Scherzweise ist von Niels gesagt worden, er wäre von hoher Geburt, weil er oben auf dem »Runden Thurme« geboren war; hier in Jütland war von dieser Geburt nicht die Rede, wohl aber von des Flickschneiders Geburt; diese verlieh ihm eine gewisse Berühmtheit. Er führte einen geschichtlichen Familiennamen aus der Märchenwelt, wenn auch aus der jüngsten Sagenzeit. Der Flickschneider war ein Enkel von »Peter Schatzgräber«.
Manchen Abend saß Niels nach dem Nachtessen in der Gesindestube und hörte die Erzählungen des Schneiders von seinem Großvater und dem reichen Schatze in dem tiefen Flugsande mit an. Das Truglicht des Aberglaubens warf seinen bilderreichen Schein über die öde Haide fort, und der Erzähler erhielt für Niels in seiner neuen Heimat die Bedeutung einer geschichtlichen Person.
»In Stougaard bei Veile wohnte Peter Holsteiner, mein Großvater,« erzählte der Schneider. »Er hatte Haus und Hof und Grundeigenthum genug, um sich Kühe und Pferde zu halten; da träumte ihm eines Nachts von einem großen, vergrabenen Schatze. In Boel läge in der Kammer des Wirthshauses, in der er früher einmal geschlafen, auf dem Gesimse ein Buch, in dem alles, was zur Hebung des Schatzes nöthig wäre, genau verzeichnet stände. Er reiste hin, fand das Buch, und in ihm stand von all dem Reichthum geschrieben. Dieser rührte von dem Lösegelde eines Königs her, das ein früherer Herr zu Silkeborg hatte vergraben lassen. Man müßte eine Linie von der Gjödvader Kirche bis zum Kirchthurme von Linaa ziehen, und in ihr läge zehn Klafter jenseits der Gudenau der Schatz. Die Stelle wäre an einer großen, dreißig Ellen hohen Elche erkennbar, die aber vom Flugsande so zugedeckt wäre, daß der Wipfel nicht höher als eine Pfeifenspitze lang hervorragte. Peter verkaufte nun sein Grundstück für zehntausend Reichsthaler und zog nach Silkeborg, wo er die Erlaubnis zu graben erlangte. Er fand ja auch allerlei, wie alte Kupfermünzen, ein Hufeisen und dergleichen, aber auf den Schatz stieß er nicht, ›den hielt der Flugsand umschlungen‹, sagte zu ihm eine alte Frau. Sein ganzes Geld setzte er zu und zuletzt hatte er nicht mehr zu leben. Die Grube, welche er gegraben, füllte sich immer wieder mit dem losen Sande; jede Nacht lief ein schwarzer Hund darüber hin; es war der Teufel. Peter Schatzgräber wurde ein Bettler, kam in das Armenhaus zu Linaa und dort starb er.«
Der Enkel konnte darüber genaue Auskunft geben, denn er hatte es von seinem eigenen Vater gehört; ja, wenn er zur Nachtzeit mit seinem Kasten auf dem Rücken an der Stelle, welche das ganze Vermögen seines Großvaters verschlungen hatte, vorüberkam, hatte er selbst gesehen, daß ein Licht über sie hin tanzte; kein Flugsand war im Stande, es zu löschen. Der Böse behielt es beständig im Brand, um es den Menschen als Merkmal zu zeigen und sie anzulocken, zu graben und sich selbst mit dem Golde zu vergraben.
Aus der Sagenwelt wie aus der Wirklichkeit wußte der Flickschneider zu erzählen; er war eben ein »gereister Mann«. Unaufhörlich wanderte er von Edelsitz und Pfarrhof in das Haus des Bauern. Die Zeitungsnummern mit dem »Inländischen und Ausländischen« führte er stets mit sich. Sein lebhaftes erregbares Gemüth, seine gutmüthige Natur waren von großer Anziehungskraft; er und Niels wurden bald gute Freunde.
