Der Brief, den Bodil an jenem Abend in Kummer und Liebe aus tiefster Seele geschrieben hatte, machte einen guten, einen tiefen Eindruck auf den Bruder; er fühlte ein Verlangen, mit ihr in Gedanken und Anschauungen wieder herzlich zu verkehren, eine größere Annäherung anzubahnen, und in dieser Stimmung, in der die gute Natur bei ihm das Übergewicht hatte, schrieb er einen Brief, wie ihm das Gefühl denselben eingab. Wir wollen aus ihm einige Zeilen hervorheben, die Bodil wohl gethan haben würden, wären sie in ihre Hände gelangt.
»Glaube mir,« schrieb er, »ich verstehe deine Seele und deine Gedanken recht wohl! Du bist weit liebevoller, weit besser, als ich bin oder je in dieser Welt werden kann, deren böse wie gute Strömungen mein leicht erregbares Gemüth durchziehen. Dein Glaube ist dir ein Schatz, und ich weiß, er ist eine Goldmünze; thöricht ist es von mir, über das Gepräge zu streiten. Denke dir, daß ich, wie es wirklich vielleicht der Fall ist, aus allen Tiefen der Natur die Summe des Reichthums hervorsuchen muß, die der des deinigen entspricht, und möglicherweise mit allem, was ich suche und sammle, doch nicht den Reichthum zu gewinnen vermag, den du bereits in deinem goldenen Schatze besitzest.«
So schrieb er. Den nächsten Morgen las er das Geschriebene noch einmal durch und fand, daß er ein Eingeständnis gemacht hätte, das nämlich, nicht im Klaren zu sein, daß er sich schwach und schwankend gezeigt; einen Liebesbrief hätte er geschrieben, und deshalb riß er ihn entzwei. Er schrieb einen andern, einen scheinbar lebhaften, klugen, mit hingeworfenen Andeutungen darüber, wie sehr ihn seine Wissenschaft anspräche, und daß er den rechten und für ihn einzig richtigen Weg gewählt hätte.
Der Brief war außerordentlich gut geschrieben, aber der Herzschlag, nach dem Bodil lauschte und von dem sie die Wiederkunft und Erneuerung alter, lieber Tage hoffte, war aus ihm nicht vernehmbar. Der Gleichmuth und die Sicherheit, die sein Schreiben zur Schau trug, erfüllte ihn übrigens nicht. Angeborene und fest eingewurzelte Vorstellungen, wie er selbst sie nannte, schossen wie der Schwamm in neuen Gebäuden oft plötzlich in ihm hervor, und das starke Gebälk, welches die Wissenschaft aufgerichtet hatte, drohte mit dem Zusammensturze. Bodil würde darin die Stimme Gottes gefunden haben, die ihn warnte und riefe.
Stärker und immer stärker wurde sein Drang nach Wissen und Erkenntnis. Manche Nacht vertiefte er sich bis zum Tagesgrauen in die Bücher, und Frau Jensen, die es bemerkte, meinte, das würde nimmer gut abgehen, man müßte doch auch ohne solche Anstrengungen Pfarrer werden können.
Mehr und mehr stellten sich vor seinen Blicken das Reich dieser und das Reich jener Welt einander gegenüber. Aus den anatomischen Vorlesungen, die ihn besonders fesselten und von ihm fleißig besucht wurden, lernte und begriff er, wie unser thierischer Körper aus kleinen Zellen gebildet wird; die eine geht aus der anderen hervor, von hier strömt alles Leben aus. In diese Betrachtungen versenkt verlor er sich wie so viele in das Studium oder die Bewunderung der einzelnen Zellen und stellte sich nicht außerhalb des Ganzen in den eigentlichen Gedankenzusammenhang, nahm nicht die Lehre an, die schon das kleinste Vogelei uns giebt. Auch in ihm entwickelt sich Zelle aus Zelle, jede berstet und verändert sich, und wo sich dem gewöhnlichen Auge ein langer schwarzer Streifen als der Anfang des Untergangs zeigt, dort entdeckt der Blick des Verstandes einen Übergang zu etwas Wichtigerem: der Streifen wird Rückgrat, dieses schreitet einer noch höheren Entwickelung entgegen, der Pulsschlag stellt sich ein, es bildet sich ein Geschöpf, der lebende Vogel. Aus der Vernichtung tritt ein höherer Gedanke hervor; alles ist vorausgesehen, alles weise bedacht, bis auf die kleine scharfe Spitze am Schnabel des Küchleins mitten im Ei, mit der es die harte Schale zerbricht und die dabei abfällt. – Niels Bryde war noch immer nur bei den Zellen – und viele kommen nicht weiter.
