliane an: "Auf der Hut müssen wir sein, Liliane. Auf der Hut sein. Ich habe ein ungutes Gefühl, aber keine Erklärung dafür, außer das mich dieser Paraplü da oben nervös macht."
Er kratzte sich am Kopf. "Die Stunden fliegen förmlich dahin", und jetzt konnte Emilion seine Augen kaum noch aufhalten und hatte schon Schlagseite. Seine Liste war ihm aus den Händen gefallen und segelte zu Boden. Liliane zwickte ihn behutsam ihn in die faltige Wange.
"Nicht einschlafen, Emilion. Vielleicht sollte Himmeland eine kleine Pause einlegen, Emilion?"
I Halbschlaf murmelte Emilion, ehe er sich schwerfällig erhob und zum Wachbleiben um die Bank hopste: "Meinst du, Liliane?" Liliane tat es ihm gleich, nur in die entgegengesetzte Richtung und beteuerte:
"Schau dich um, Emilion. Kaum einer behält noch die Augen auf. Biete eine kurze Pause an. Das hilft vielleicht."
Emilion überlegte kurz und gab Liliane Recht. Wohin er auch schaute, kaum einer behielt noch die Augen offen. Allen ging es so wie ihm. Als dann die selbstgerechte Mäschtild, einer wandelnden Schlafmütze gleich und mit schweren Augenlidern, kommentarlos vorbeischlich, war Emilion überzeugt. Er griff sein Megaphon und verkündete: "Hört her, Weihnachtsengel. Legt eure Werkzeuge beiseite und haut euch bis zum nächsten Klingklong-Gong in eure Betten. Danach sind wir hoffentlich so ausgeruht, dass wir zügig an Restarbeiten gehen können. Eine weitere Pause kann ich dann aus Zeitgründen nicht mehr gewähren."
Das ließen sich die Engel nicht zweimal sagen und schwebten im Nu davon. Emilions Warnung - "Pause bis zum nächsten Klingklong-Gong" - ging im allgemeinen Tumult unter. Emilion verdrückte sich hinter den Ofen in der Weihnachtsbäckerei. Liliane dagegen wollte lieber in der Nähe des Spielzeuglagers bleiben und streckte sich auf der Bank vorm Spielzeuglager aus. Wenige Minuten später schlummerte ganz Himmeland tief und fest.
Alles verschwunden
Schweif, Komet und Rasensprenger. Wieso verfolgte diese Mäschtild einen sogar bis in den Traum? Viel lieber hätte Liliane von Sternschnuppe Kim geträumt. Mit dem sie in der Mittsommernacht so gern den Sternschnuppen-Salsa tanzte. Der ihr die rosa Federboa geschenkt hatte, auf die Mäschtild neidisch war.
"Lass mich in Ruh, Mäschtild", lispelte Liliane im Halbschlaf und jaulte im gleichen Moment auf: "Aua."
Wer zerrte an ihren Flügeln? Dann durchschnitt ein schriller Pfiff die Stille und schmerzte höllisch im Ohr. Sie presste sich die Hände auf die Ohren. Vorsichtig blinzelte sie zwischen den Augenlidern hervor. Dann dachte sie: "Was für ein schöner Traum und dann so was."
Eine aufgebrachte Mäschtild herrschte sie an:
"Steh gefälligst auf und sieh dir die Bescherung an."
Liliane runzelte die Stirn, denn sie verstand nur Bahnhof. Was wollte Mäschtild? Sie räkelte sich, um ihre Flügel, die vom Liegen auf der harten Bank schmerzten, zu entspannen. Dann spürte sie es. Vibrationen wie von zittrigem Espenlaub. Hatten die Klingklong etwa schon geläutet? Mit einmal war sie hellwach. War doch Flügelschlagen ein Signal höchster Aufregung bei Engeln. Ganz Himmeland schien vor dem Spielzeugdepot versammelt zu sein.
"Was ist los? Warum seid ihr hier? Wieso steht die Tür zum Spielzeugdepot offen?"
Emilion wickelte ihr die Federboa, die beim Schlafen heruntergefallen war, wieder um den Hals.
"Wieso, warum, weshalb?" blaffte Mäschtild feindselig "kapier endlich..."
"...was kapieren, Mäschtild? Warum fauchst du mich so an?"
Emilion trat dazwischen und schob Mäschtild von Liliane weg. "Jetzt ist genug, Mäschtild. Es reicht."
Mäschtild machte mit gespreizten Fingern einen Schritt auf Liliane zu, als wolle sie ihr im nächsten Augenblick das Gesicht zerkratzen.
"Leer. Unser schön gefülltes Spielzeuglager ist ratzekahl leer..." "Darf ich was sagen?" wurde sie von Postengel Klaus unterbrochen, den sie aber unsanft zur Seite schubste und anflaumte:
"Ich bin noch nicht fertig." Sie wandte sich Liliane zu:
"Alles geklaut. Geklaut, weil du vergessen hattest, das Lager abzuschließen."
"Nein!"
Liliane stürmte zum Spielzeuglager. Es war leer wie ein Eimer Gummibärchen nach dem Kindergeburtstag. Ihr Schrei gellte durch Himmeland.
"Nein. Das kann nicht sein. Sagt, dass ich träume. Ich habe einen schrecklichen Albtraum."
Plötzlich bebte sie am ganzen Körper wie ein einem Fieberkrampf und wurde schneeweiß im Gesicht. Hätte Emilion sie nicht gestützt, wäre sie zusammen gebrochen.
"Leider nicht, Liliane. Paraplü hat uns einen Besuch abgestattet" sagte Emilion und in seiner Stimme lag eine Sanftmut, als könne er sie damit trösten. "Dabei ist er derjenige, der Trost bräuchte" dachte Liliane, als sie ihn betrachtete, wie er mit hängenden Schultern vor ihr stand und etwas Hilfloses aussendete. Wirr hing ihm das Lamettahaar ins Gesicht. Er schien um Jahre gealtert. Liliane konnte nicht anders, als ihn zu umarmen. Er schluchzte leise, damit es die anderen nicht hörten. Liliane hauchte ihm ins Ohr, um ihn aufzumuntern: "Wir kriegen das schon hin, Emilion. Sei nicht so verzagt."
Glaubst du?" schniefte Emilion und wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen.
"Bestimmt." Liliane tastete ihren Gürtel ab. Vom Schlüssel des himmlischen Spielzeuglagers keine Spur. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
"Der Schlüssel ist weg. Einfach weg. Irgendjemand muss mir während des Schlafens den Schlüssel gestohlen haben."
"Ausreden", keifte Mäschtild, " nichts als Ausreden. Gesteh doch. Du hattest vergessen, abzuschließen."
Das wollte Liliane nicht auf sich sitzen lassen. Wut stieg in auf.
"Mir reicht's, Mäschtild. Ich weiß genau, dass ich das Tor kurz vor der Pause zweimal verriegelt hatte. Emilion kann es bestätigen. Oder, Emilion?"
"Hab ich mit eigenen Augen gesehen. Wir haben uns nämlich hier vorm Spielzeuglager getroffen."
Liliane spielte gedankenverloren an ihrer Federboa. "Dieser Paraplü muss die Situation ausgenutzt haben, als wir alle schliefen."
"Ppppph", machte Mäschtild verächtlich.
"Wie kam der denn eigentlich nach Himmeland?" fragte Liliane in die Runde "niemand außer den Weihnachtsmänner besitzt einen Schlüssel. Und das Tor zu Himmeland ist doch gut verrammelt. Gerade jetzt."
Der Schreck musste den Engeln so in die Glieder gefahren sein, dass sie darüber nicht weiter nachgedacht hatten.
"Gute Frage, Liliane", stellte Bernhard anerkennend fest: "Wie kam Paraplü eigentlich nach Himmeland rein?"
"Das wollte ich euch doch die ganze Zeit erzählen", druckste Postengel Klaus verlegen herum, "aber mir hört ja niemand zu. Ich bin schuld. Hab zwar nicht vergessen, das Tor abzuschließen. Aber Paraplü hat mir aufgelauert, als ich jetzt mit der letzten Fuhre Briefe von der Erde zurückkam. Er nötigte mich, ihn durch das Tor zu lassen, anderenfalls würde er mich nach Kandelaber verschleppen. Mich entführen. Ich hatte keine Wahl."
Postengel sah wirklich elend aus, als er stockend erzählte: "Allein hätte ich nichts gegen ihn ausrichten können. Zumal ihr alle wieder gepennt habt und mir keiner hätte helfen können. Notgedrungen öffnete ich ihm das Tor, und er kurvte geradewegs zum Spielzeuglager, wo er in aller Seelenruhe die Spielsachen in seinen großen Wagen packte. Ich konnte ihn nicht daran hindern. Einmal stellte ich mich ihm in den Weg, aber er verscheuchte mich wie eine lästige Fliege."
In Erinnerung daran hielt Klaus kurz inne, um fortzufahren: "Weg mit dir. Aus dem Weg. Alles, alles kommt nach Kandelaber auf meine Burg. So schrie er und schleppte alles in seinen Wagen. Dann verschwand er."
Viele der Engel waren entsetzt. Die Vorstellung, diesem Riesen höchstpersönlich in Himmeland begegnen zu müssen, erzeugten nachträglich Angstschauer.
"Ist er denn soooooooo riesig?" wollten wie wissen. In ihren Augen war Klaus ein Held.
"Und wie. Ich hab mich schrecklich gefürchtet." Klaus deutete schlotternde Knie an.
"Du Ärmster. Diesem Unhold ausgeliefert zu sein. Ist dir auch nichts passiert?", fragte Emilion mitfühlend.
Klaus beruhigte ihn. "Nein, Emilion. Er hat mir kein Haar gekrümmt. Aber Angst hatte ich schon. Mir schlotterten förmlich die Knie."
Tubo interessierte: "Wie sieht er denn aus?"
Klaus schilderte Paraplüs Aussehen detailliert und endete mit den Worten: "Und als er verschwand, popelte er in der Nase."
Die Engel schüttelten sich vor Ekel. Alle bis auf Mäschtild fühlten mit Klaus.
"Eher hätte ich den Rest meines Lebens ins Kandelaber verbracht", wetterte dagegen Mäschtild und ballte ihre Hände zu Fäusten, "als diesem Satansbraten die Tür zu öffnen. Glaubt mir, ich wäre mit diesem Popler fertig geworden."
Wie zuckten da die Engel zusammen. War doch Satansbraten das schlimmste aller Schimpfwörter in Himmeland. Nicht einer von ihnen bezweifelte, dass sich Mäschtild diesem Paraplü kampfesmutig entgegen gestellt hätte. Nicht einer.
Überdeutlich wurde Liliane die Tragweite des Raubes bewusst. Schweren Herzens schwebte sie an leeren Regalen längs.
Keine Schaukelpferde, keine Puppenstuben, keine Rennautos, keine Ritterburgen. Keine Kaufläden. Alles, was in monatelanger Kleinarbeit in Himmeland hergestellt worden war, hatte sich dieser Paraplü in der letzten Stunde einfach unter den Nagel gerissen. Wie ein mahnendes Gewissen die Klingklong. "...achtzehn Stunden habt ihr Zeit..."
Liliane entdeckte den Zettel, der zwischen zwei Regalbretter gerutscht war. Sie versuchte das Krickelkrakel zu entziffern und erläuterte:
"Von Paraplü. Er hat uns eine Botschaft hinterlassen."
Sie las vor:
"Liebe Engel aus Himmeland!
Soll ich euch mein Geheimnis verraten? Ich habe dem Sandmann einen Sack Schlafsand geklaut. Den Sand habe ich durch eine kleine Luke, die ich mit meinem Taschenmesser darein geschnitten habe, im Baldachin über euch ausgekippt. Ihr habt nichts davon bemerkt. Der Schlafsand hat wahre Wunder bei euch ausgelöst. Dadurch konnte ich mich nach Herzenslust bedienen.
Es dankt euch von Herzen
Euer Paraplü aus Kandelaber."
Jetzt hatten sie es schwarz auf weiß. Hatte dieser Paraplü sie erst mit Schlafsand außer Gefecht gesetzt, um sie dann in aller Seelenruhe auszurauben und sich dann aus dem Staub zu machen. Einen Reim, warum er es getan hatte, konnten sie sich nicht darauf machen. Denn eigentlich sind Riesen zum Spielen viel zu groß.
Dass er den Schlafsand bei Sandmännchen in Heischnarch geklaut hatte, verwunderte alle. Für so intelligent hatte ihn keiner in ganz Himmeland gehalten. Hatte Emilions Ahnung doch nicht getrogen. Sie erst ausbaldowert, dann ausgetrickst und sich schließlich mit den Spielsachen in Richtung Kandelaber aus dem Staub gemacht.
Nachdem bekannt war, welche List Paraplü angewendet hatte und Liliane somit keine Schuld trug, entschuldigte sich Mäschtild zerknirscht bei ihr. "Tut mir leid, dass ich dir die Schuld in die Schuhe schieben wollte, Liliane. Soll nicht wieder vorkommen."