Länger als vierzehn Tage waren sie zusammen gewesen; heute war der letzte Sonntag, den der Schneider im Pfarrhause zubrachte, denn morgen sollte er zum Nähen zu dem neuen Amtsrichter hinüber. Bei diesem, welcher noch nicht sehr lange verheirathet war, diente die kleine Karine, Musikanten-Grethens Nichte, als Kindermädchen. Dies war ungefähr alles, was der Schneider von der Familie wußte. Alle Leute des Pfarrhofes gingen diesen Sonntag zum heiligen Abendmahl; nur die Köchin, Niels und der Flickschneider blieben zu Hause.
Letztere beide hatten ihre Freude an einigen niedlichen Kätzchen, die leichtfüßig und zierlich mit einander zu spielen pflegten. Deshalb sollten sie auch nicht ertränkt, sondern bis auf eines, das Niels schon bezeichnet hatte, verschenkt werden. Es war das munterste von ihnen; jetzt rollte es unaufhörlich einen großen blanken Messingknopf einher, den ihm der Schneider zugeworfen hatte, und wurde des Spieles nicht überdrüssig. Der Flickschneider und Niels wurden desselben jedoch müde; sie hatten sich unterdeß in ein Geplauder über das Katzengeschlecht im allgemeinen, besonders über die Tiger, vertieft, die in einem andern Welttheile leben. In diesem war der Bruder des Pfarrers gewesen und dort an einer ansteckenden Krankheit gestorben. In dem Saale hing sein Brustbild in einem Tressenrock, mit großer Busenkrause und Manschetten; es war das größte aller dortigen Bilder.
Dorthin konnten sie dreist gehen; sie traten also hinein, und der Schneider war sehr gesprächig und unerschöpflich im Erklären. Da fielen seine Augen zufällig auf einen Stuhl in der Nähe des Geldschrankes, und als hätte er eine Schlange gesehen, überfiel ihn plötzlich ein Schauder. Er faßte Niels am Arme und rief: »Jetzt haben wir es gesehen; laß uns gehen, wir dürfen hier nicht länger bleiben.«
Hastig zog er Niels mit sich zur Thüre hinaus und schloß sie nicht einmal wieder. Noch über eine Viertelstunde erzählten sie sich von mancherlei Dingen, und dann führte sie ein Zufall auseinander; aber Niels ging wieder allein in den Saal hinauf und betrachtete sich die Brustbilder.
Eine Stunde später kamen die andern aus der Kirche zurück. Mutter begab sich sofort nach dem Saale, und als sie zurückkehrte, fragte sie, ob jemand darin gewesen wäre? »Ei freilich, Niels und der Flickschneider.«
Als Mutter zur Kirche ging, hatte sie, die nach ihrer Behauptung sonst nie vergeßlich war, gerade das vergessen, was sie am wenigsten vergessen konnte, ihren kleinen grünen Geldbeutel und ein altes vergoldetes Riechfläschchen von Silber, ein Erbstück von Tante Bodil, der Drechslerfrau, eine vorzügliche Arbeit mit eingravirten Figuren und Blumen, und doch nicht größer als eine Wallnuß; sie war von ausgezeichneter Schönheit. Diese beiden Sachen nebst einem Strauße rother Nelken, die sie im Garten gepflückt, hatte sie, wie sie bestimmt wußte, auf den Stuhl gelegt, als sie die Handschuhe und eine reine Halskrause aus dem Schranke nahm; der Geldbeutel lag noch mit seinem vollen Inhalt dort, die Nelken dagegen waren auf den Boden geworfen, und das vergoldete Riechfläschchen war nicht zu finden. Es hatte neben den andern Sachen gelegen, und war nun spurlos verschwunden. Kein Fremder war im Hause gewesen, kein Hund hatte angeschlagen.
»Es hat daneben gelegen,« sagte der Flickschneider, der augenblicklich eingestand, mit Niels im Saale gewesen zu sein; »ich kann es nicht läugnen.«
Niels hatte nur die Bilder angesehen.
»Als ich sah, was dort lag, entfernte ich mich sofort!« sagte der Flickschneider und erblaßte.