Er hatte gelernt, daß alle sinnliche Empfindungen durch die Elektricität hervorgerufen werden; durch sie nimmt das Auge die Prismenstrahlen wahr, hört das Ohr die Töne, empfindet das Gefühl den Wärmewechsel u. s. w.; die Sinne waren also auf elektrische Strömungen reducirt. – Das Organ und die Lebenskraft konnten demnach ein und dasselbe sein, und indem er es annahm, mußte er erkennen, daß mit der Vernichtung des Gehirnes auch die Seele sterben müßte. »Mit dem Aufhören des Organs erlischt der Phosphor, der von Vater und Mutter angezündet wurde und in die Zellen, die unsere Glieder künstlich bilden, überging.« Wochen und Monate vergingen unter Forschungen und Studien; der kecke Jugendsinn führte manch dreistes Gedankenexperiment aus, und nach Jahr und Tag hatte Niels für das »kostbare Kleinod des Glaubens« das eingetauscht, was ein berühmter Gelehrter unserer Zeit »das Gericht Linsen der reinen Vernunft« nennt.
Seine Menschennatur kam ihm wie eine Incarnation Gottes vor. Der Jugendsinn und seine geistige wie leibliche Frische machten ihn keck; zu seinem Wahlspruche machte er den stoischen Lehrsatz: »Gehorche dir selber!« Er fühlte Jugendmuth, Gesundheit an Leib und Seele, fühlte die Verkörperung Gottes in seiner Menschennatur. Es kamen indessen auch Augenblicke, in denen es blitzartig durch seine Seele fuhr, in denen ihn die Sehnsucht erfaßte, alles Gute und Große in sich aufzunehmen; es fand ein Kampf statt wie der in der Bibel erzählte Kampf zwischen dem Engel und Jacob. Er erkannte in der Menschheit den Höhepunkt der Naturkräfte, den Höhepunkt der Gewalt des Weltgeistes; und dieser in der ganzen Menschheit selbst hervortretende Höhepunkt wurde in einer andren Gedankenströmung fast verschwindend. In der Welt, das wußte er ja, ist allem stets dasselbe Ziel gesteckt, die Erde verliert nicht einen Gran von ihrer Schwere, auch in der Menschheit bleiben sich Böses und Gutes zu allen Zeiten gleich. Bildung, Humanität, religiöse Vorschriften verlangen eine ungleiche Vertheilung. Es ist eine sinkende und steigende Welle, in die das Menschenatom hineingeschleudert ist und in der es lebt, ein Pendelschlag in der Ewigkeit.
Nicht eitler Übermuth, sondern eine Überschätzung der Menschennatur, der Gott in ihm, wie er es nannte, experimentirte hier und brachte ihn zu dem Glauben, er könnte sich über sich selbst erheben, könnte sich oben erhalten ohne die Hoffnung auf Unsterblichkeit, ja ohne – Gott; er könnte getrost singen:
»Ich hab' meine Sach' auf nichts gestellt! Juchhe!«
Diese Schwankungen in dem gährenden Gemüthe unseres jungen Apostaten waren das Resultat des Studiums, Forschens und Umhertaumelns während voller zwei Jahre. Am Schlusse des ersten Jahres hatte er indessen bereits die erste Hälfte des ärztlichen Examens vorzüglich bestanden und ebenso im folgenden Jahre die zweite Hälfte nebst der praktischen Prüfung, alles mit Auszeichnung. An Tüchtigkeit nahm er eine hohe Stellung unter seinen Mitstudirenden ein und in geistiger Entwickelung überragte er die Meisten.
