»Sie ist gräßlich!« sagte er zu Herrn Schwan, der sicherlich dasselbe gesagt haben würde, wenn er sie jetzt gekannt hätte. Es waren jetzt fünfunddreißig Jahre her, seitdem auch er in der Reihe ihrer Bewunderer gestanden und bemerkt worden war. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er der Glückliche geworden, als den er jetzt den Kammerherrn beneiden mußte. Damals blickte Herr Schwan noch mit den verliebten Augen eines Jünglings um sich, und sie war damals feenhaft, – alles, was sie sagte, wurde Musik. Die Zeit sondert und klärt; Herr Schwan war jedoch nicht zur Klarheit gekommen, und trug sein Geheimnis wie ein Mysterium, wie einen schönen, nie erfüllten Traum in sich, und daß er nicht in Erfüllung ging, war sein Glück; allein er kannte sein Glück nicht, ahnte es nicht!
Vor etwas über sechs Wochen war Niels Bryde von Jütland wieder nach Kopenhagen gekommen, unzufrieden über die Lieben daheim, vielleicht gerade weil er fühlte, daß das Recht nicht ganz auf seiner Seite lag. Bei jeder Erinnerung von dort war er von Neuem stehen geblieben, um alles Herbe und Bittre darin zu entdecken und herauszufinden und sich die ihm widerfahrene vermeintliche Rücksichtslosigkeit zu vergegenwärtigen. Der Alte hatte ja vollkommen vergessen, daß das Kind im Laufe der Jahre zum Manne herangereift war, und daß Wohlthaten kein Patent auf Despotie über Personen und Gedanken verleihen. Höher erhob sich sein Wille, stärker regten sich seine natürlichen Neigungen, die Bande, die hemmend auf ihn einwirkten, sollten und mußten zerrissen werden. Er empfand jetzt fast Unwillen, ja Mißtrauen gegen alles, was Geistlichkeit hieß; jede Verkehrtheit, die er bei irgend einem Geistlichen wahrgenommen hatte, mochte sie nun eine Folge mangelhafter Begabung oder menschlicher Schwäche sein, tauchte in seiner Erinnerung vor ihm auf. Die Predigten des einen klangen ihm wie nach dem Ellenmaß zusammengeleimte Bibelstellen ohne geistigen Zusammenhang; die Worte eines andern kamen ihm wie Rosen und Tulpen vor; ein dritter ängstigte seine Zuhörer durch unaufhörliches Auf- und Zuschließen der Höllenpforte, alles hohl, alles leer, alles – »unchristlich«. »Wollte ich ein solcher werden, würden die Alten da drüben ihr Wohlgefallen an mir haben,« sagte er bitter.
Bodils erster Brief, der gleich die Woche nach seiner Ankunft in Kopenhagen eintraf, war unendlich herzlich, war einer zärtlichen, um seinetwillen tief betrübten Seele entströmt; aber eine liebevolle Mahnung an seine Heftigkeit und sein jugendliches Ungestüm kränkte ihn; ihr Brief blieb deshalb unbeantwortet. Er sah ein, daß sich etwas Dämonisches in ihm regte, aber er gab demselben Gehör, redete sich selbst ein, der Mensch müßte den Muth haben, alle wilden Gedanken und Kräfte in sich hervorsprudeln zu lassen, müßte sie sogar anschauen und das erste Bläschen der Quelle auffinden können, müßte die Beweggründe zu seinen Handlungen klar in sich erkennen, selbst wenn diese schlecht wären, ja er müßte sich des Schlechten in sich bewußt werden. Der Mensch müßte im Stande sein, selbst in das, was ihm heilig wäre, ohne Scheu einzudringen, müßte sich mit jeder Ausschweifung des Gedankens, selbst mit der Sünde und jedem Laster vertraut machen können, müßte seinen Trieb zum Bösen empfinden und die Gewalt seiner Seele in dieser Richtung erkennen, müßte wissen, ob das Christenthum Wahrheit ist, müßte den Muth haben, seine Überzeugung auszusprechen und nicht ein Lügner sein, wie es die meisten wären. – So redete die Stimme in Niels Innerem.
Pfarrer konnte und wollte er nicht werden; allein zu welchem Fache sollte er übergehen? Örsteds naturwissenschaftliche Vorlesungen behielten lange die überwiegende Stimme, allein der aus den Worten seines Pflegevaters hervorklingende Hohn, als er sagte: »Werde Feldscherer, flicke am Körper«, verliehen der ärztlichen Kunst in seinen Augen gleichsam einen Glorienschein. Ihm kam der tüchtige Arzt wie ein Segenspender, ein Tröster und Rettungsengel vor. Er war im Stande, seinen Glauben in Thaten zu erhärten. Arzt wollte Niels Bryde werden.
Seine einträglichsten Unterrichtsstunden wollte er nicht aufgeben; sie sicherten ihm ein dürftiges Auskommen. Vom Pfarrhause wollte er ferner keinerlei Unterstützung annehmen. Seine Schuld, sagte er, wäre groß genug; sie dürfte nicht vergrößert werden.
So standen die Verhältnisse an dem erwähnten Abende, als Niels Bryde endlich sein Lager aufsuchte und der Hund des Kammerherrn und Lustig Bekanntschaft anknüpften, so standen sie des Morgens, als er sich, nachdem er sich angekleidet, Kaffee getrunken und lange nachgesonnen hatte, mit Anna Sophie, Frau Jensens Magd, die den Hund des Kammerherrn trug, nach dessen Wohnung begab, in der man jetzt auch aufgestanden sein mußte. Und in der That waren sie es.