»Gott soll uns behüten, niemandem fällt es ein, Euch in Verdacht zu haben,« rief die Pfarrerfrau. »Über dergleichen seid Ihr erhaben, wir kennen Euch sämmtlich; macht Euch nur selbst keine Sorge.« Sie nickte ihm freundlich zu und klopfte ihm auf die Schulter. In demselben Augenblicke ging ihr aber in ihren Gedanken ein Licht auf; sie blickte Niels scharf, doch ohne ein Wort zu sagen, an.
Der Flickschneider war als die ehrlichste Seele von der Welt bekannt; er war die Rechtschaffenheit selbst und befleißigte sich ihrer in einem Grade, daß es fast an das Komische grenzte und als Lächerlichkeit, als Schwäche betrachtet wurde.
In den Zeitungen stand einmal unter der Überschrift: »Zu weit getriebene Ehrlichkeit« folgender Bericht: »Einem ehrlichen alten Buchhalter eines Londoner Geschäftshauses träumte in einer Nacht, er hätte im Contobuche einen Fehler gemacht. Dies nahm er sich so zu Herzen, daß er den ganzen folgenden Tag schwermüthig einherging und sich die Nacht darauf das Leben nahm, lediglich wegen einer scheinbaren Veruntreuung im Traume.« Man sieht dergleichen für Narrheit an, aber es giebt wirklich Menschen, die in der einen oder andren Richtung ein so krankhaft zartfühlendes Gewissen haben, daß sie es nicht ertragen, wenn auch nur ein Traum einen Schatten auf dasselbe wirft; und mit einem solchen war der arme Flickschneider begabt oder beschwert, was an den meisten Orten, wo er arbeitete, bekannt war und gewürdigt wurde. Seine redliche Gewissenhaftigkeit übertrieb er dergestalt, daß er es sich angelegen sein ließ, über jeden Faden Zwirn, über jeden noch so kleinen Lappen, welcher verbraucht wurde oder übrig blieb, Rechenschaft abzulegen, daß in der That der Eine oder der Andere, der für dergleichen kein Verständnis hatte, nach Art dieser Welt leicht auf den Gedanken kam, es könnte etwas Unredliches dahinter verborgen liegen. Diese thaten ihm großes Unrecht. Psychologisch merkwürdig war auch die eigenthümliche Unruhe, die ihn überfiel, wenn er in einem offenen Zimmer Geld hingeworfen, oder offen daliegen sah; er wich zurück, ging augenblicklich fort, so daß wiederholentlich die Frage an ihn gerichtet worden war, ob er vielleicht einen angeborenen Trieb besäße, sich das, was er sähe, anzueignen, ob er sich aus Furcht, in Versuchung zu gerathen, so benähme. Solche Worte konnten ihn ganz krank machen; er ging dann mehrere Tage still und verschlossen umher. Das lag nun einmal in seiner Natur.
Auf den Flickschneider fiel demnach nicht ein Schatten von Verdacht; aber in Mutter war ein anderer Gedanke emporgestiegen, und im Hinblick auf das Verderben in Kopenhagen, auf all das Böse, das dort im Schwange war, wurde er ihr zur Gewißheit; sicherlich hatte sie doch, wie sie sich einst gewünscht, einen bösen Knaben in das Haus bekommen, ein Kind von schlechten Gewohnheiten. Plötzlich ergriff sie Niels bei der Hand, führte ihn in seine Schlafkammer und im Tone der Gewißheit sagte sie, ihm fest in die Augen blickend: »Wo hast du das Riechfläschchen versteckt? Weshalb nahmst du es? Du hast es gethan! Ich weiß es!«
»Nein, nein!« rief er, und das Blut wich ihm aus den Wangen.
