Erdacht und erzählt von der 8-jährigen Blessing Barnett
aufgeschrieben von ihrer Großmutter Antonia Stahn
Im Land des Königs Peter gibt es nur einen einzigen Berg. Er hat fünf schneebedeckte Spitzen, die bis in die Wolken ragen. ‚Steinerne Hand' nennen die Menschen das kleine Gebirge. Noch nie hatte jemand gewagt, den Berg zu besteigen. "Dort spukt es. Ein Ungeheuer haust in einer Höhle unter den Schneekuppeln", erzählen die Alten den Jungen seit je her. Und: "Wenn ihr nicht artig seid, holt es euch in seine Höhle", droht man den Kindern. Niemand hat das merkwürdige Wesen je gesehen. Doch viele Geschichten werden über das ‚schreckliche Ungeheuer' erdacht. Besonders gern an langen Winterabenden vor dem Kamin. Die Kinder lieben diese gruseligen, spannenden Märchen. Einige der Jungen und Mädchen beschließen nach dem Ungeheuer zu suchen. Natürlich später - wenn sie erwachsen sind. Aber dann haben sie dieses Vorhaben längst vergessen. So wie alle anderen vor ihnen. Schade!
Das 'furchtbare Wesen' in der Höhle am Berg wartet schon so lange auf die Menschen.
Eines Tages beschließt es, seine gemütliche Höhle zu verlassen.
"Ich werde einfach zu ihnen gehen. Hier oben ist es mir viel zu einsam. Die Menschen werden mich mögen. Und wenn nicht mich, dann zumindest meine Schönheit", spricht sich das kleine Zauberpferd SternLicht Mut zu. Lange betrachtet es sich in dem großen Kristallspiegel vor dem Höhleneingang. Die rosafarbenen Flügel aus Flamingofedern passen gut zu dem tiefschwarzen Fell. Silberhell leuchten die Mähne und der Schweif. Hin und wieder blitzt ein Licht im Fell des anmutigen Pferdchens auf. Silberhell sind auch die langen Wimpern der großen, samtbraunen Augen. Fröhlich, auch ein wenig stolz, zwinkert SternLicht sich zu. Dann stellt es sich an die Felskante, breitet die Flügel aus und schwebt langsam zur Erde.
Merkwürdig! Die Menschen mögen das hübsche Zauberpferd sofort. Niemand hat Angst vor ihm. Alte und Junge lachen nun über ihre Geschichten von der bösartigen Bestie aus den Bergen.
Es dauert nicht lange, und die Leute beginnen das Pferdchen richtig gern zu haben. SternLichts Schönheit, auch seine liebevolle Art, bringt Glanz und mehr Lächeln in den Tag. Alle Kinder im Reich wünschen sich das Zauberpferd zum Freund. Jeden Tag darf eines von ihnen mit SternLicht durch die Wolken fliegen. Die Höhle am Berg zeigt das kleine Pferd aber niemandem. Diese Höhle soll vorläufig ein Geheimnis bleiben. Glücklich und zufrieden könnte SternLicht mit den Menschen leben. Wenn?! Ja, wenn es nicht den uralten Zeremonienmeister am Hofe des Königs gäbe. Dem neidischen alten Mann missfällt die Harmonie im Land. Jeden Tag erzählt er dem König Lügengeschichten über Sternlicht:
"Es dauert nicht lange, Gebieter, und dieses Wesen wird dein Volk gegen dich aufhetzen. Hast du vergessen, dass die Leute früher nur dich verehrten. Jetzt haben sie nur noch Augen für ein Nichts! Eine Fata Morgana! Fliegende Pferde gibt es nicht! Ich vermute, Hexe Antra versucht wieder einmal, dir dein Land weg zu nehmen."
Eifersucht und Neid schleichen sich in die Gedanken des Königs.
Voller Zorn schreit er eines Tages seine Untertanen an: "Was fällt euch ein? Wer hat euch erlaubt, die Arbeit liegen zu lassen? Immerzu starrt ihr dieses nichtsnutzige, hässliche Pferd an! Damit ist es jetzt vorbei!"
Zum Entsetzen der Leute befiehlt König Peter seinen Soldaten, das schöne Zauberpferd zu erschießen. Verächtlich ruft der Herrscher seinem Volk zu:
"Ja! Ja! Schreit nur. Ihr seid dümmer als ich dachte. Hat denn keiner von euch begriffen, wer sich hinter diesem Pferd verbirgt? Ganz klar! Die Hexe Antra natürlich! Sie versucht euch mit Schönheit und Freundlichkeit ein zu lullen. Jeder, der diesem Pferd vertraut, wird von Antras Macht ergriffen! Also los Soldaten, schießt! Dann hat der Spuk ein Ende!"