Großmütig reichte ihr Liliane die Hand und erwiderte:
"Schon vergessen, Mäschtild. Lasst uns gemeinsam überlegen, was wir unternehmen könnten. Ließe doch bloß die Wirkung dieses Schlafsandes nach?"
Emilion spürte es als erster. Zögernd bewegte er seine Schulterblätter nach oben, nach unten, zur Seite, dann schwebte er - leicht wie eine Feder - durch den Raum und schien selbst davon überrascht:
"Sonderbar. Seit ein paar Momenten Ich fühle mich gar nicht mehr müde. Im Gegenteil. Frisch und munter. Wie früher."
"Ich auch nicht."
"Bin mopsfidel."
"Ja. Mir geht es auch viel besser", erklang es plötzlich von allen Seiten und um sich zu vergewissern, flogen, flitzten und hüpften die Engel hin und her ohne den Hauch einer Müdigkeit. Emilion fasste rasch einen Entschluss. Er klatschte drei Mal in die Hände und bat - er winkte die Engel näher zu sich - um ein Quäntchen Aufmerksamkeit. Dann erklärte er:
"Ein Glück, dass die Wirkung des Schlafsandes nachgelassen hat. Begeben wir uns wieder an die Arbeit" und er schwenkte seine Liste: "Es gibt noch eine Menge für uns zu tun."
Die Engel verstanden im ersten Moment nicht, was Emilion meinte. Es entstand eine Unruhe im leeren Spielzeuglager. Sie beguckten sich und sagten: "Ääääääähhh, waass?"
Emilion klatschte nochmals in die Hände.
"Wir sind durch die Schlaferei derart in Verzug, dass wir sofort mit den Arbeiten beginnen müssen. Sofort."
Der bedächtige Bernhard trat hervor. Er schüttelte befremdet den Kopf.
"Aber Engel Emilion. Das kann doch nicht dein Ernst sein? Paraplü die Spielsachen kampflos überlassen?"
Tubo schrie außer sich, dass seine Locken nur so flogen: "Bernhard hat recht. Das können wir nicht zulassen. Was sollen die Erdenkinder von uns denken."
Mäschtild schaute irritiert zu dem Knirps, der auf seiner. Unterlippe herumbiß. Für sein vorlautes Reden hätte sie ihn normalerweise gemaßregelt, aber jetzt gab sie ihm Recht. Als Zeichen ihrer Zustimmung tätschelte sie seinen Lockenkopf.
"Sogar die Kleinen empfinden es als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit", stachelte sie die Engel an. "Wir haben doch nicht geschuftet und geschuftet, um von diesem Riesen beklaut zu werden. Jagen wir diesem Popelriesen die Sachen wieder ab."
Unverzüglich hagelte von allen Seiten Zustimmung für Mäschtilds Vorschlag.
"Auf nach Kandelaber. Auf nach Kandelaber", forderten die Engel in einem Sprechchor. Für einen Moment herrschte ziemlicher Tumult und es entstand der Eindruck, als würden Himmelands Engel sich auf den Weg nach Kandelaber machen.
Emilion ergriff sein Megafon, gebot Einhalt, indem er besorgt vor unüberlegtem Handeln warnte:
"Überstürzt nichts, liebe Engel. Begebt euch nicht in unnötige Gefahr. Wir dürfen nicht die Nerven verlieren und Hals über Kopf nach Kandelaber aufbrechen. Jeden Moment werden die Weihnachtsmänner eintreffen. Vielleicht finden wir gemeinsam mit den Weihnachtsmännern eine Lösung. Ich erinnere daran, dass Mut und Abenteuerlust keine hervorstechenden Engelstugenden sind..."
"Das stimmt nicht. Nona und ich sind mutig und lieben Abenteuer", rief Tubo. "Wir würden euch das gerne beweisen. Lasst uns nach Kandelaber reisen. Bitte."
Unwillig winkte Emilion ab. "Nichts da. Halbe Kinder sollten erst mal zuhören lernen und Erwachsene nicht unterbrechen."
Mäschtild konnte nicht umhin: "Ich bin auch nicht feige. Ich traue mir ebenfalls zu, nach Kandelaber zu reisen. Egal, was unterwegs lauert. Ich fürchte mich nicht."
Tubo ballte die Faust in seiner Tasche. Warum glaubte ihnen niemand? Warum nahm man ihn und Nona nicht ernst? Er traf einen schwerwiegenden Entschluss und tuschelte etwas abseits der Engel mit Nona, die daraufhin mit dem Kopf nickte.
Emilion sagte zu Mäschtild. "Dein Mut ehrt dich, liebe Mäschtild. Aber als der älteste Engel von Himmeland trage ich für jeden von euch die Verantwortung. Und ich lasse es nicht zu, dass auch nur einer von euch sich in unnötige Gefahr begebt. Auch wenn die Erdenkinder einmal auf ihre Weihnachtsgeschenke verzichten müssen."
Mäschtild musste sich fügen, obwohl es sie wurmte. Emilion fuhr fort und erinnerte die Engel:
"Keiner von uns war je weiter weg als bis zum Sternschnuppendorf. Denkt mal nach. Wer aus unseren Reihen kennt den Weg nach Kandelaber? Uns läuft sowieso die Zeit davon. Kaum noch achtzehn Klingklong-Stunden. Angenommen, wir fänden Kandelaber rechtzeitig. Könnten wir es mit diesem Paraplü aufnehmen? Wäre es nicht zu gefährlich? Würde er alle Spielsachen wieder rausrücken? Oder hielte er uns womöglich für alle Ewigkeiten in Kandelaber gefangen? Dürfen wir ein solches Risiko eingehen?"
Waren die Engel anfänglich noch Feuer und Flamme für die Verfolgung Paraplüs, herrschte jetzt betretenes Schweigen. Im Grunde genommen gaben sie Emilion Recht. Engel waren doch etwas hasenfüßig. Keine tapferen Helden.
Tubo und Nona waren während der Diskutiererei unbemerkt davon geschlichen. Dann ergriff Liliane das Wort: "Aber was wird mit Weihnachten? Die Erdenkinder warten doch auf ihre Geschenke. Wie sollen wir den Kindern erklären, dass es dieses Jahr keine Geschenke gibt? Diese Enttäuschung - unvorstellbar."
Emilion argumentierte:
"Ich schlage vor, wir warten auf die Weihnachtsmänner und arbeiten solange auf Hochtouren, um den Rest der langen Liste abzuarbeiten. Das ist noch mehr als genug. Zumindest erhielte ein Teil der Kinder Geschenke. Ansonsten müssen wir eine Erklärung vorbereiten und auf die Erde schicken, in der wir ihnen die Wahrheit beichten. Aber ich riskiere nicht das Leben eines einzigen Engels für Weihnachten. Selbst wenn wir als Feiglinge dastehen sollten."
Notgedrungen mussten sie sich fügen und strömten ihren Arbeitsplätzen entgegen. Feiglinge hin, Feiglinge her.
Es dauerte nicht lange, bis vertraute Geräusche wie Sägen, Schneiden, Raspeln, Hobeln, Schmieden Himmeland erfüllten. Die Produktion lief wieder wie geschmiert. Selbst der Mars weit draußen spitzte seine Ohren genauso wie Mond und Saturn. Waren sie doch schon in Sorge gewesen, weil der Lärmpegel aus Himmeland zeitweilig abgeebbt war und sie sich keinen Reim darauf machen konnten.
Nona und Tubo machen sich auf den Weg
Das Ziel von Nona und Tubo war das Himmobil hinter der Spielzeughalle. Sie flitzten, flogen, rannten. Zwischendrin schlug Nona ein paar Mal das Rad. Es war Tubo noch nicht schnell genug, und er feuerte sie an:
"Schneller, Nona. Schneller. Bevor sie was merken. Wir müssen weg. Schleunigst."
Gleich darauf erreichten sie das blaue Himmobil, in das Tubo mit einem Satz hineinsprang. Nebst verschiedenen Hebeln und Knöpfen befand sich am Armaturenbrett auch ein Klingklong in Kleinformat. Der Schlüssel steckte. Tubo startete und flehte in Nonas Richtung: "Steig ein, Nona. Schnell. Zuerst müssen wir noch zum Engelstrompetenwald und die Himmelsschlüssel abholen. Beeil dich bitte."
Nona landete kopfüber im Himmobil und hatte noch nicht richtig Platz genommen, als das Himmobil bereits lautlos wie ein Heißluftballon höher und höher stieg. Die Häuser und Straßen von Himmeland wurden immer kleiner, bis sie ganz verschwanden und sie dicht unter dem durchsichtigen Baldachin dahinsegelten. Vorbei am Loch, dass Paraplü mit seinem Taschenmesser hineingeschnitten hatte. Tubos Augen blitzten mit den Sonnenstrahlen um die Wette. Er vergaß sogar das Kauen auf seiner Lippe und starrte nach unten.
"Nona, bald haben wir es geschafft. Halt Ausschau nach dem Wald."
"Vielleicht ist das Tor noch offen", warf Nona ein, "und wir könnten auf den Himmelsschlüssel verzichten."
"Das ist mir zu riskant. Wir holen auf jeden Fall den Himmelsschlüssel."
"Da, da ist der Wald", schrie Nona gleich darauf und fuchtelte wie wild mit ihren Händen. "Da unten, Tubo."
Tubo beugte sich seitwärts aus dem Himmobil.
"Ich seh ihn auch, Nona. Halt Ausschau nach einer Lichtung. Damit wir landen können."
Er manövrierte das Himmobil abwärts bis zu den Baumkronen, die er suchend überflog, bis sie eine Lichtung gefunden hatten. Hier kannten sie sich aus.
"Es ist die Lichtung nahe unseres Baumes, Tubo" freute sich Nona und zerquetschte fast den Mondstein in ihrer Hand.
Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf einen abgestorbenen Baum inmitten des Dickichts.
"Da vorne ist er, Tubo. Da vorne ist er." Die Landung war etwas unsanft. Tubo ließ die Motoren laufen, stieg aus und eilte davon, um kurz danach wieder aufzutauchen. Er überreichte Nona den Schlüssel.
"Glück gehabt. Pass gut auf. Wir dürfen ihn nicht verlieren."
Fast im Senkrechtflug ging es wieder nach oben, dann weiter nordwärts Richtung Himmelstor. Tubos Locken wehten im Fahrtwind. Nonas Herz bubberte wie doll.
Sie fragte: "Hast du keine Angst, Tubo?"
"Angst, Nona", wieherte Tubo. "Überhaupt nicht. Ich bin so froh,
endlich raus aus Himmeland zu kommen."
Nona malte sich aus, was Emilion, Liliane und die anderen wohl sagen würden, wenn ihr Verschwinden aufflog. Klitzekleine Gewissensbisse plagten sie schon. Aber das verriet sie Tubo nicht. Sie näherten sich dem Tor an der Himmelsmauer.
"Es ist verschlossen, Tubo. Wir müssen runter."
Mit der Landung klappte es diesmal besser. Tubo bat Nona: "Schließ du auf, Nona."
Nachdem Nona den Himmelsschlüssel ins Schloss gesteckt hatte, teilte sich das gigantische Holztor in der Mitte und die Torflügel schwenkten nach außen.
"Hörst du das auch, Nona?" Unweit hinter ihnen erklangen Pfiffe.
Nona stand noch am Tor. Sie drehte sich um und bekam einen Schreck.
"Es ist Mäschtild. Sie ist uns dicht auf den Fersen."
"Die hat uns grad noch gefehlt", maulte Tubo und lenkte das Himmobil geschickt durch das Tor. "Womöglich will die noch mit uns Kandelaber fahren. Nichts wie weg."
Nona hatte sich per Radschlagen ins Himmobil geflüchtet.
"Gib Gas, Tubo."
Das brauchte sie ihm nicht zweimal zu sagen. Mit einem Affenzahn jagten sie davon.
"...wartet auf mich. Ich komme mit", war das Letzte was sie von Mäschtild hörten. Dann schloss sich das Tor. Sie sahen nicht mehr, wie Mäschtild vor Wut schäumte und mit ihrem Fuß gegen das Himmelstor hämmerte und fluchte: "Diese Satansbraten."
Die Milchstraße
Geschafft. Tubo und Nona atmeten gleichzeitig auf und staunten. Tubo verlangsamte das Tempo, um sich zu orientieren. Parallel zu Himmeland erstreckte sich vor ihnen eine abschüssige vierspurige Milchstraße. Welche Richtung sollten sie einschlagen? Tubo schien unschlüssig.
"Weißt du, wo wir hin müssen? Wo dieses Kandelaber liegt?"
Tubo verneinte: "Nicht so richtig, Nona. Aber wir finden diesen Planeten. Bestimmt. Wenn wir nicht weiter wissen, fragen wir einfach. Zudem hast du doch den Mondstein, oder? Pass gut auf ihn auf. Er hilft uns im Notfall."