Sie hielt seine Hand fest; er zitterte. Dies bestärkte sie nur in der Überzeugung, daß ihre Ahnung richtig wäre, und sie fügte deshalb streng hinzu: »Weißt du nicht, daß dies in das Zuchthaus führt?«
»Ich habe es nicht angerührt, es nicht gesehen!« schrie er, und eine Heftigkeit, die bisher niemand an ihm wahrgenommen, wurde sichtbar. Das war jenes heftige Gemüth, welches sein Pathe, Herr Schwan, mit den Worten angedeutet hatte: »Er hat ein Stück Kobold im Leibe, ist der reine Spritzkuchen, fut, fut!«
»Schlagt mich todt!« rief der Knabe, riß sich los, stürzte auf die Thür zu, zu ihr hinaus, und über die Felder fort in die Haide hinein, wo er in dem dicht verschlungenen Haidekraut nicht weiter konnte und hinfiel. Wie rasend griff er mit den Händen in dasselbe, riß ganze Büschel aus, schlug mit den Füßen um sich, wälzte sich auf dem Boden umher und lag endlich vor Ermattung still da.
Eine Stunde mochte wohl vergangen sein, als er noch in halber Betäubung den Kopf emporhob und aufblickte. Dicht vor ihm stand eine fremde Frau mit einem rothen Tuche um das gelblich braune Gesicht; ihre schwarzen Augen glänzten vogelartig. Ein schweres Bündel trug sie auf dem Rücken, und über demselben hing ein in ein Fell eingenähtes oder eingehülltes Kind. Sie stützte sich auf einen Knotenstock und sagte nicht ein Wort. Sie war eine Zigeunerin, gehörte zu dem »Wandervolk«, wie sie hier oben genannt werden; still stand sie da und blickte ihn starr an.
»Kingio!« rief sie; »müde, matt« bedeutet dieses Wort und wäre es von jemandem gehört worden, der ihre Sprache verstand, so würde er sofort erklärt haben, daß sie nicht jenem Theile des jütländischen Wandervolkes angehörte, welcher zu dem »Europäischen zusammengelaufenen Pack« gerechnet werden muß, sondern, wie die Gesichtszüge und der Ausdruck des Auges bewiesen, zu den echten Zigeunern. Sie betrachtete ihn noch einen Augenblick und schritt dann langsam dem Pfarrhofe zu.
Ihre Gestalt, ihr ganzes Auftreten erfüllten Niels einen Augenblick vollkommen, aber bald wieder von seinen früheren Gedanken erfüllt, legte er sich abermals nieder. Heftig stürmte die Erinnerung auf ihn ein; er gedachte des Lebens im Pfarrhause und der Menschen in demselben, seiner Heimat in Kopenhagen, der Freunde in der Regenz und endlich seiner Eltern. Wie tief, wie innig kann eine Kinderseele nicht empfinden! Hoffnungslos ist des Kindes Schmerz in seiner Tiefe. Er war sich klar bewußt, das vergoldete Riechfläschchen nicht gesehen und noch weniger es berührt zu haben, und doch hatte ihn seine Pflegemutter mit aller Entschiedenheit beschuldigt. Das Gemüth eines Kindes ist so weich, so ängstlich empfänglich, daß es, wie die Blumenknospe, die einen unseren Augen unsichtbaren Nadelstich in das Herz erhält, verkümmern kann. Nie wollte er zum Pfarrhofe zurückkehren; dies war sein Beschluß, aber nicht Gottes Rathschluß.
Bodil hatte die Mutter von dem Gedanken, Niels könnte das Riechfläschchen genommen haben, sofort abgebracht. Beide suchten nun nach ihm. Die Zigeunerin theilte ihnen mit, wo er zu finden war, und Bodil ging allein zu ihm hinaus.
»Du bist ein guter, unschuldiger Knabe,« sagte sie und reichte ihm freundlich die Hand; »ich traue dir, und Mutter traut dir ebenfalls; ich habe es ihr erklärt! – Hin ist hin! Vielleicht findet sich das Riechfläschchen doch noch. – Komm, wir wollen zusammengehen! – Halte dich nur immer an mich; ich bin jetzt deine Schwester, das habe ich deinem Vater und deiner Mutter, die bei Gott sind, aber deren Seelen dich noch immer umschweben, in meinem Herzen gelobt. Sie hast du ja doch lieb, und sie lassen auch von dir nicht ab und sind bei dir und sehen jede gute Handlung, welche du thust, und freuen sich über sie. Sie betrübst du nur, wenn du dich deiner Heftigkeit überlässest und dich nicht so zeigst, wie ich weiß, daß du bist und werden willst: gut und brav!« Und sie küßte ihn auf die Stirn.