Schnell wie der Wind fliegt SternLicht davon. Die Kugeln der Gewehre treffen es nicht. Einen Augenblick nur ruht Sternlicht auf dem Rosenblattlager in seiner Berghöhle. Es isst ein Stückchen Honigkraftbrot und trinkt einen Schluck Rosennektar. Nun fühlt SternLicht sich stark. Stark genug, um gegen die Soldaten zu kämpfen. In unglaublicher Geschwindigkeit fliegt das kleine Pferd zur Erde zurück. Der Zorn in SternLichts Augen erschreckt die Soldaten sehr. So sehr, dass sie nicht mehr auf ihren Herrscher hören. Die ‚tapferen' Männer werfen ihre Waffen fort und laufen davon.
Ungeheuerliche Wut erfasst König Peter. Mit einem tiefen Atemzug saugt er alle Luft seines Reiches in sich hinein und atmet sie nach wenigen Sekunden mit lautem Gebrüll wieder aus. Ein gewaltiger Tornado zerstört die Stadt und den Palast. Beinahe wird der König von seinem eigenen Sturm getroffen. Doch SternlLicht ist schneller als der tosende Wind. Es fliegt dem König entgegen und ruft: "Spring auf meinen Rücken, halte dich an meiner Mähne fest!"
Hoch und höher fliegen die zwei. Schon bald haben sie SternLichts Höhle unter einer schneebedeckten Fingerkuppe der ‚Steinernen Hand' erreicht. König Peter ist verwirrt und sehr, sehr müde. SternLicht erlaubt ihm, sich auf dem gemütlichen Rosenblattbett aus zu ruhen. Sofort fällt Peter in einen tiefen Schlaf. Stunden später weckt ihn ein wunderbarer Geruch. Das kleine Zauberpferd lächelt.
"Hier. Nimm! Der Tee wird dir gut tun. Er wärmt und gibt dir Kraft, Peter. Schau nicht so erstaunt! Du bist nun in meinem Reich. Ich habe beschlossen, dich nur Peter zu nennen. Denn, mein König bist du nicht!" Peter nickt ergeben. Er schafft es sogar, sich für seine Rettung zu bedanken. Sein schlechtes Gewissen macht ihn ein wenig kleinlaut. Er weiß sehr wohl, was sein gewaltiger Zornesausbruch angerichtet hat.
Ungefähr drei Monate leben die zwei nun schon in der Felsenhöhle. Peter weiß jetzt ganz genau wer SternLicht ist. Er mag das kleine Pferdchen inzwischen sehr. Ja! Peter und SternLicht sind Freunde geworden.
An einem Morgen im Dezember tobt ein schreckliches Gewitter über der ‚Steinernen Hand.' Ein Blitz schlägt in die Felsspitze über SternLichts Höhle ein. Polternd fallen Steine herunter. Immer schneller rasen sie am Eingang der Höhle vorbei. Plötzlich gibt es einen lauten Knall. Die Felsengrotte bricht auseinander. SternLicht und Peter werden von der Steinlawine erfasst. In unglaublicher Geschwindigkeit purzeln sie den Hang hinunter. Wieder einmal rettet das kleine Zauberpferd König Peter. Es zieht ihn einfach an seinem Hemdkragen aus der Lawine. Im Wald, unweit der Berge, finden die Freunde einen sicheren Platz zum Schlafen. Am nächsten Morgen fliegen sie weiter. Sie möchten zurück zu den Menschen. Nach ein paar Stunden stehen sie vor den Toren einer kleinen Stadt. König Peter traut seinen Augen nicht.
"Schau nur, SternLicht! Diese Stadt sieht aus wie meine Stadt!", ruft er aufgeregt. Wahrhaftig! Die Menschen haben in Peters Abwesenheit die Stadt und auch den Palast wieder aufgebaut.
Peter führt das Zauberpferdchen am Zügel zum Stadttor. Soldaten stehen auf der Mauer. Sie heben ihre Gewehre und zielen. Nicht auf ihren König. Oh nein! Sie zielen auf Sternlicht. Befehl ist Befehl. Natürlich haben die Männer ihren König erkannt. Nun wollen sie ihn aus den Klauen der ‚Hexe' befreien.
"Nein! Nicht!", will Peter den Soldaten zurufen. Zu spät! SternLicht wird getroffen und fällt zu Boden. Traurig schaut es Peter an. Mit einem leisen Seufzer schließt das Zauberpferd die Augen. SternLicht ist tot!
Laut und bitterlich weint König Peter. Er kann nicht mehr aufhören. Bald liegt das kleine Pferd in einem See aus Tränen. Peter streichelt unaufhörlich das Fell des wunderschönen Zauberpferds.
"Oh, oh! Ich wollte nicht, dass du mich verlässt!", schluchzt der König verzweifelt. "Ich habe dich doch so lieb gewonnen!"
Und weil er d a s sagte, bekam das kleine Zauberpferd SternLicht ein neues Leben geschenkt. Die Menschen jubeln ihrem Herrscher zu. Fröhlich begleiten sie ihn und das schöne Zauberpferd zum wieder aufgebauten Palast. SternLicht darf dort für immer leben.
Der alte Zeremonienmeister aber muss das kleine Königreich verlassen.