Dann lenkte er das Himmobil gen Westen. Sanft setzten die Räder auf der Milchstraße auf. Das Verdeck schloss er nicht. Der Fahrtwind rötete seine Wangen.
"Die Blätter sind für uns Engel ungenießbar, Tubo", erklärte Nona, die mal mit halbem Ohr einem Gespräch über die Blätter der Milchbäume zwischen Liliane und Bernhard gelauscht hatte. Tubo konzentrierte sich mehr auf die Fahrt. Die Umgebung nahm ihn ganz gefangen.
Durch eine endlose Alle von Milchbäumen, deren Blätter leicht bläulich schimmerten, marschierten im Gleichschritt links der Straße singende Trällernoten und transportierten in ihren Rucksäcken die Tonleiter, aus deren Töne ihr Gesang komponiert war. Nona und Tubo waren überrascht, den Trällernoten auf der Milchstraße zu begegnen. Die Trällernoten waren häufiger zu Gast in Himmeland und erfreuten die Engel Himmelands mit ihrem musikalischen Können.
"Mach mal langsam, Tubo", bat Nona und sagte: "Vielleicht können uns die Trällernoten den Weg nach Kandelaber erklären?"
Höchst ungern drosselte Tubo die Geschwindigkeit, denn er war so richtig in Fahrt, tat Nona aber dennoch den Gefallen. Nona lehnte sich aus dem Himmobil:
"Wohin des Wegs, ihr Trällernoten?"
"Zum Jupiter. Der feiert runden Geburtstag. Der Mars hat uns extra engagiert. Wollt ihr etwa auch dahin?"
Nona winkte lächelnd ab: "Nein. Unser Weg führt uns irgendwo anders hin. Ist euch kürzlich der Riese Paraplü begegnet?"
Die Trällernoten verneinten. Den hatten sie schon länger nicht gesehen, worüber sie auch froh waren. Denn der Bursche war zu rücksichtslos in seinem großen Wagen und eine ständige Gefahr für Fußgänger. Nona ließ nicht locker:
"Und Kandelaber? Kennt ihr Trällernoten den Planeten Kandelaber?"
Wie erschraken die Trällernoten bei dem Wort Kandelaber. Von einer Minute zur anderen wechselten sie die Gesichtsfarbe.
Das Hohe D vom Stamm Sopran machte einen Schritt aufs Himmobil zu:
"Ihr... ihr... ihr zwei wollt doch nicht etwa nach Kandelaber? Bis ans Ende des Universums?"
Als wäre es das Normalste auf der Welt, nach Kandelaber zu reisen, bejahte Tubo frank und frei: "Ja. Wir müssen dorthin. Zu Paraplü und ihm alles wieder abnehmen."
Die Trällernoten verstanden nur Bahnhof. Paraplü...Kandelaber...
Sie zuckten mit ihren Schultern. Nona klärte sie auf. Die Trällernoten waren geschockt.
"...geklaut? Alles geklaut? Euer ganzes Spielzeuglager leer geräumt?"
Tiefes C aus dem Stamm der Bässe schüttelte ungläubig den Kopf. "So ein unverfrorener Lümmel. Die Erdenkinder um ihr Weihnachten zu betrügen."
Nona wurde ungeduldig. "Kennt ihr den Weg dorthin? Es eilt. Viel Zeit bleibt uns nicht."
Trällernote Hohes D erwiderte - seine Bedenken standen ihm auf der Stirn geschrieben: "Wir kennen nur den Weg bis zum Planetarium. So weit draußen waren wir noch nicht. Bleibt weiter auf der Milchstraße, die euch geradewegs nach Galaxos führt. Von dort geht es weiter zum Sternschnuppendorf Funkia, wo ihr in der Sackgasse links abbiegen müsst ins Kometenland. Vorher kommt ihr aber noch an den ausgestorbenen Nestern Meilenstein und Bennebelt, die auf direktem Weg nach Heiaschnarch liegen, wo der Sandmann wohnt. Den trefft ihr höchstwahrscheinlich nur schlafend an. Von Heiaschnarch aus geht es weiter ins Kometenland. Dort müsst ihr euch vor den Schleiernebeln in Acht nehmen. Habt ihr Kometenland hinter euch gelassen, landet ihr umgehend beim Planetarium, sofern ihr keinen Umweg wählt. Hier wird euch Kamill, der menschelnde Roboter weiterhelfen. Der kennt sich dahinten bestens aus."
Nona bedankte sich. "Ihr habt uns geholfen. Gute Reise und bestellt Jupiter unsere besten Geburtstagswünsche."
Hohes D wurde mit einmal misstrauisch. "Sagt mal. Wieso seid ihr allein im Universum unterwegs? Ohne Emilion? Ohne Mäschtild, Liliane und die anderen? Soweit ich mich erinnere, gehört ihr doch zu den Jüngsten in Himmeland?"
Tubo druckste herum: "Ja, schon. Den anderen fehlte der Mut Aber wir müssen doch Weihnachten retten. Deswegen bin ich mit Nona unterwegs. Wir sind einfach ohne Erlaubnis abgehauen." Trällernote Hohes D blieb sprichwörtlich der Ton im Halse stecken und musste erst schlucken. "Uuujjjujjjuuuu. Ihr habt Mut? Dann viel Glück und passt gut auf euch auf."
Just in dem Moment verkündete der Klingklong im Himmobil noch siebzehn Stunden bis Weihnachten.
Nona und Tubo waren lange außer Sichtweite, als die Trällernoten singend weiterzogen. "Klingklong, klingklong, so tönt der Weihnachtsgong. Siebzehn Stunden habt ihr noch, Engel, rasch ans Werk, sputet euch, beeilt euch doch."
Einem Ohrwurm gleich erschallte die Klingklong-Melodie über die gesamte Milchstraße.
Urimor, der Urvogel
Mit wippenden Federflügeln raste das Himmobil davon. Ab und an zuckten Blitze am Sternenzelt, worüber Nona jedes Mal erschrak, weil es ihr vorkam, als würden sie von den Blitzen durchbohrt.
"Soll ich das Verdeck schließen, Nona?"
Nona lehnte sein Angebot ab und lauschte mit seitwärts gerichtetem Kopf ins Weltall. Seltsame Geräusche erfüllten die Luft. Wie Klagetöne. "Hörst du das auch, Tubo?"
"Ja".
Dooooooooiiiiiiiiiiiinnnnnnnnng. Doiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnnnnnnngggg.
Nona schaute prüfend nach links, rechts, seitwärts und nach hinten und erschrak dabei fürchterlich. Sie packte ihn am Arm:
"Tubo, Tubo. Da...da...da hinten sitzt jemand."
Tubo sah in den Rückspiegel und erschrak ebenfalls, als er in Augen wie Karfunkelstein blickte. Ein großer Vogel hatte unbemerkt auf dem Rücksitz des Himmobils Platz genommen. Dessen schwarzes Gefieder durchzogen graue Strähnen.
Dieser Vogel lächelte sie an, beugte sich zu den beiden vor und krächzte heiser:
"Gestatten. Urimor, der Urvogel. Habt keine Angst. Ich tue euch nichts zuleide. Suche nur eine Mitfahrgelegenheit. Komme soeben aus dem Flohzirkus."
Mit einem "Es juckt mich überall" pickte er in seinem Gefieder herum. Er fuhr fort: "Bin des Fliegens müde und zudem nicht mehr der Jüngste", und breitete sich gemütlich auf dem Hintersitz aus, wobei er - sich der Aufmerksamkeit der beiden sicher - gestand:
"Hab meinen zehntausendsten Geburtstag schon lange hinter mir, und heute plagt mich mein Rheuma fürchterlich. Es zwickt und zwackt dermaßen in meinem linken Flügel. Eine unerträgliche Pein, kann ich euch versichern. Dazu diese Juckerei. Und in meinen Fußkrallen hab ich Gicht." Er schnitt fürchterliche Grimassen. Vermutlich wegen der Schmerzen.
Schnell hatten Nona und Tubo ihren Schrecken überwunden.
Tubo hieß ihn gleich willkommen: "Hallo, Urimor. Willkommen an Bord des Himmobil. Schön, dich kennen zu lernen. Ich bin Tubo. Und neben mir sitzt meine beste und liebste Freundin Nona. Wir sind unterwegs nach Kandelaber, um Weihnachten zu retten."
Urimor schaute aus unergründlichen Karfunkelsteinaugen, breitete seine Schwingen aus und umschlang Tubo mit seiner linken und Nona mit seiner rechten Schwinge: "Hallo, Tubo, hallo Engelchen. Das mit Weihnachten und Kandelaber müsst ihr mir erklären."
Das taten sie. Urimor hörte sich alles in Ruhe an. Dann räusperte er sich: "Und ihr zwei seid aus Himmeland ausgebüchst? Begebt euch mutterseelenallein ins Weltall. Um das Weihnachten der Erdenkinder zu retten?"
"Da ist doch nichts dabei", meinte Tubo bescheiden und beschleunigte das Tempo des Himmobils. Das Lippenkauen hatte er total vergessen. Nona zog den goldgesprenkelten Mondstein aus ihrer Tasche und zeigte ihn Urimor:
"Schau, Urimor. Den hat Tubo mir geschenkt. Hat magische Kräfte. In Not hilft er uns weiter."
Sie reichte Urimor ihren Stein nach hinten. Der wiegte den Stein in seinen Händen.
"Schönes Stück, Engelchen. Pass gut auf ihn auf", und gab ihn Nona zurück und starrte ihr unverwandt in Gesicht. "Deine Pünktchen im Gesicht süß, ganz süß. So was hab ich noch nie gesehen."
Tubo gab die Erklärung. "Heißen Sommersprossen, Urimor."
Urimor strich mit seiner Pfote sachte über Nonas Gesicht.
"Ach, Sommersprossen heißen diese Punkte. Interessant, Engelchen."
Dann bot er sich an: "Ich kenne mich im Weltall ganz gut aus. Darf ich euch denn auf eurer Reise begleiten? Ich könnte euch so manchen guten Tipp geben und auch vor Gefahren beschützen."
"Liebend gerne, Urimor", nahm Nona sein Angebot freudestrahlend an. "Die Trällernoten haben uns zwar den Weg bis zum Planetarium beschrieben, aber sechs Augen sehen mehr als vier."
Galaxos - Mikado und die Jojos
Dieses klagende Dooooiiiiinnnnng kam immer näher. Schauerlich. Ein kirchturmhohes Schild linkerhand der Milchstraße hieß sie in Galaxos willkommen. Urimor klärte sie über das Geschrei auf: "Diese Jammerei kommt von den Jojos, den Stehaufmännchen, die in einem Burgverlies gefangen gehalten werden. In einem dunklen Schlauch mit Reißverschluss. Daraus ist ein Entkommen unmöglich. Der Reißverschluss kann nur von außen geöffnet werden."
Nona wollte wissen und hielt sich die Ohren zu: "Ist Mikado der Herrscher von Galaxos?"
"Nein. Die Jojos waren ein freies Volk ohne Herrscher, bis Mikado, der einäugige Zyklop, eines Tages in Galaxos erschien und Galaxos zu seinem Reich und die Jojos zu seinen Untertanen erklärte. Den Jojos fehlte die Kraft, sich dagegen zu wehren."
"Wie konnte er denn alle einsperren?" Tubos Augen gingen hin und her.
Plötzlich erlitt Urimor einen Hustenanfall. Es dauerte, bis er krächzte:
"Mikado ist so gut wie blind. Dafür funktioniert sein Gehör umso besser. Die Jojos können nicht aus ihrer Haut. Den lieben langen Tag hopsen und lärmen sie herum. Ein Leichtes für Mikado, sie anhand des Lärms zu orten. So fing er einen Jojo nach dem anderen, um sie in den Schlauch zu sperren. "
"Ist dieser Zyklop so grausam oder warum tat er das?" wollte Nona wissen.
"Zyklop Mikado liebt grausame Geschichten. Je grausamer desto lieber. Er befahl den Jojos, ihm schreckliche Geschichten zu erzählen. Doch die Jojos können keine Geschichten erzählen so sehr sie es auch versuchten. Sie sind Hopser versuchten. Das erboste Mikado dermaßen, dass er sie zur Strafe allesamt in diesen dunklen Schlauch sperrte. Einem Schlauch mit Reißverschluss, der nur von außen zu öffnen ist. Aus dem sie alleine nicht mehr heraus kommen. Es bereitet den Jojos allergrößte Qualen, nicht mehr hüpfen zu können und in diesem Schlauch eingepfercht zu sein. Können die Jojos weder hüpfen noch springen, werden sie krank und jammern und jammern."
Das Gejammere wurde unerträglich. So was hatten sie noch nicht gehört. "Hilfe. Helft uns. Bitte, bitte helft uns."
Diese Hilferufe trieben Nona die Tränen in die Augen. Auch Tubo wischte sich verstohlen mit der Handfläche über die Augen.