Da stürzten ihm die Thränen aus den Augen; er preßte ihre Hand in seine beiden Hände.
»Ich habe das verschwundene Riechfläschchen nicht gesehen, nicht angerührt!« wiederholte er.
»Ich glaube es dir, und Mutter glaubt es dir auch; laß uns nicht mehr davon sprechen.« Und nun ward nicht mehr davon gesprochen. Mutter schien sogar freundlicher gegen ihn, denn Vater hatte für den Knaben gebürgt und keine Silbe mit ihm darüber geredet; aber von diesem Tage an war Bodil dem Pflegebruder in das Herz gewachsen.
Am nächsten Morgen zog der Flickschneider weiter; sein Herz war noch nicht erleichtert; seiner Phantasie waren gleichsam, wenn der Ausdruck gestattet ist, alle Schrauben gelockert.
Vierzehn Tage verstrichen langsam. Niels arbeitete und lernte seine Lectionen, war aufgeweckt und zeigte Lerneifer. Weltgeschichte und Geographie waren sein liebster Zeitvertreib. Bodil bemerkte zuerst diesen Eifer und erkannte, daß er das Gelesene auch verstand; zugleich sollte es ihr vorbehalten sein, noch eine andere Entdeckung zu machen, die einer Erwähnung bedarf.
Die jungen Katzen waren bis auf eine, die munterste, sämmtlich verschenkt worden. Man hatte die behalten, welche mit dem blanken Knopf des Flickschneiders gespielt und jetzt mit gleicher Lust Kartoffeln zu ihren Spielereien benutzte. Eines Tages traf Bodil sie im Saale mit einer der abgestoßenen Sophakugeln spielend, die dabei auf dem Boden hin und her rollte und endlich an der an den Garten grenzenden Wand in ein Mäuseloch fiel. Bodil holte sie wieder hervor und gewahrte dabei den schlechten Zustand des Fußbodens; es waren mehrere Löcher in ihm und aus einem derselben schimmerte etwas Blankes hervor; es war das Riechfläschchen. Vermutlich hatte sich am Sonntage das Kätzchen, und das war auch wirklich der Fall, hineingeschlichen, war auf den Stuhl gesprungen, hatte die Sachen, die darauf lagen, hinabgerissen und mit dem blanken Stück gespielt, bis es in das Loch hineinrollte. Die Katze hatte also selbst die Sache aufgeklärt. Mutter wurde davon augenblicklich in Kenntnis gesetzt, und die freundliche Alte nahm sowohl das Riechfläschchen wie das Kätzchen und begab sich mit ihnen eilig nach Niels Kammer, wo er bei seinen Büchern saß. Ihr Antlitz strahlte, als sie ihm den Fund wie die kleine Diebin zeigte und recht fröhlich rief: »Das Riechfläschchen ist entdeckt! Hier hast du die Diebin!« Lachend warf sie Niels die Katze in den Schoos.
Mit einem Male wurde dieser wie mit Blut übergossen, ergriff das Kätzchen, und im wilden Aufbrausen schleuderte der leidenschaftliche Knabe das arme Thier unter dem Rufe: »Du trägst die Schuld und mußt zerschmettert werden!« gegen den Kachelofen. Das Thier stieß einen jämmerlichen Schrei aus und blieb mit blutendem Kopfe auf dem Boden liegen. Die Pfarrerfrau schrie laut auf und sah entsetzt den Knaben wie das Kätzchen an.
»Herr Jesus, was hast du gethan!«
»Was hat er denn gethan!« fragte Bodil, die erschrocken herbeieilte. »O daß du einer solchen That fähig warst«, fügte sie schmerzlich bewegt hinzu.