Zwei Jahre waren seit Niels Brydes Besuch in der Heimat dort drüben auf der Haide verflossen, Briefe waren, wenn auch nur zwischen ihm und Bodil, gewechselt worden und auch diese in letzterer Zeit immer seltener. Er war freilich der Schwester steter Gedanke, und in diesem Sommer, wo die goldene Hochzeit der greisen Eltern gefeiert werden sollte, hatte sie auf ein Wiedersehen und auf eine Versöhnung gehofft. Er würde bestimmt kommen, und auch Mutter war davon überzeugt, da er im Grunde doch »ein gutes Kind« wäre. Aber er kam nicht. In einem an Japetus Mollerup persönlich gerichteten Briefe sprach er in herzlichen Glückwünschen seine Theilnahme an dem Feste aus, allein das Schreiben machte doch einen verstimmenden Eindruck; Japetus zeigte es Frau und Tochter, legte es dann fort und ließ es unbeantwortet. Mehr und mehr wandte ihm der Greis zornig den Rücken zu; Mutter trauerte darüber, überwand es jedoch wieder, da es dem Vater nicht allzu nahe zu gehen schien. Bodil empfand es schmerzlicher und in ihrer zärtlichen Liebe zu dem Pflegebruder vertheidigte sie ihn stets, so gut sie es vermochte und dem greisen Paare gegenüber wagte, dessen Fest von allen Freunden rings umher und von der ganzen Gemeinde gefeiert wurde.
Auch Niels empfand um diese Zeit ein schmerzliches Gefühl; hätte Vater nur ein paar Worte an ihn geschrieben, hätte er zu erkennen gegeben, daß man ihn dort drüben erwartete, er wäre ganz gewiß gekommen. Jetzt schlug er, wie er bei sich selbst sagte, dieses nagende Gefühl, daß er zu ihnen da drüben nicht paßte, für immer todt; er könnte ja auch die Stadt nicht einmal verlassen, er hätte sich auf das Examen vorzubereiten und Unterricht zu ertheilen. Schriftlich hätte er ja auch den Eltern Glück gewünscht, hiermit wäre alles in Ordnung.
Er hielt es für eine Pflicht gegen sich selbst, sich nicht aus seiner gleichmäßig guten Stimmung herausbringen zu lassen. Hat man erst den Höhepunkt erreicht, daß man dieses Erdenleben für den Abschluß des Daseins hält – und bis zu ihm hatte er sich bereits erhoben – dann tritt Epikurs Grundsatz: »Genieße und sei glücklich« in sein volles Recht ein. Der Brunnen des Genusses ist jedoch tief, er hat Quellen, aus denen der Wein des Geistes hervorsprudelt, während er gleichzeitig auch die schlechteste Hefe in sich birgt. »Lerne alles kennen und wähle das Beste!« sagte Niels Bryde zu sich selbst, aber das Beste war oft nur das, dem die augenblickliche Stimmung den Namen des Besten beilegte.
Den Solon-Diogenes hatte er nicht wieder gesehen, dieser war ihm in den letzten zwei Jahren völlig aus den Augen entschwunden; inwiefern übrigens diese beiden jetzt noch Interesse aneinander gefunden hätten, ist zweifelhaft. Inzwischen hatte sich Niels Brydes Bekanntschaftskreis, der Kreis von Gutentag- und Gutenachtfreunden sehr erweitert! Man hätte mit Göthe von ihnen sagen können: »Wären's Bücher – ich würde sie nicht lesen.« Bald sah man ihn mit diesem oder jenem jungen oder älteren Commilitonen zusammen gehen, oft mit Menschen, die von ihm völlig verschieden schienen, bei denen sich nicht leicht irgend ein Berührungspunkt herausfinden ließ. Herr Schwan sprach seine Verwunderung aus, und die Antwort, die er erhielt, war zwar erklärend, aber auch aus jenem jugendlichen Übermuth geschöpft, der in diesem Lebensabschnitte die Hauptströmung in Niels Brydes Charakter bildete.