"So was Grausames. Warum hilft denn niemand den Jojos und befreit sie aus diesem Gefängnis?" Urimor kratzte sich am Kopf und gestand verlegen:
"Alle fürchten sich vor Mikado. Und davor, in diesen schrecklichen Schlauch gesperrt zu werden, aus dem es kein Entrinnen gibt."
Nona und Tubo sahen einander an und wussten, was zu tun war. Tubo nahm direkten Kurs auf Mikados Burg. Urimor bekam einen Schrecken und warnte:
"Kehr um, Tubo, ehe es zu spät ist. Mikado nimmt uns alle gefangen. Nichts wie weg von hier."
Die Hilfeschreie der Jojos gellten durch Galaxos. Doch Tubo weigerte sich und flog unbeirrt auf die Burg zu. Er bot Urimor an:
"Steig aus, Urimor, und flieg davon, wenn du Angst hast. Nona und ich werden versuchen, die Jojos aus ihrem Gefängnis befreien."
Vor den zweien wollte Urimor nicht als feige gelten, vergrub sich auf dem hinteren Sitz und gab keinen Mucks mehr von sich.
Tubo hatte sich schon einen Plan zu Recht gelegt, den er Nona und Urimor darlegte:
"Es muss alles geräuschlos vor sich gehen. Ohne einen Ton zu sagen. Wir schweben bis vor die Burg. Mikado wird uns nicht bemerken. Dann fliegen wir hinein, suchen den Schlauch mit den Jojos und öffnen diesen, damit die Jojos rauskönnen. Ab jetzt nur noch Verständigung per Handzeichen. Einverstanden, Urimor?"
"Auf in den Kampf", stöhnte Urimor und vergrub seinen Kopf im Gefieder.
Tubo landete, wie angekündigt, lautlos auf dem Burghof, wo Mikado in einem Liegestuhl vor dem Eingang döste und sie nicht hatte kommen hören. Tubo machte Nona Zeichen, sich auf seine Schultern zu setzen. Dann flogen sie an Mikado vorbei hinein. Mikado stutzte für einen Moment und richtete sich auf, als sie an ihm vorbeiflogen. Ihr Flügelschlagen hatte einen Luftzug erzeugt, der sein Misstrauen weckte. "Wer ist da?"
Mikado fuchtelte mit den Händen in der Luft "Ist da wer?" brummte er misstrauisch. Tubo, Nona und Urimor ignorierten ihn und folgten weiter dem Gejammere im Inneren der Burg. Bald erreichten sie einen unterirdischen Gang. Sie gingen zu Fuß weiter. Der Gang verzweigte sich. Es war stockfinster herunten. In der Dunkelheit leuchteten Urimors Augen aus Karfunkelstein und erhellten die Finsternis etwas. Sie sprachen kein Wort, aber es lag eine Beklemmung in der Luft und die Schreie füllten den Raum. Um ein Haar wären sie darüber gestolpert. Über den schwarzen Folienschlauch, indem es wie in einem Ameisenhaufen wimmelte. Das Geschrei war kaum noch auszuhalten. Nona und Urimor pressten sich für einen Moment die Hände an die Ohren. Dann klopfte Tubo mit seinem Fingerknöchel sachte auf die Folie und säuselte, damit Mikado nichts hören sollte:
"He, ihr Jojos da drin. Hört zu. Hier draußen sind Nona, Tubo und Urimor und wollen euch helfen. Euch retten. Könnt ihr euch mal für eine Weile ruhig verhalten. Nicht bewegen, aber bitte weiter schreien. Wir versuchen, den Reißverschluss aufzureißen."
Für den Bruchteil einer Sekunde war es mucksmäuschenstill, ehe die Hilferufe durch die Finsternis gellten. Aber die kurze Stille hatte gereicht, um Mikado auf den Plan zu rufen. Oben polterte es. Kein Zweifel, er war unterwegs zu ihnen.
Urimor wedelte mit seinen Flügeln: "Verflixt. Er hat Lunte gerochen".
Tubo zog und zerrte wie ein Besessener an dem Reißverschluss. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er flehte Nona an: "Ich schaff es nicht. Hilf mir."
Gemeinsam rissen sie am Reißverschluss. Es nützte nichts.
"Dauert es noch lange?", wollten die ängstlichen Jojos wissen.
Tubo gestand ungehalten: "Verflixt und zugenäht. Wir schaffen es nicht."
Urimor hatte sich die erfolglosen Bemühungen der beiden betrachtet. Er trippelte herbei: "Lasst mich mal ran."
Und klemmte sich den Nippel zwischen seinen Schnabel, erhob sich mit einem Ruck und flog in gleichmässigem Tempo rückwärts. Und siehe da. Der Reißverschluss ächzte, öffnete sich Zahn um Zahn, bis der erste Jojo herauspurzelte und alle anderen folgten. Es waren ihrer viele. Als erstes vollführten sie Hopser bis an die Decke. Die Stehaufmännchen ähnelten in Größe und Gestalt Gartenzwergen. Anstelle von Beinen waren ihnen Gummispiralen gewachsen. Damit ließ sich prima hüpfen.
"Was machen wir mit ihnen?" wollte Nona wissen. "Wenn wir sie hier lassen, droht ihnen das gleiche Schicksal."
Daran hatte Tubo im Eifer des Gefechts noch keinen Gedanken verschwendet. Er bis auf seiner Unterlippe herum. Nona hätte gerne ein Rad geschlagen. Sie musste sich beherrschen. Urimor schlug vor: "Nehmen wir sie mit ins Sternschnuppendorf. Dort wären sie fürs erste in Sicherheit. Dann müssen wir nach einer neuen Bleibe für sie suchen."
Tubo klatschte Urimor aufs Gefieder.
"Gute Idee, Urimor. Jetzt müssen wir sie nur an Mikado vorbeischleusen. Da hinten kommt er."
Sie sahen, wie Mikado sich wütend an den Wänden des unterirdischen Ganges längs tastete und in einem fort palaverte: "Was geht hier vor sich? Wer seid ihr?"
Tubo riet den Jojos flüsternd, während sich Nona auf seine Schultern schwang: "Springt in einem Satz über ihn hinweg. Dann nichts wie raus ins Himmobil. Aber ruhig verhalten. Absolut ruhig, bis wir Galaxos verlassen haben."
Sie ließen Mikado bis auf wenige Meter an sich herangekommen, ehe Urimor das Kommando gab: "Los!" Dann hüpften die Jojos einer nach dem anderen über Mikado hinweg, dessen Arme ins Leere griffen. Nachdem sich die Jojos am Ausgang befanden, suchten Urimor und Tubo mit Nona auf der Schulter das Weite. Mikados suchende Hände streiften kurz Nonas Flügel, die darüber erschrak und aufschrie. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihm ausweichen. Einmal in seinen Klauen, hätte sie keine Chance gehabt. Über diese Erkenntnis wäre ihr fast das Blut in den Adern gefroren, und sie klammerte sich noch fester an Tubo.
"Bleib hier, sage ich. Bleib hier."
Mikado torkelte jetzt wütend hinter ihnen her dem Ausgang zu. Im vollbesetzten Himmobil drückten sich die Jojos ängstlich aneinander, als Mikado sich dem Himmobil näherte. Ob er die Anspannung der Jojos roch? Er taumelte näher und näher und keifte:
"Wo seid ihr? Hier geblieben, ihr vermaledeiten Hüpfer, ihr Hopser. Ihr elenden."
Da für Urimor und Nona kein Platz mehr im Himmobil war, stieg Nona kurzerhand auf Urimors Flügel: "Mach es dir bequem, Engelchen. Wir fliegen voraus."
Bis auf einen Meter hatte sich Mikado dem Himmobil genähert, seine Pranken griffen schon nach dem Himmobil, als Tubo das Himmobil startete und mit vollem Schub davonflog. Sie stiegen höher und höher, bis Mikado nur noch die Größe eines Punktes hatte. Erst dann atmeten die Jojos auf. Eine fliegende Untertasse kreuzte ihre Bahn.
"Ist es noch weit bis zum Sternschnuppendorf?" fragte Nona und klammerte sich an Urimors Gefieder.
Urimor verneinte. Auf gleicher Höhe mit dem Himmobil rief er Tubo zu: "Bleib dicht hinter mir. Wir verlassen Galaxos in Kürze und müssen auf die Umlaufbahn von Saturn abbiegen."
Es herrschte reger Verkehr in der Luft. Jede Menge unbemannter Raumsonden und Raumschiffe waren unterwegs. Tubo musste höllisch aufpassen, nicht mit ihnen zu kollidieren.
Das Sternschnuppendorf Funkia
Dann gerieten sie an eine Kreuzung. Urimor fuhr seine rechte Schwinge aus. "Jetzt scharf nach rechts", krächzte Urimor und wies Tubo den Weg, der jäh abbremsen musste, um die Umlaufbahn des Saturns nicht zu verfehlen. Ab jetzt ging es wieder geradeaus. Das Licht veränderte sich, je näher sie dem Sternschnuppendorf Funkia kamen. Als sie in Funkia einfuhren, zuckte und blitzte es am Sternenzelt. Klein. Groß. Hell. Bunt. In allen Farben und Formen. Es regnete regelrecht kunterbunte Funken.
"Mit einem Feuerwerk begrüßen die Sternschnuppen ihre Gäste", verriet Urimor. Nona war verzaubert. Liliane hatte zwar davon erzählt. In Wirklichkeit war es noch viel schöner. Hier im Sternschnuppendorf lebte Kim, ein Freund Lilianes. Immer zur Mittsommernacht machten sich Liliane und andere Engel auf nach Funkia, um eine Nacht lang den Mitternachtswalzer zu tanzen. Hatte doch Sternschnuppe Kim extra die Strapazen der beschwerlichen Reise zum weit entfernten Federboa-Berg in Bennebelt auf sich genommen. Dort wuchsen die seltenen rosa Federboas, von denen er Liliane eine als Liebespfand gepflückt hatte. Liliane trug diese rosa Federboa Tag und Nacht.
"Niemand tanzt besser Walzer als Kim", schwärmte sie, wenn sie aus dem Sternschnuppendorf zurückkehrte und von Sternschnuppe Kim träumte. Eine lilafarbene Sternschnuppe rannte aufgeregt auf sie zu: "Hallo, ich bin Kim. Ihr kommt aus Himmeland? Ist Liliane auch dabei?"
Mit seinen Augen durchsuchte er das Himmobil. Wie enttäuscht er war, Liliane nicht anzutreffen. Sein dunkles Lila verblasste. Inzwischen war das Himmobil umringt von Sternschnuppen. Die Jojos waren mittlerweile des Stillsitzens überdrüssig und hüpften wie die Wilden durch die Gegend. Nona erklärte den Sternschnuppen: "Wir sind unterwegs nach Kandelaber zum Riesen Paraplü, der den Erdenkindern Weihnachten stehlen will. Das können wir nicht zulassen. Weihnachten ist doch das schönste der Erdenfeste."
Die Sternschnuppen berichteten, Riese Paraplü sei unlängst in seinem großen Wagen vorbeigebrettert. Allerdings nicht in der üblichen Geschwindigkeit.
Für Tubo war klar, warum. "Sein Wagen war voller Spielzeug. So voll gepackt ist es vorbei mit der Raserei."
Nona umschlang Kim, der niedergeschlagen schien und munterte ihn auf: "Soll ich dir was verraten, Kim? Liliane verlässt nie ohne deine Federboa das Haus."
"Wirklich?"
"Wirklich."
Sternschnuppe Kim leuchtete wieder dunkellila. Er wollte wissen:
"Und die Jojos begleiten euch nach Kandelaber?"
Urimor, Tubo und Nona verneinten.
"Sie suchen eine neue Bleibe", sagte Urimor. "Auf Galaxos ist es derzeit noch zu gefährlich. Diesem Mikado ist nicht zu trauen." Seine Augen schweiften durch Funkia. "Sagt, könnten die Jojos eine Weile bei euch bleiben?"
Die Sternschnuppen protestierten. "Bei uns im Sternschnuppendorf ist es zu eng. Wir haben ja fast selbst kaum noch Platz und suchen schon nach Alternativen. Funkia platzt bereits aus allen Nähten."
Kim überlegte einen Augenblick. Er hatte eine Idee. "Gegenüber von Funkia liegt Bennebelt, das nur über eine Hängebrücke erreichbar ist. Die Bewohner von Bennebelt sind vor ewigen Zeiten weitergezogen und Bennebelt verfällt täglich mehr. Platz gäbe es dort genug für die Jojos. Und ne Menge Arbeit, bis alles wieder in Ordnung wäre."
Tubo wollte wissen: "Wären die Jojos denn dort in Sicherheit?"
Kim versicherte: "Bestimmt. Kaum jemand traut sich über diese wackelige Hängebrücke. Selbst wir vermeiden es möglichst, nach Bennebelt zu reisen. Höchstens, um rosa Federboas zu pflücken."