Da athmete der Knabe krampfhaft auf, warf sich vor dem Stuhle auf den Fußboden und verbarg, über seine eigene That entsetzt, das Gesicht in beiden Händen.
Zum ersten Male hielt ihm Japetus Mollerup eine strenge, ernste Ansprache und stellte ihm die Folgen eines solchen Charakters, einer so bösen Natur vor, die durchaus bekämpft werden müßte. Das arme Thier wäre ja völlig schuldlos, selbst wenn dessen Spielerei einem Menschen einmal Kummer und Schmerz bereitet hätte. Wohin könnte eine solche Heftigkeit nicht führen! Zu Mord und Todtschlag, zu Missethaten, die auch die aufrichtigste Reue hier auf Erden nicht wieder gut zu machen im Stande wäre.
Das arme Thier war verstümmelt und mußte im Graben schnell ertränkt werden. Niels sah den rothen Blutfleck auf dem Fußboden, sah die verweinten Augen Bodils an, und sein Herz bebte, als hätte er eine Kainsthat verübt, sein Schmerz, seine Reue war in der That so gewaltig, daß die Wurzel des Bösen schon hier in den Jahren der Kindheit fast völlig gelockert wurde. Die Reue wurde gleichsam der Riß im Dampfkessel, der den Dampf ableitet, damit nicht ein größeres Unglück hervorgerufen werde.
»Der arme Flickschneider!« sagte Bodil. »Am besten wird es sein, ich schreibe ihm einen Brief und erzähle ihm, daß das Riechfläschchen gefunden ist. Ich weiß, wie er sich bei solchen Dingen quälen kann, es wird bei ihm zur vollkommenen Krankheit. Ich bin überzeugt, daß er noch immer mit seinen Gedanken dabei weilt und was vermögen diese nicht daraus zu machen! Und nun erzählte sie, was sie von ihm selbst erfahren hatte, eine wie große Angst und Qual im vorigen Jahre zwei neue blanke Silberthaler in ihm erregt, die er hier im Pfarrhause erhalten und über deren Neuheit und Glanz er sich anfangs sehr gefreut hatte. Der Krämer in dem Marktflecken, bei dem er seine Einkäufe besorgte, sagte, als er sie empfing, lächelnd: »Ei, die Thaler sehen ja aus, als wären sie eben erst geschlagen!« Bei dieser völlig unschuldigen Bemerkung, bei der der Mann nichts Arges dachte, stieg in dem Flickschneider sofort der Gedanke auf: »Sollte der Mann etwa glauben, daß ich sie geschlagen habe oder in irgend einer Verbindung mit Falschmünzern stehe? Vielleicht sind die Thalerstücke falsch, und man will sich augenblicklich an mich halten und von mir Erklärung verlangen.« Er wurde ganz verwirrt und gab schleunigst an, von wo er das Geld bekommen hatte; aber auf dem Heimwege und noch einige Tage lang quälte er sich mit dem Gedanken: »Wenn die Thaler nun wirklich falsch wären!« und malte sich in Folge dessen allerlei Verwicklungen und Verhöre aus.
Wir lächeln darüber, oder können es durchaus nicht begreifen, und doch giebt es solche Naturen in der Welt, und solch ein unglückliches Wesen war der Flickschneider. Bodil wollte, wie gesagt, an ihn schreiben. Gerade an dem Tage, an dem sie sich zum Schreiben niedersetzte, langte ein Brief des neuen Amtsrichters an den Pfarrer mit der Frage an, ob der Flickschneider ehrlich wäre, und man im Pfarrhause nichts vermißt hätte.