»Eine begabte Natur, und nach der Leute Worten soll ich eine solche sein, und ein vollkommen geistiger Lump können gelegentlich ein ganz vortreffliches Gespann abgeben, denn selbst der bedeutendste Mensch hat immer etwas vom Lumpen, und dieses Etwas stellt den Berührungspunkt vor. Prinz Heinrich mußte seinen Falstaff haben, es gab einen Winkel, in dem sich diese beiden Gestalten begegneten. Außerdem – ich will davon jedoch keine Anwendung auf mich selbst und meine Genossen machen, obgleich es als allgemeine Wahrheit gelten kann – außerdem glaube ich, daß man in derselben Weise, wie sich jemand einen Hund oder einen Papagei hält, den er wirklich lieb hat, auch Freunde um sich sammeln kann, die man trotz ihrer geringeren Begabung aufsucht, je nachdem unsere Natur oder Stimmung eine zeitweise Abspannung verlangt.«
Niels Bryde war in der That so vollkommen mit allen menschlichen Stimmungen begabt, daß er auf dem Glatteise der Leidenschaft recht wohl sehr gefährliche Schwingungen machen konnte. Aber was ihn vor dem Straucheln bewahrte, war nicht etwa »sein guter Engel«, von dem bei ihm ja nicht die Rede sein kann, wohl aber sein »Schönheitssinn«, wie er es selbst nennen würde.
Den Einblick, den ihm Julius Arons in die Hamburger Mysterien und in sein junges orientalisches Herz gegeben hatte, bekam er jetzt auch in die Kopenhagener Mysterien und in sein eigenes Herz. Er konnte in gewisser Hinsicht mit Kitian im Holbergschen Lustspiele sagen: »Gerade wie bei uns!« Und doch ging es ihm bei dem Herannahen der »Elfe« wie dem Faust in der Walpurgisnacht, als derselbe mit seiner Schönen aus dem Tanz heraustritt:
»Ach, mitten im Gesange sprang
Ein rothes Mäuschen ihr aus dem Munde!«
Das Schöne behauptete bei ihm sein Recht.
Die erhabensten und die allerniedrigsten Gedanken begegnen einander. Das reine Sonnenlicht berührt den schmutzigsten Koth.
»Lieblich ist es von der Bergeshöhe hinab in den frischblühenden pontinischen Sumpf zu schauen,« sagte Niels. »Ich empfinde nur allzu oft ein Gelüst, mich in das üppige Grün hinabzustürzen, aber während ich von diesem Verlangen erfüllt bin, dringt ein Lufthauch zu mir hinauf, der mich an den Sumpf erinnert, und ich stürze mich nicht hinab. Nenne dies nicht Tugend, es ist nichts Großes von mir, es ist nur ein Umschwung, ein dagegen ankämpfendes Vibriren der Nerven. Ich bin dabei durchaus nicht sicher; ich werde vielleicht schwindelig und stürze von der Höhe hinab. Nur auf diese Weise laufe ich Gefahr wie jeder andere; der Schwindel kann mich morgen, kann mich schon heute befallen. Feigheit würde es sein, aus Furcht vor dem Falle die Bergeshöhen zu vermeiden.«
Sein »Schönheitssinn« hielt ihn also aufrecht, und dazu kam noch sein Fernblick, das Auge des Verstandes, mit dem er um sich schaute. Er fand Schutzengel da, wo die Menge nur Verderben bringende Mächte sah. »Der Weg des Maßhaltens führt zum Wohlsein!« war die Mahnung, die eine unsichtbare Hand ihm an die Wand seines Epikurtempels schrieb. Um von diesem Wege nicht abzuirren, sehen wir alle Laster: Wollust, Prassen, Trunksucht vor uns aufgestellt; es sind warnende Geister, die jedem, der den Weg verläßt, mit Peitschenschlägen zurückzutreiben suchen und ihn den eingeschlagenen Pfad entlang bis in den tiefen, Tod bringenden Sumpf verfolgen, in dem die Menschenmaschine gewaltsam zerbrochen wird.
Niels Bryde empfand es bereits, wenn er auch furchtlos seinen Weg ging; wir werden bei Zeiten erfahren, wohin derselbe führt; für den Augenblick begleiten wir ihn bei einem Besuch.