"Wärt ihr damit einversta...?"
Urimor hatte noch nicht zu Ende gefragt, als die ersten Jojos bereits über die Ruckelbrücke hopsten. Die Hängebrücke schwankte gefährlich hin und her. Dooooooiiiiiiinnnnnggggg. Doooooiiiiiiiinnnnng. Nona wurde schwindelig vom Zugucken.
Jenseits der Brücke bedankten sich die Jojos mit einem lang anhaltenden Doooiiiiinnnng-Konzert für die Rettung. Nona konnte nicht umhin und musste gleich fünfmal hintereinander das Rad schlagen.
"Hoppla, Engelchen. Du bist ja eine richtige Artistin", lobte Urimor.
Tubo drängte zur Weiterfahrt. Kim flüsterte Nona ins Ohr:
"Richte Liliane meine Grüße aus, wenn ihr wieder zurückkehrt nach Himmeland. Sie soll mich wieder besuchten. Ich habe Sehnsucht nach ihr. Und viel Glück für euch."
Auch die anderen Sternschnuppen riefen im Chor: "Viel Glück. Ihr seid so mutig. Das würden wir uns nie trauen."
Nona und Urimor nahmen wieder Platz im Himmobil. Als sie davonfuhren, prasselte ein regelrechter Funkenregen auf sie herab. Barg der Funkenregen einen Zauber, der ihnen besondere gut tat? Sie fühlten sich seltsam erfrischt.
Heiaschnarch
Zum Abschied drehte Tubo eine Schleife über Funkia und nahm durch die Sackgasse Kurs auf Heiaschnarch. Meilenstein, ein verschlafenes Nest im Weltall, ließen sie links liegen.
"Sind wir noch weit von Heiaschnarch entfernt, Urimor?" fragte Nona.
"Zirka eine halbe Klingklong-Stunde. Es geht auch immer geradeaus. Kannst dich etwas entspannen, Tubo, und die Fahrt genießen."
Sie schwebten schweigend dahin und genossen die Landschaft aus Extrawürsten, den typischen Bäumen dieser Region mit einer Baumrinde wie schwarz-weiß punktierte Pelle. Darin nisteten Galgenvögel und Grünschnäbel, zu deren Leibspeise Leuchtkäfer gehörten, die hier in Hülle und Fülle vorhanden waren. Urimor winkte ihnen zu.
"Ihr kennt euch, Urimor", fragte Nona.
"Natürlich, Engelchen. Ist noch junges Gemüse. Nicht halb so alt wie ich."
Dann lachte er, bis sein Karfunkelsteinaugen blitzten: "Hahahaha. Ihr seid ja auch noch richtige Grünschnäbel. Aber ganz schön mutige Grünschnäbel. Das muss der Neid euch lassen. Ich bin so froh, euch kennen gelernt zu haben."
Er betrachtete Nonas Flügel intensiv. "Sag mal, Engelchen, was ist mit deinem linken Flügel passiert? Wie ist der denn gebrochen?"
Nona schilderte ihm den Sturz aus dem Engelstrompetenbaum. Den nicht mehr zu heilenden Engelsflügel, der ihr aber keinen großen Kummer bereitete. "Manchmal kann ich schneller Rad schlagen, als Tubo fliegen kann. Stimmt doch, Tubo?" Tubo nickte. "Das stimmt. Nona ist eine erstklassige Radschlägerin. Ich lern das nie."
"Und wenn ich müde vom Laufen bin, trägt mich Tubo ein Stückchen. Es wäre zwar schön, wenn ich Fliegen könnte, aber das geht nun leider nicht mehr."
Urimor krächzte: "Quatsch. Mit gebrochenen Flügeln kenn ich mich aus. Zuhause hab ich eine Salbe, die heilt gebrochene Flügel. Wenn wir aus Kandelaber zurück sind, komm ich nach Himmeland und bring dir Salbe und Heftpflaster vorbei. Die machen deinen Flügel wieder gesund, Engelchen. Ich, Urimor, Kann doch nicht zulassen, dass Engel nicht mehr fliegen können."
Nonas Augen strahlten und ihre fünf Sommersprossen wurden eine Spur dunkler. "Ehrlich, Urimor? Das wäre super."
"Wenn ich es dir sage, Engelchen. Meine Quacksalbe und mein Heftpflaster sind reinste Wundermittel und helfen hundertprozentig. Ein Klacks für Urimor... nein, äääh, ein Klecks für Nona."
"Oder wir besuchen dich mal zuhause."
Nona verschwand nach hinten ins Himmobil und konnte nicht umhin, Urimor zu umarmen, bis dieser nach Luft japste. Selbst der Fahrtwind schaffte es nicht, das Strahlen aus Nonas Gesicht zu pusten.
Tubo flog weiter landeinwärts, vorbei an Nachtschwärmern und Drachenfliegern. Urimor warnte:
"Über Heiaschnarch treiben Wirbelwinde ihr Unwesen. Ich rate dir daher zu Landung. Wir müssen auf dem Landweg weiter und auf der Hut sein. Am besten verschwinden wir anschließend durch die Hintertür, die nur der Sandmann kennt."
Er fuhr fort: "Seht ihr die Leuchtbojen dort vorne. Folge denen, Tubo, die führen uns direkt nach Heiaschnarch."
Urimor konzentrierte sich jetzt zusammen mit Tubo auf die Landung. Sie setzten butterweich auf sandigem Hügelland auf, das opalen schimmerte.
Aufmerksam rollten sie durch Heiaschnarch. Versteckt zwischen Hügel entdeckten sie prallgefüllte Sandsäcke. "Hier hat Paraplü einen Sack Schlafsand geklaut", erboste sich Nona noch im Nachhinein.
"Soviel Schlaf- und Traumsand. Ganz Heiaschnarch nur Sand", staunte sie, griff eine Handvoll und ließ die daunenweichen Körner durch ihre Finger rieseln.
"Jedes Körnchen beinhaltet einen schönen Traum", erklärte Urimor.
"Soviel Träume." Nona schluckte.
"Vorsicht, Nona. Damit kein Sandkörnchen in unsere Augen kommt, sonst versinken wir wieder in einen Tiefschlaf. Dann wäre es endgültig Aus mit Weihnachten."
Tubo schloss sicherheitshalber das Verdeck des Himmobils. "Sicher ist sicher."
Urimor gab ihm Recht. "Ich hab bei meinem ersten Besuch auf Heiaschnarch auch Lehrgeld bezahlen müssen. Damals hab ich drei Tage hintereinander geschlafen. Seitdem bin ich nie mehr ohne Augenbinde in Heiaschnarch unterwegs."
Zum Beweis griff er unter sein Gefieder und zog ein buntkariertes Tuch hervor.
"Wir müssen Ausschau nach dem Sandmann halten. Der weist uns den Weg ins Kometenland. Haltet die Augen offen. Um diese Tageszeit könnten wir ihn hier draußen antreffen. Er bereitet sich bestimmt für seine nächtliche Tour zur Erde vor. Wie gut, dass der Sandmann immun gegen Schlafsand ist."
Drei Augenpaare suchten das Gelände ab, und es war Nona, die ihn aufspürte. "Da...da...dahinten. Zwischen den Hügeln. Eine Zipfelmütze."
Tubo lenkte das Himmobil westwärts, in der eine Mütze auf- und abwippte. Er stoppte direkt vor Sandmanns Füßen, der bei ihrem Anblick erschrocken einen Satz zur Seite machte und mitsamt Schaufel kopfüber in einem Sandhaufen landete. Nona, Tubo und Urimor lachten schallend, weil es so komisch aussah, wie Sandmann mit den Beinen nach oben strampelte. Nona und Tubo befreiten ihn aus der misslichen Lage. Sandmann schüttelte sich und schimpfte: "Wie könnt ihr nur den Sandmann derart erschrecken?"
Dann erkannte er Urimor. "Ach, du bist es, alter Haudegen. Was treibt dich denn schon wieder nach Heiaschnarch? Wieso bist du in Begleitung zweier halber Engel?"
Urimor legte Sandmann seine Schwinge auf die Schulter. "Gemach, gemach, Schlafbote. Fragen über Fragen. Darf ich dir vorstellen? Nona und Tubo aus Himmeland. Sie werden dir den Grund unseres Hier seins erklären."
Nona berichtete, wie Paraplü sie mit Schlafsand eingelullt hatte und sich daraufhin alle Spielsachen unter den Nagel gerissen hatte. Sie schloss mit dem Satz: "Den Schlafsand hat dir Paraplü hier in Heiaschnarch geklaut."
Sandmännchen machte Stielaugen. Er wurde wütend und schimpfte:
"Dieser popelige Popelknubbel auf seiner Burg Zwiebel... Zwiebelkuchen... Zwiebelschal... Zwiebeltopf... Zwiebel..."
Tubo half ihm weiter: "Zwiebelturm."
Sandmann wiegte irritiert den Kopf und drohte: "Genau. Zwiebelburg. Kommt mir dieser Popelaugust aus Kandelaber noch mal unter die Augen, werde ich ihm eine gehörige Prise Schlafsand verpassen, dass er die nächsten tausend Jahre nicht mehr wach wird. Hat man je so was gehört? Den Sandmann zu beklauen. Aaaaah, nicht nur den Sandmann. Auch die lieben Engel aus Himmeland, die sich doch so für die Erdenkinder abrackern, damit Weihnachten ein tolles Fest wird. Diesem Tatzelwurm werde ich den Kopf waschen, das verspreche ich euch."
Sandmännchen hatte sich in Rage geredet. Nach und nach beruhigte er sich und sagte: "Hätte ich eine Ahnung davon gehabt, hätte ich euch ein Gegenmittel verschafft. Wackelpeter hilft genauso gut wie zehn Purzelbäume."
Tubo wollte wissen: "Oh, Wackelpeter. Was ist das?"
"Eine Mischung aus Wackelpudding und Petersilie. Ich schreib euch das Rezept für alle Fälle auf."
"Klingklong, klingklong, so tönt der Weihnachtsgong. Fünfzehn Stunden habt ihr noch..." Der Klingklong erinnerte sie daran. Sie mussten sich wirklich sputen.
Urimor bat: "Geleite uns bitte durch den Hinterausgang, Sandmann. Wir hatten keine Lust auf Wirbelwind. Die Zeit drängt, wie du gehört hast."
Sandmann schnallte sich einen Sack Schlafsand auf den Rücken und geleitete sie sicher über einen Trampelpfad aus Heiaschnarch hinaus. "Haltet euch links. Eine halbe Tagesreise, ehe ihr ins Land der Kometen und Schneemänner gelangt. Auch Minuspol genannt. Gute Reise. Und kommt gesund zurück."
Kometenland, Schleiernebel und Tipitaka
Der Wind hatte aufgefrischt, und es war merklich kühler geworden. Tubo hatte sich für die Straße durchs Kometenland entschieden. "Dann sehen wir mehr von der Landschaft als wenn wir fliegen."
Nona und Tubo kuschelten sich enger in die Sitze des Himmobils. Sie fröstelten im Gegensatz zu Urimor, den sein Gefieder wärmte.
"Uuuih, ist das kalt", jammerte Nona und Tubo schloss fürsorglich das Verdeck. Er schaltete die Heizung ein. Wenig später war es mollig warm im Himmobil. Nach drei Klingklongstunden erreichten sie das bergige Kometenland. Sowohl Nona als auch Tubo waren fasziniert von der bizarren Eislandschaft und den Unmengen an Eispusteblumen. Schnee und Eis hatten sie noch nie gesehen. Nadelscharf stachen die Gipfel der Berge hervor. Und Schneemänner, soweit das Auge reichte, die sich im tiefen Schnee wälzten und kugelten. Für einen Augenblick nahm ihnen Schneegestöber die Sicht. Ein Teil der Schneemänner fing die Schneekugeln auf, die immerfort durch die Luft sausten und türmten sie Gipfeln, die in schwindelerregende Höhen wuchsen. Manche Schneemänner zogen auf Schlittschuhen ihre Kreise in den Gletschermulden. An den Bergen klebten Eiszapfen so groß wie Kirchtürme. Nona hätte gerne einen Strauß Eispusteblumen gepflückt und Emilion mitgebracht. Aber sie wäre auf der Stelle zu Eis erstarrt, erfroren, hätte sie das Himmobil verlassen. Es herrschte eine Grabesstille.
"Schade, dass ich nicht fühlen kann, wie kalt der Schnee ist."
Noch ganz versunken in die Schneelandschaft, erreichten sie die Grenze und damit auch die berühmt-berüchtigten Schleiernebel.
Urimor hatte geraten: "Bald lernt ihr die Tipitaka kennen. Zeigt um Himmelswillen keine Furcht. Sonst sind wir verloren. Tipitaka ernähren sich ausschließlich von Angst."