Die Veranlassung zu dieser Frage lag in dem Umstande, daß bei dem Schultheiß Geld fortgekommen war; alle, die zum Gesinde gehörten, hatten ihre Unschuld behauptet, auch hatte sich bei einer vorgenommenen Untersuchung unter ihren Sachen nichts gefunden. Der Flickschneider hatte dagegen sofort eine eigenthümliche Angst und Verlegenheit zu erkennen gegeben, und als man nun auch in seinem Kasten nachsah, fand man darin zwar nicht das Geld, wohl aber in einem Strumpfe einen kostbaren Ring, der, wie sich herausstellte, einem der fremden Herren aus Kopenhagen gehörte, die sich bei dem Schultheiß zum Besuch aufhielten. Der Flickschneider hatte gleich allen Dieben seine Unschuld betheuert, und als man ernstlicher in ihn drang, war er mit einem Male verstummt und spielte noch immer die Rolle eines Stummen. Jetzt lag er krank darnieder; entweder war er wirklich leidend, oder stellte sich nur so. Das war der Inhalt des Briefes.
Alle im Pfarrhause waren von ihm höchlichst überrascht, aber auch überzeugt, daß der Flickschneider der Dieb nicht wäre. Japetus Mollerup gab ihm das allerbeste Zeugnis und versicherte, daß man ihm sicherlich an jedem Orte, wo der ehrliche Mensch gearbeitet hätte, ein ähnliches ausstellen würde; er berichtete ferner über seine seltsame Natur und sein sonderbares Gebahren, sobald die Ehrlichkeit in Frage käme, und daß dies durchaus keine Verstellung wäre.
Aber wie konnte der Ring in den Strumpf gekommen sein? Er war wirklich in demselben oben in dem verschlossenen Zeugkasten des Schneiders gefunden worden, und dieser hatte sich kurz vorher etwas an ihm zu schaffen gemacht. Wo kam der gestohlene Ring her? Wer hatte ihn dort hinein gelegt? Ja, dahinter werden wir, wie hinter so vieles in der Welt, nicht so schnell kommen; wir müssen uns gedulden, bis der Aufschluß von selbst kommt, aber er wird kommen!
Zweifel an seiner Ehrlichkeit war eine geheimnisvolle Macht, die bei dem armen Schneider stets eine fieberhafte Erregtheit hervorrief; wenn ihm sein Verstand auch sagte: »Du bist unschuldig«, so half doch alles nichts; seine von Schreckbildern verfolgte Phantasie ging gleichsam mit ihm durch. Und doch sprach es in seinem Innern: »Stände ich vor meinem Richter, und wäre es Gott selbst, so würde ich mit gutem Gewissen sagen können: Nie habe ich mit Wissen oder Willen jemandem Unrecht zugefügt!« Sein Gedächtnis durchlief die feinsten Fäden und Verzweigungen einer jeden seiner Handlungen; jeder Nerv der Erinnerung vibrirte, und er gelangte zu der Überzeugung, daß er ein guter Mensch wäre und sein müßte. Polizei und Polizeiamt galten ihm für gräßliche Reinigungsmaschinen im Staate, für ein Mühlwerk, das allzu leicht das Gewand des Unschuldigen ergreifen könnte; es wäre fähig, jemanden am Ärmel zu packen und vielleicht den Arm auszureißen, kurz den ganzen Menschen zu Grunde zu richten. Die Gerechtigkeit wäre ein Schemen, eine entsetzliche Maschinerie, zwar um andrer willen, aber wahrlich nicht um seinetwillen nothwendig; sie hielte sich einmal an ihre eigenen Vorstellungen und Vernunftgebilde und besäße kein Herz, sondern nur Gesetze.
Man wird also begreiflich finden, daß der Flickschneider, als man bei der in der Wohnung des Schultheiß vorgenommenen Haussuchung in seinem Zeugkasten einen kostbaren Ring gefunden, der einem der fremden Gäste gehörte, auch unbedenklich als der Dieb des vermißten und noch nicht entdeckten Geldes betrachtet wurde. Er wurde dadurch in ein Maschinenwerk hineingeschleudert, das seine eigene Phantasie mit vieler Pferdekraft zu immer furchtbarerer Geschwindigkeit antrieb; was Wunder, wenn er daran zu Grunde ging!
Er hatte keine Worte mehr; es kam ihm vor, als wäre er plötzlich aus großer Höhe hinabgestürzt. Es brauste in seinem Kopfe, sein Blut stockte, es drückte auf sein Hirn – sein Verstand war dahin.