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sich die Schleiernebel in Tipitaka zu irrwitzigen Fratzen mit sechs Augen und drei Nasen und Riesenmäulern verformten und sie die gleich zu verschlingen drohten. Nona drückte sich ihre Faust in den Mund, um nicht loszuschreien und Tubo konzentrierte sich auf den Weg und vermittelte den Anschein absoluter Gelassenheit. Schneller als sie aufgetaucht waren, verschwanden die Tipitaka wieder. Die drei atmeten erleichtert auf.
"Noch mal gut gegangen. Danke für den Tipp, Urimor."
Nona strich ihm übers Gefieder. "Was hätten wir nur ohne dich gemacht. Wären sicher längst unterwegs nach Nimmerwiedersehen oder Inferno oder sonst wo verschollen im Weltall."
Urimor lächelte und orakelte: "Ihr hättet den Weg auch gefunden. Da bin ich mir ganz sicher. Obwohl es mehr als leichtsinnig von euch Kindsköpfen war, allein den weiten Weg durchs Weltall zu riskieren. Vielleicht war es kein Zufall, dass wir uns begegnet sind."
Er beugte sich zu Tubo: "In Kürze wechseln wir wieder auf eine andere Umlaufbahn. Ich geb dir rechtzeitig Bescheid."
Hängebacken, Igelkakteen, Öre-Göre
Sie glitten bedächtig durch den Nebel, der sich jählings lichtete und gleißendes Sonnenlicht sie blendete. Urimor sichtete die Umgebung. Er schien ratlos. Wohin nun? In welche Himmelsrichtung. Urimor kommandierte: "Weiter geradeaus, Tubo."
In rasantem Tempo jetteten sie weiter und gerieten urplötzlich in einen Korridor aus Hängebacken in Windhosen. Diese Hängebacken bespuckten sie grundlos mit Igelkakteen, die aus ihren Hälsen hervorquollen. Zum Glück prallten die Igelkakteen am Himmobil ab. Tubo stoppte. Was sollte er tun?
"Fahr weiter, Tubo, und ignorier diese ungezogenen Stachelmonster", riet Urimor. "Diese Spuckerei hört eh gleich wieder auf. Denen geht nämlich recht schnell die Puste aus."
Dann gestand er: "Hätte um diese Jahreszeit nicht mit dem Angriff der Hängebacken gerechnet. Sie sind meist im Sommer aktiv und im Winter eher träge. Ich hab früher schon mal hautnah Bekanntschaft mit den Igelkakteen geschlossen. Hat Wochen gedauert, bis ich alle Stacheln los war. Kann gut und gerne darauf verzichten."
Nona und Tubo wunderten sich erneut, was für seltsame Geschöpfe es doch gab. Weit, weit entfernt ertönte eine Fanfare.
"Das ist Öre-Göre, der Turmbläser", erklärte Urimor.
"Öre-Göre ist der universale Troubadour. Er spielt Trompete. Und zwar am liebsten auf Türmen. Deswegen heißt er überall der Turmbläser."
Hingerissen lauschten sie seinem Spiel, das sie verzauberte. Entgegen aller Vernunft lenkte Tubo das Himmobil in die Richtung, aus der die Töne erklangen. Nona spitzte die Ohren. Die Fanfare kam näher. Um ein Haar hätten sie Öre-Göre in einer Zick-Zack-Kurve überfahren. Gerade noch rechtzeitig schaffteTubo eine Vollbremsung.
"Heute hätte mich Riese Paraplü schon um ein Haar überfahren",
beklagte sich Öre-Göre bei Urimor nach einer Schrecksekunde. Tubo entschuldigte sich.
"Tut mir leid, mein Freund. Aber wir sind in Eile. Eine Verschnaufpause ist nicht drin. Die Zeit drängt."
Öre-Göre erfuhr auch, warum. "Und ihr zwei wollt Weihnachten retten, indem ihr diesem Nasenpopler alles wieder abjagt?"
"Und die Ehre der Engel retten", betonte Tubo. "Ja", versicherte Nona. Trotz ihrer Zeitknappheit konnten sie nicht umhin, Öre-Göres Ständchen zu lauschen.
"Extra für euren Mut", versicherte ihnen Öre-Göre anerkennend und blies querüber in die Tasten und entlockte seinem Instrument herrliche Melodien. Die Akkorde purzelten aus der Trompete und verwandelten sich in bunte Glaskugeln, die davon rollten. Hätte der Klingklong nicht den Zauber beendet, hätten sie darüber die Zeit vergessen. Sie bedankten sich bei Öre-Göre für das Konzert. Nona lud ihn nach Himmeland ein. "Für Zerstreuung sind wir in Himmeland immer dankbar und Gäste bei uns hochwillkommen."
Öre-Göre versprach hoch und heilig, sie dort einmal zu besuchen.
Aus Argwohn hatte sich Urimor für einen kleinen Umweg über Raba-Raba, dem Land der Sterngucker, entschieden.
"Biege dort vorne hinter der Krümmung ab. Ich traue den Meteoren nicht für fünf Monde über den Weg."
Nona und Tubo erfuhren, dass Meteoren gefährliche Gerölllawinen waren, die manchmal wie aus dem Nichts auftauchten und auf ihrem Weg ausnahmslos alles unter sich begruben.
"Dafür brauchen wir etwas länger, sind aber sicher."
Die Sterngucker nahmen keine Notiz von ihnen. Sie hatten Giraffenhälse und waren im Universum unter dem Namen Wendehälse bekannt. Unablässig starrten sie nach oben zu den Gestirnen und hatten für nichts anderes Augen als den Sternenhimmel. Ihre Köpfe wanderten mit den Sternen. Redeten sie, quollen Sprechblasen aus ihren Kehlen. Als der Klingklong noch elf Stunden verkündete, schnellten ihre Hälse nach hinten, um sich sofort wieder den Sternen zuzuwenden. Ohne Verzögerung durchquerten sie Raba-Raba. Urimors Zuversicht wuchs mit der Quellbewölkung rundum.
"Jetzt sind wir gleich beim Planetarium. Noch durch die Quellbewölkung hindurch und ihr könnt es sehen."
Nona hockte wie auf Kohlen. Auch Tubo wurde ganz hibbelig. "Und vom Planetarium ist es nicht mehr weit bis nach Kandelaber, Urimor?"
Urimor tastete ihren gebrochenen Flügel ab. "Ja, Engelchen. Vom Planetarium aus noch durchs Seifengebirge und das Nadelöhr. Dann endlich sind wir in Kandelaber."
Sie überquerten die Schallmauer, die über und über mit Leuchtmoos und Mauerblümchen bewachsen war.
Dann präsentierte es sich ihnen. Das Planetarium mitten im Universum unter der gigantischen Glaskuppel, flankiert von Spagatkäfern. Inmitten einer Lichtung gelegen.
Das Planetarium
"Stopp! Zutritt nur für Plumbum" prangte in großen Lettern auf einem Schild vor dem Planetarium.
Nona und Tubo gafften. Plumbum? Was sollte das sein? Wie sie so dastanden und rätselten, entpuppte sich Urimor wieder mal als Retter in der Not. "Plumbum sind Weltenbummler. Weltreisende."
Nona interessierte: "Oh, woher weißt du da das?" Urimor schmunzelte und meinte geheimnisvoll.
"Ich kenne den Anfang der Welt, Engelchen, und noch vieles mehr. Und ihr dürft euch ab jetzt mit Fug und Recht auch Weltenbummler schimpfen."
Er forderte sie auf. "Hinein mit euch. Folgt mir."
Urimor kannte sich aus. Durch eine Drehtür gelangten sie ins Innere des Planetariums, so groß, das sie sich hätten verlaufen können. Hinter der Drehtür befand sich eine Hinweistafel nahe einer Lichtschranke, die vor Elektroschocks beim unrechtmäßigen Übertreten warnte. Das flößte Tubo und Nona Angst ein, und sie wagten nicht, darüber zu treten, als aus einem Nichts die Frage einer blechernen Stimme kam: "Wer seid ihr?" Ihre Augen suchten vergebens. Urimor antwortete: "Nona und Tubo aus Himmeland sowie ... hier krächzte er eindringlich "... Urimor, der Urvogel. Mach endlich auf."
"Habt ihr das Schild vor der Tür gelesen? Betreten erlaubt nur für Plumbum?"
Urimor beteuerte: "Und ob wir Plumbum sind, du Blechbüchse. Ich bin schon seit tausenden von Jahren ein Plumbum. Mach auf!" Doch die Stimme gab sich damit noch nicht zufrieden:
"Habt ihr die Bekanntschaft mit den Tipitaki gemacht? Und den Igelkakteen? Ist euch Öre-Göre begegnet? Sagt, wie geht es den Jojos?"
"Dieser Roboter raubt mir noch den letzten Nerv", schimpfte Urimor und bestätigte dennoch alles, was die unbekannte Stimme verlangte. "Und die Jojos sind endlich befreit." Nach einer längeren Pause erwiderte der Unbekannte:
"Ich verbiete mir solche Beleidigungen wie Blechbüchse und erwarte eine Entschuldigung. Ansonsten kann ich Sie nicht einlassen."
Urimor nuschelte in seinen Schnabel und verdrehte die Augen. "Tschuldigung."
Daraufhin öffnete sich die Schranke. Sie betraten eine verglaste Wabenhalle, die von Unmengen kleiner roten Lampen beleuchtet wurde. Die Halle war bis auf eine Metalltreppe unmöbliert. Die Treppe, die sich als Rolltreppe entpuppte, führte sie geradewegs ins Zentrum des Planetariums. Als sie ankamen, liefen ihnen Miniatur-Menschen, über und über mit Buchstaben bekleckert, über den Weg. Deren Nasen steckten tief in Bücher. Sie sahen aus, als fräßen sie Buchstaben. Nona und Tubo starrten sie an, überrascht, Lebewesen zu begegnen, die ihnen ähnlich waren.
Urimor lieferte ihnen die Erklärung. "Leseratten. Auch Buchstabenfresser genannt. Wisst ihr, das Leseratten vom Aussterben bedroht sind?"
Weder Nona noch Tubo war das bekannt. Plötzlich tauchte eine Gestalt, die ganz entfernt an einen Roboter erinnerte, aus der Dunkelheit auf, kam auf sie und stellte sich als Kamill, den Leiter dieses Planetariums vor. Er reichte ihnen die Hand, die sich kühl anfühlte und machte eine perfekte Verbeugung. Wie zwanghaft wienerte er mit einem Staubtuch unablässig über seinen Körper, der wie poliert glänzte. Urimor spottete, ohne das Kamill es hören konnte:
"Der tut immer so etepete. Hat einen Putzfimmel Und legt soviel Wert auf sein Äußeres."
Er schaute an sich runter, an seinem zerzausten Gefieder: "Anders als ich."
"Wir haben ja auch eine lange Reise hinter uns", flüsterte ihm Nona zu. Kamill betrachtete Nona und Tubo aus den Augenwinkeln:
"Kennt ihr Leseratten?" Beide schüttelten die Köpfe. Kamill zog die Augenbraue, die ein Strich war, hoch.
"Nein? Leseratten kommen ursprünglich vom Erdenplaneten. Dort sind sie vom Aussterben bedroht und sollen hier bleiben, bis sich ihr Bestand wieder vergrößert hat. Ihr glaubt gar nicht, was die so den lieben langen Tag verschlingen. Bücher, nichts als Bücher. Manchmal weiß ich nicht, wo ich noch Buchstaben für sie herholen soll?"
Er wollte wissen: "Habt ihr Bücher dabei?"
Sie verneinten. Kamill seufzte. "Schade. Dann muss ich sehen, wo ich Futter für sie herbekomme. Ihr Hunger ist gigantisch."
Und ohne Überleitung fragte er:
"Darf ich euch in die Geheimnisse des Planetariums einweihen?"
Urimor wollte abwinken, als er aber die interessierten Augen von Tubo und Nona bemerkte, ließ er es dabei bewenden. Er lehnte sich entspannt in seinen Sitz zurück und schloss die Augen. Die Strapazen der Reisen hatten ihn mitgenommen. Das Planetarium kannte er wie seine Westentasche. Im Nu war er eingeschlafen.
Der Kuppelsaal verdunkelte sich, und ein wahres Lichtermeer tat sich vor ihnen auf. Stern an Stern reihte sich auf dem Bildschirm über ihnen. Vor Ehrfurcht erstarrten Nona und Tubo. Tubo fragte Kamill Löcher in dessen metallenen Bauch. Kamill wurde nicht müde, alle Fragen zu beantworten. Wie die einzelnen Gestirne hießen. Wie alt sie waren. Auf welchen Umlaufbahnen sie kreisten. Wer auf ihnen wohnte. Wie warm, wie kalt es dort war. Alles, was sie interessierte, erläuterte ihnen Kamill. Tubo starrte wie elektrisiert in den Sterne. "Ich werde ein Weltreisender. Nur ein Weltreisender."
Fürwahr beeindruckend, dass sie bis in den hintersten Winkel des Weltalls schauen konnten. Bis nach Niemandsland.
"Dass das Universum so groß ist, hätte ich nie für möglich gehalten", gestand Nona überaus beeindruckt. "Das ganze Firmament übersäht mit unzähligen Sternen. Und wo ist Kandelaber?"
Bei dem Wort Kandelaber fuhr Urimor auf wie von der Tarantel gestochen und schnellte aus dem Sitz empor: "Kandelaber. Wie...wo...?"
Seine Augen blinzelten in die Sterne.
"Da... sieh, Nona, da ist er. Der Stern mit dem dunkelroten Schweif ist Kandelaber."
Nona und Tubo staunten. Problemlos konnten sie den dunkelroten Schweif von Kandelaber ausmachen.
Kamill erläuterte ihnen:
"Das ist Kandelaber. Und dahin wollt ihr?" Dabei verzog er die Mundwinkel verächtlich nach unten. "Wer will denn schon freiwillig nach Kandelaber?"
Tubo sagte: "Wollen nicht. Müssen."
Urimor hatte sich aufgestellt und erläuterte:
"Seht, hier müssen wir längs. In Richtung Ostnordost bis zum Nadelöhr. Dann weiter übers Seifengebirge bis nach Kandelaber."
Kamill konnte seine Neugierde nicht mehr unterdrücken.
"Es geht mich ja nichts an. Aber was wollt ihr um Himmelswillen auf Kandelaber bei diesem unflätigen Riesen? Es gehen Gerüchte um, er popele so gerne in der Nase. Eklig, oder? Ich bin heilfroh, dass er immer einen weiten Bogen ums Planetarium macht und ich noch nicht die nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht habe."
Hier schüttelte sich der menschelnde Kamill, und es rasselte ein wenig. Dann verrieten sie Kamill haarklein den Grund ihres Ausfluges.
Kamills Worte klangen so gewählt, so vornehm und gigantisch gehörte offensichtlich zu seiner Lieblingsvokabel: "Da fehlen einem die Worte. Gigantisch. Wenn man dem Gerede Glauben schenken darf, soll er nicht nur der hässlichste Riese im Universum sein, sondern auch der Dümmste. Dieser Coup mit dem Schlafsand widerspricht dem gängigen Klischee Paraplüs, das hier weit und breit über ihn vorherrscht, aber entschieden. Gigantisch. Im Gegenteil. Diese List beweist durchaus Züge nicht zu unterschätzender Intelligenz. Gigantisch."
Er konnte seine Bewunderung für Nona und Tubo nicht verheimlichen. "Und ihr zwei besitzt den Mut, ihm alles wieder abzujagen. Hut ab. Euer Ruhm wird euch wie ein Lauffeuer vorauseilen. Ich würde mir das nie zutrauen. Nein, dazu wäre ich zu feige. Gigantisch."
Kamills Lob schmeichelte Nona und Tubo zwar, aber noch hatten sie eine Mammutaufgabe zu bewältigen. Noch hatten sie Weihnachten nicht gerettet.
Kamill sinnierte. "Weihnachten. Erdenplanet. Geschenke. Kinder. Sonderbare Bräuche herrschen da draußen. Gigantisch. Dabei war ich als weitgereister Plumbum noch nie auf der Erde. Und noch nie in Himmeland. Gigantisch. Wird mal wieder Zeit für eine Abwechslung. Nach der nächsten Sonnenfinsternis werde ich mich auf den Weg machen."
Urimor drängte zum Aufbruch.
"Genug geplaudert, Kamill. Wir müssen weiter. Weihnachten steht sozusagen vor der Tür."
Kamill verbeugte sich dezent.
"Selbstverständlich. Dieses Weihnachten soll um keinen Preis ausfallen. Schade, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie sich Traurigkeit anfühlt. Ich war noch nie in meinem Leben traurig."
Er schien völlig abwesend zu sein.
Dann fiel ihm ein:
"Bedenkt, dass ab jetzt Linksverkehr herrscht."
Urimor verdrehte seine Karfunkelsteinaugen ob soviel Korrektheit, lobte aber den empfindsamen Kamill:
"Wie gut, dass du uns darauf hingewiesen hast, Kamill. Das hätte böse enden können."
Sie hatten im Himmobil Platz genommen. Nona auf der Rückbank.
"Eben. Hatten schon genügend Karambolagen hier. Gigantisch. Unfälle am laufenden Band, auch verursacht durch Paraplü in seinem großen Wagen."
Als er ins Detail gehen wollte, unterbrach ihn Urimor:
"Danke für den Hinweis, Kamill. Weihnachten wartet."
"Natürlich. Wie dumm von mir. Entschuldigt bitte."
Dann fiel ihm noch ein:
"Euch ist klar, dass ihr für das Nadelöhr einen Magneten braucht. Sonst kommt ihr nicht durch die winzige Öffnung."
"Bin nicht zum ersten Mal in diesem Landstrich, Kamill."
Urimor kramte unter einer Bauchfeder einen kleinen Magneten in der Größe eine Murmel hervor.
"Für alle Fälle." Kamill, der menschelnde Roboter war zufrieden.
"Gigantisch. Ich begleite euch noch bis zum Vakuum."
Nadelöhr und Seifengebirge
Mit seiner Mondfähre geleitete Kamill sie sicher durch das Vakuum, das vom Planetarium direkt nach Ostnordost führte. Hier verabschiedeten sie sich von Kamill.
"Denkt daran, ab jetzt nur noch Linksverkehr. Ich wünsche euch viel Erfolg. Bis demnächst in Himmeland. "
Kamill schwenkte seinen Lappen, bis sie in einer Haarnadelkurve verschwanden. "Ich sehe schwarz für dieses Weihnachten und die Erdenkinder",
Eingebettet in Mondenschein bretterten sie ohne Zwischenfälle durch den Nachthimmel landeinwärts. Manchmal kreuzte ein Nachtvogel ihre Bahn. Dann gerieten sie in der Umlaufbahn von Nadelöhr. Es wurde schmäler und enger, bis sie bei einem winzigen Punkt standen. So groß wie ein Kieselstein. Dem Nadelöhr vor dem Seifengebirge und Kandelaber. Nona presste den Magneten zwischen Daumen und Zeigefinger und zwängte diesen durch die Öffnung. Nach und nach weitete sich das Nadelöhr wie ein Luftballon und sie konnten mitsamt dem Himmobil hindurchschlüpfen. Urimor verfrachtete den Magneten wieder sicher unter seiner Bauchfeder.
"Und das Nadelöhr kann so groß werden, dass ein Riese hindurch passt", staunte Nona beeindruckt.
"Und sein großer Wagen auch noch, Engelchen."
Tubo drückte auf die Tube und so flogen sie in einem Affenzahn dahin. Plötzlich tauchten riesige Seifenblasen auf. Es ging in Serpentinen steil bergauf und Tubo musste das Tempo drosseln. Seifenschaum walzte über die Straße und versperrte ihnen die Sicht; sie hatten die Gipfel des Seifengebirges erreicht. Jetzt war guter Rat teuer. Taten sich doch links und rechts des Weges Abgründe auf. Wie sollten sie weiterkommen, wenn sie nichts sahen? Fliegen war genauso gefährlich. Womöglich wären sie an den Hängen des Seifengebirges zerschellt.
Tubo fragte: "Wie kommst du denn sonst übers Seifengebirge, Urimor?"
Urimor war verlegen. Ratlos. "Ich muss gestehen, dass ich diese Gegend bei meinen Ausflügen bisher gemieden habe. Dieser Seifenschaum brennt fürchterlich in den Augen und man kann so gut wie nichts dagegen tun. Allerdings soll der Seifenschaum aber gut gegen Hautkrankheiten sein. Von weither kommen die Allbewohner und suhlen sich in dem Schaum. Außer die Augen geschlossen hatten. Dann sieht man aber nichts. Kniffelige Angelegenheit. Lasst mich mal nachdenken."
Auf dieser Reise mit Hindernissen am laufenden Band war es das erste Mal, dass Urimor nicht weiterwusste. Tubo spielte ungeduldig an den Knöpfen des Himmobils, und dann passierte es. Ein Gebläse am Bug des Himmobils sprang an und zerteilte den Schaum vor ihnen und gab etwas Sicht frei. So konnten sie zumindest im Schritttempo weiterfahren. Ihnen plumpste ein Stein in der Größe eines Felsbrockens vom Herzen.
Kandelaber
Gleichzeitig mit dem zinnoberroten Morgen, der hinter dem Horizont aufstieg, hatten sie das Seifengebirge überquert. Flugs ging es bergab Richtung Kandelaber. Endlich war die letzte Etappe erreicht. Kandelaber präsentierte sich ihnen. Kamill hatte Recht. Kandelaber war öde. Wenig einladend. Kein Baum, kein Strauch. Keine Wiesen, keine Blumen. Kein Vogel. Keine Tiere. Nur Irrlichter summten ihnen um die Ohren. Die klotzige Burg Zwiebelturm aus schwarzem ungehauenem Meteoritgestein ragte weit nach oben und machte insgesamt einen verfallenen Eindruck. Nona zählte vier Stockwerke und an jedem Giebel klebte ein Turm in Zwiebelform. In den oberen Stockwerken klafften an jeder Seite drei Löcher als Fensteröffnung im Mauerwerk, durch die ungehindert Wind und Regen eindringen konnte. Das Dach war stellenweise eingestürzt und morsche Balken ragten spitz in den Himmel. Im Erdgeschoß fehlte die Tür und hier gab es keine Fensteröffnungen. Paraplüs riesige Karosse parkte davor. Der Kühler war noch warm.
"Ist auch erst seit kurzem da."
Urimor umrundete das Gefährt, in das drei Himmobile gepasst hätten. Auf dem Beifahrersitz lag das schwere Fernrohr.
"Damit hat er Himmeland ausspioniert." Tubo hätte gern einen Blick hineingeworfen, aber die Schwere des Fernrohrs verhinderte dies.
"Sind Burgen immer so hässlich?" wollte Nona wissen.
"Meistens, Engelchen. Und nicht besonders komfortabel. Keine Luxusherbergen wie Himmeland."
Er spöttelte: "Vor uns liegt die Residenz des hochwohlgeborenen Riesen Paraplüs, des größten Poplers im Universum."
Nona und Tubo hielten sich die Bäuche vor Lachen.
Hand in Hand und ein klein bisschen hasenfüßig betraten sie den halbdunklen Raum, sehr geräumig, genau genommen so groß wie ein halbes Fußballfeld. Ideal für Riesen. Sie blieben dicht beieinander und mussten sich die Irrlichter vom Leibe halten, die das Innere der Burg bevölkerten und sie piesackten wie Stechmücken. Je weiter sie ins Innere vorstießen, umso mehr machte sich eine leichte Beklommenheit breit. Urimors Augen erhellten den unmöblierten Raum mit der Wendeltreppe ein wenig, gerade noch rechtzeitig, denn Tubo wäre um ein Haar über einen Eisenbahnwaggon gestolpert, der entgleist war. Vorsichtig setzten sie auf dem nackten Lehmbuden, übersäht mit Spielzeug, einen Fuß vor den anderen. Dem Spielzeug, dass fleißige Engel in wochenlanger Kleinarbeit für die Erdenkinder hergestellt hatten und das jetzt wie ein bunter Teppich den Boden bedeckte.
Tubo sagte mit Besorgnis in der Stimme: "Alles auf einmal schaffen wir nicht mit dem Himmobil."
Urimor sah ihn aus unergründlichen Augen an. Tubo fuhr fort:
"Seht, die Puppe hier ist für Lisa aus Köln. Dort der Technikkasten für Mattis. Die Bauernhof-Puzzles waren für die Zwillinge Leon und Leoni", erinnerte sich Tubo halblaut, der alle Wunschzettel geöffnet hatte, "und den roten Schlitten da drüben hatte sich Paul gewünscht."
"Wo steckt dieser Paraplü?"
Urimor jaulte auf, weil er auf etwas Spitzes getreten war und hüpfte vor Schmerzen im Kreis. Es handelte sich um ... "Aua. Tut das weh."
Nona strich ihm übers Gefieder. "Armer Urimor. Soll ich pusten?"
"Danke, Engelchen. Geht schon wieder."
Tubo neigte den Kopf leicht zur Seite und machte Zeichen zum Stillsein.
"Pssst."
Ein Geräusch.
"Von oben", flüsterte er und zog Nona und Urimor mit zur Treppe.
Auf leisen Sohlen schlichen sie hinauf ins erste Stockwerk, das offenbar aus mehreren Räumen bestand. Sie folgten dem Geräusch und betraten ein Zimmer halb so groß wie das im Erdgeschoß und voller Spielzeug lag.
Darin lag bäuchlings ausgestreckt, vier Engel groß, Riese Paraplü auf nacktem Steinboden und hantierte mit etwas Hölzernem, was sich bei näherem Hinsehen als Kuckucksuhr herausstellte. Immer wieder glitt der schwielige Zeigefinger seiner rechten Hand ins linke Nasenloch und pulte darin. Was er zutage förderte, drehte er zwischen Zeigefinger und Mittelfinger zu kleinen Kügelchen und schnalzte es im hohen Bogen aus dem Fenster. Plopp machte es jedes Mal.
"Iiiiiiigiiiiiiittttt, iiigitt." Nona ekelte sich. "Dieser Popler."
Tubo wagte sich näher an Paraplü heran, der ihre Anwesenheit noch nicht registriert hatte. Tubo stieg über ein Bein Paraplüs hinweg und erkannte die Kuckucksuhr wieder.
"Die hat sich Gitte aus Oslo gewünscht", bekannte Tubo leise und machte einen Satz zur Seite über das zweite Bein in Richtung Fensteröffnung. Mit einem Hopp folgten Nona und Urimor.
Im matten Schein des Tageslichts konnten sie Paraplü besser beäugen, wenn er den Kopf etwas zur Seite drehte. Er glich einem spielenden Kind, das vollends vertieft in sein Spiel sein Rundherum vergisst. Die Nase war ein blaugestreifter Knubbel mit zwei ziemlich großen Nasenlöchern und sein roter Haarschopf erinnerte stark ein einen zauseligen Flokati. Die Ohren ähnelten Windsegel und standen senkrecht ab. Über seinem nackten Oberkörper trug er einen braunledernen Wams, schon ziemlich speckig, und ein Beinkleid aus Zottelpelz, ursprünglich mal weiß und nun schmutzig-grau wie Schneematsch in der Großstadt. Aus seinen Schuhen, die eine Beleidigung für Schuhe waren, blinzelte jeweils die großen Riesenzehen heraus.
Paraplü war so mit der Mechanik der Kuckucksuhr beschäftigt, dass er immer noch keine Notiz von ihnen nahm. Mit dem Knöchel seiner linken Hand hämmerte er auf die Kuckucksuhr ein. Dann schüttelte er sie wie wild.
"Kommt raus, kommt raus. Ich will, dass ihr sofort raus kommt und für mich singt", wetterte er und sein Zeigefinger wanderte wieder in sein Nasenloch.
Tubo bemerkte besorgt:
"Bernhard hat ziemlich lange daran gearbeitet. Wäre schade um das schöne Stück."
Nicht zu Unrecht befürchtete Tubo jeden Moment, dass diese auseinander brechen würde und hätte Paraplü am liebsten die Uhr aus den Händen gerissen. Sie erschraken, fuhren plötzlich zusammen und Paraplü fiel vor Schreck die Uhr aus den Händen, schoss aber gleichzeitig wie eine Rakete in die Höhe und stieß sich seinen Kopf an der Decke, als eine ihnen wohlbekannte Melodie erklang:
"Klingklong, klingklong, so tönt der Weihnachtsgong. Vier, vier Stunden habt ihr noch, Engel, rasch ans Werk, sputet euch, beeilt euch doch".
Paraplü rannte zu dem Fensterloch und starrte entgeistert hinunter zum Himmobil. Mit einem "Autsch" rieb er sich den Schädel, gleichzeitig fiel ihm die Kinnlade herunter und er glotzte sie aus geweiteten senffarbenen Augen an, wobei er stammelte:
"Wwwwaaas, waaasss wwwwwollt ihr...?"
Paraplü war das personifizierte schlechte Gewissen. Er duckte sich, und es hatte den Anschein, als wollte er sich in die hinterste Zimmerecke verkriechen.
Die Drei zwinkerten sich zu. Das hatten sie nicht erwartet. Einen ängstlichen Riesen.
"Nona, du", forderte Tubo sie auf. Auch Urimor lächelte ihr aufmunternd zu und seine Karfunkelsteinaugen sprühten Blitze. "Du. Ja du."
"Aber keine Vorwürfe, Nona" riet Tubo. Nona nickte ihm zu.
"Natürlich nicht."
Nona machte einen Schritt auf Paraplü zu, der ängstlich weiter zurückwich, bis die Wand dahinter ihn stoppte. Nona setzte ihre Engelsmiene auf und redete zuckersüß auf Paraplü ein, während sie ihren Mondschein in der Hosentasche hoffnungsvoll knetete:
"Lieber Riese Paraplü. Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wir tun dir nichts. Wir haben den weiten Weg von Himmeland bis nach Kandelaber zurückgelegt, um dich höflich zu bitten, die Weihnachtswünsche der Erdenkinder wieder zurückzubringen. Du hast den Klingklong gehört. Noch vier Stunden bis Heiligabend. Du bist doch ein netter Riese, ein ausgesprochen lieber Riese Paraplü, der niemandem Schaden zufügen will. Oder?"
Hier legte sie eine Pause ein, weil Paraplü zu schniefen schien. War es Verlegenheit oder Gewohnheit, dass er wieder nach den Schätzen in seiner Nase suchte und es mit einem Schnipp nach draußen entfernte. Dann schnappte er sich die Kuckucksuhr und drückte sie fest an sich, als wolle er sie nie wieder loslassen. Unübersehbar. Das Herz des Riesen Paraplü war für eine Kuckucksuhr entbrannt. Die anderen Spielsachen wie die Autos, die Malstifte, die Stofftiere kickte er mit seinem Fuß verächtlich zur Seite. Er klang trotzig. Entschlossen.
"Die will ich behalten. Alles andere könnt ihr wieder mitnehmen. Aber die Kuckucksuhr soll hier bleiben. Die Kuckucksuhr ist mein Freund. Ich hab noch nie einen Freund gehabt. Ich bin immer so einsam auf Kandelaber. Jetzt hab ich einen Spielgefährten."
"A...aaab... aber die ist doch für Gitte aus Oslo", wollte Nona einwenden, als Urimor ihr ins Wort fiel:
"Lieber Paraplü. Was hältst du von einem Kompromiss? Du darfst die Kuckucksuhr behalten und im Gegenzug dafür karrst du die Spielsachen wieder nach Himmeland zurück. Jetzt gleich."
Paraplü umklammerte die Kuckucksuhr, die justament zu schlagen anfing und im Wechsel ein Mann und eine Frau sich vor einem Häuschen trafen, während gleichzeitig ein Vogel siebenmal "Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck" plärrte. Paraplü beguckte sich entrückt das Schauspiel und vergaß darüber sogar das Popeln. Als die Figuren wieder ins Innere der Uhr verschwanden, stocherte er mit seinem Finger darin rum, als könne er damit das Pärchen hervorbuddeln. Tubo erklärte ihm den Mechanismus wie einem kleinen Kind.
"Wenn eine Erdenstunde vorüber ist, kommen sie von alleine raus, Paraplü. Du musst nur warten. Einfach warten."
Paraplü guckte nicht sehr hell aus der Wäsche.
Nona versicherte ihm:
"Warten, Paraplü. Warten, die kommen wieder. Versprochen."
Urimor trat auf der Stelle. "Wir müssen umgehend zurück."
Paraplü wiegte die Uhr zärtlich im Arm. Tubo fragte ihn: "Wärst du damit einverstanden, Paraplü? Du behältst die Kuckucksuhr und transportierst die Sachen wieder zurück."
So richtig traute Paraplü den dreien nicht. Das Misstrauen stand ihm auf die Stirn geschrieben.
"Und ihr belügt mich nicht? Gebt mir euer Ehrenwort. Engel dürfen nicht lügen."
Hier mussten sich Nona und Tubo räuspern.
"Großes Engel- und Rabenehrenwort", beteuerten alle drei. Nona machte noch Eingeständnis. "Ich werde ein gutes Wort bei Bernhard für dich einlegen. Der konstruiert dir bestimmt noch eine Kuckucksuhr."
Da strahlte Paraplü wie ein Polarlicht. "Wirklich? Noch eine Kuckucksuhr?"
Nona lächelte ihn an: "Ganz bestimmt, Paraplü."
Damit hatte sie ihn endgültig überzeugt. Im Nu hatte Paraplü sämtliches Diebesgut mitsamt Himmobil in seinem großen Wagen verstaut, und in einem Affenzahn düsten sie zu viert nach Himmeland zurück.
Tubo war sichtlich beeindruckt von der Schnelligkeit des großen Wagens, der um so vieles schneller war als das gemächliche Himmobil und genoss die Fahrt in vollen Zügen. Paraplü erklärte ihm die Technik. Urimor stieg beim Planetarium aus und versprach Nona: "Ich muss noch in die andere Richtung. Nach Krambambuli. Hab dort noch was zu erledigen. Die Quacksalbe und das Heftpflaster für deinen Flügel bring ich noch vorbei. Bald, Engelchen, wenn mein Rheuma nicht mehr so schmerzt."
Nona umarmte Urimor und bedankte sich überschwänglich bei ihm. "Danke, lieber Urimor für alles. Ohne dich wären wir nie angekommen."
Aus Urimors Karfunkelsteinaugen tropften zwei Tränchen. "Ihr zwei hättet den Weg auch ohne mich gefunden. Dein Mondstein hätte euch weitergeholfen. Zwei so tapferen Engel."
Dann erhob er sich und flog davon. Abschiede waren ihm ein Gräuel.
Der große Wagen schoss unterdes durch das Universum und nahm direkten Kurs auf Himmeland. Ohne Zwischenlandung. Tubo öffnete das Tor mit dem Himmelsschlüssel, und sie landeten direkt vor dem Spielzeuglager, indem wieder etliches Spielzeug lagerte, was fleißige Engel während ihrer Abwesenheit hergestellt hatten.
Emilion, Liliane und Mäschtild halfen den Weihnachtsmännern, gerade dabei, die Schlitten zu beladen. Als Nona, Tubo und Paraplü ausstiegen, gab es erst eine Schrecksekunde, dann aber Jubelschreie und ein großes Hallo. Mäschtild schrie am lautesten und umarmte sie ungestüm:
"Die Satansbraten sind wieder da. Ich bin so froh. Ihr habt mir ja richtig gefehlt."
Als sie aber dann Paraplü die Leviten lesen wollte, stellte sich Tubo vor Paraplü und betonte: "Nein, Mäschtild. Lass Paraplü in Ruhe. Paraplü ist ab jetzt unser Freund. Nur das Popeln darfst du ihm abgewöhnen."
"Und seine Kleider könnten eine Wäsche vertragen", meinte Mäschtild trocken, als sie ihn eingehend beäugt hatte.
"Neue Schuhe braucht er auch", stellte Liliane fest.
Paraplü zog seinen Finger sofort aus der Nase und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. In seinen Augen schwammen Tränen der Rührung. Endlich hatte er Freunde. Bisher war er noch nie jemandes Freund gewesen. War immer einsam und verlassen durch das Universum gedüst. Und jetzt? Nona, Tubo, Urimor, ja ganz Himmeland würden seine Freunde sein. Noch nie in seinem langen Riesenleben war er so glücklich gewesen. Als sein Finger wie automatisch in Richtung Nase wanderte, warnte ihn Mäschtild: "Stopp, Paraplü. Hier in Himmeland ist Popeln verboten."
Entgegen ihrem sonstigen Verhalten lächelte sie dabei und ihre Stimme hatte etwas Samtiges.
Gemeinsam beluden sie die Schlitten der Weihnachtsmänner, die sich sofort auf den Rückweg zur Erde machten. Paraplüs Angebot, sie dorthin zu begleiten, hatten sie abgelehnt.
"Nur die Weihnachtsmänner dürfen die Geschenke zur Erde transportieren. Das ist seit jeher eisernes Weihnachtsgesetz."
Auf der Erde hatte niemand was von den Problemen und der Beinahkatastrophe in Himmeland geahnt. Wie in jedem Jahr erhielten die Kinder pünktlich ihre Geschenke zu Weihnachten.
Paraplü ging nie mehr ohne seine Kuckucksuhr schlafen. Meist hielt er sich in Himmeland auf, wo sich Mäschtild besonders um ihn kümmerte und ihm das Popeln abgewöhnt hatte. Mäschtild hatte Paraplü richtig in ihr Herz geschlossen und verwöhnte ihn nach Strich und Faden. Er sah jetzt richtig proper aus. So viel Fürsorge hatte Paraplü vorher nie kennengelernt. In seiner Burg Zwiebelturm auf Kandelaber hatte sich der Zyklop Mikado eingenistet.
Nona und Tubo durften seitdem zusammen mit Paraplüs großem Wagen durchs Universum reisen. Aber nur, weil Paraplü versprach, nicht mehr so zu rasen. Urimor hatte wie versprochen die Quacksalbe vorbeigebracht und sich in Himmeland pudelwohl gefühlt. Nonas Flügel war endlich abgeheilt, und sie konnte fliegen wie früher. Dennoch liebte sie nach wie vor das Radschlagen.
Eines Tages lagen Nona und Tubo wieder unter den Ästen der Engelstrompete, als Tubo Pläne für eine neue Reise schmiedete:
"Wohin, Tubo?"
"Zur Erde, Nona. Zu Lisa, Maike, Jonas, Sophie und all den anderen Erdenkindern."