Die gnädige Frau erschien; sie war eine sehr korpulente Dame und zu alt, um noch mit Locken einherzugehen, allein sie hatten ihr in der Jugend sicherlich vortrefflich gestanden, und das konnte sie nicht vergessen; sie glich einer alten »Gurli«, bei der die Naivetät in Samen geschossen war. Die Geistreichheit war Stengel und nicht Blüte. Die Augen waren noch schön; es ließ sich annehmen, daß sie dies wußte, und doch verdarb sie sie durch Thränen; sie weinte über Zemire, die auf der Straße und bei wildfremden Leuten gewesen war. Der Hund winselte vor Freude, die Frau Kammerherr weinte und vergaß, wie sie betheuerte, ihre Dankbarkeit gegen den Retter; doch versicherte sie, von heute an wäre ihr Haus dem Herrn Studenten Bryde geöffnet, er wäre durch Zemire eingeführt.
Der Kammerherr ließ sich mit ihm über die Skandinavische Frage ein und wollte, wie er sich ausdrückte, doch gar zu gern wissen, was eigentlich dahinter steckte und wie die Studenten darüber dächten. Herr Bryde antwortete, wie hundert andere hätten antworten können, und das Ehepaar ersah aus dem Ganzen, daß er ein sehr geistreicher Mensch wäre und nächste Woche bei der allgemeinen Abspeisung mit eingeladen werden müßte. Die Theilnahme an einer großartigen Soirée müßte für einen Studenten aus Jütland höchst interessant sein.
Gerade zwei Tage später erschien in früher Morgenstunde Frau Jensen mit einer Zeitung in der Hand bei ihrem Miethsmanne. »Was in aller Welt hat das zu bedeuten, was hier im Blatte steht!« sagte sie. »Ist das nicht unsere Hausnummer?« sie nannte dieselbe, »und wohnen wir nicht in der Schwertfegerstraße im dritten Stocke?«
»Vollkommen richtig,« erwiderte Niels.
»Aber haben Sie denn ein Legat von zweitausend Reichsthalern zu vergeben? Es liest sich wirklich ganz allerliebst, aber ich begreife es nicht,« und mit diesen Worten deutete sie auf einen langen Artikel in der Zeitung mit der Überschrift: »Ein verkanntes Genie wird gesucht«.
»Das ist sehr drollig,« sagte Niels Bryde, nachdem er die lange Bekanntmachung durchgelesen hatte, deren Inhalt ausreichenden Stoff zu einem Lustspiel gab, wenigstens den Rahmen für eine Sammlung von Originalen darbot. »In der Welt geht es noch immer wie in der Komödie zu,« begann der Artikel, und nun wurde die Geschichte zweier Brüder erzählt. Der eine war sehr praktisch und ihm ging es gut, der andere sehr genial und ihm ging es schlecht. Als ihn noch Krankheit befiel, gerieth letzterer schließlich in solche Bedrängnis, daß er von dem Praktischen Geldhilfe annehmen mußte. Dieser sandte ihm ein- für allemal fünfundzwanzig Thaler, die er vernünftig anwenden und für Doctor, Apotheker und andere Bedürfnisse ausgeben sollte. Da es indessen gerade der Tag vor der letzten Ziehung der Klassenlotterie war, so nahm er ein ganzes Loos, die Nummer kam heraus, das Genie gewann fünfzigtausend Thaler und starb, ehe sie ihm ausgezahlt wurden. In seinem Testamente bestimmte er jedoch hinsichtlich des Looses, daß die jährlichen Zinsen dieser fünfzigtausend Thaler, die ungefähr, zweitausend Thaler ausmachen würden, einem verkannten Genie dänischer Abstammung zufallen sollten. Deshalb wurden die verkannten Genies gerade heute als an dem Geburtstage des Verstorbenen aufgefordert, entweder einen mit »Verkannt« bezeichneten Brief einzusenden und Beweise für die wirkliche Verkennung ihres Genies beizulegen, oder sich am liebsten persönlich »vor bürgerlicher Mittagszeit« in der Schwertfegerstraße vorzustellen, und hier war wirklich Frau Jensens Wohnung angegeben oder richtiger Niels Brydes, indem bemerkt war: »Man melde sich bei dem Studenten, dessen Name an der Thür geschrieben steht.«
Das Ganze war selbstverständlich ein Scherz, und Niels dachte deshalb sofort an Herrn Schwan, der ihm ja versprochen hatte, den Beweis zu liefern, wie reich die Stadt noch immer an Originalen wäre. Aber sollte wirklich ein Mensch so einfältig sein, diese Bekanntmachung für Ernst zu halten und der Aufforderung nachzukommen? Erfinde das Unglaublichste, und es findet doch Gläubige, wie das schlechteste Buch sein Publikum findet. Verschiedene Briefe liefen ein; ein einziger darunter war vielleicht im Scherze geschrieben, denn er ging auf den Spaß ein, einige dagegen schienen im vollen Ernst gemeint. Es stellten sich auch mehrere Leute persönlich vor, aber wir wollen nur die Bekanntschaft eines derselben machen, nicht weil er der Originellste war, sondern weil er der einzige blieb, mit dem Niels Bryde später noch einmal Berührung haben sollte.
Frau Jensen befand sich noch im Zimmer, entfernte sich jedoch, als der Herr eintrat; er war schon ältlich, trug einen Frack, hatte eine Halsbinde von Roßhaaren und trug, wie wir zu glauben berechtigt sind, Vatermörder von Papier. Er gehörte nach seiner Erklärung zu den sich vorzustellen Aufgeforderten, zu den völlig Verkannten, was er diesmal als sein Glück, als seine Zukunft betrachtete, und als Niels Bryde fragte, wer er wäre, antwortete er mit der Gegenfrage: »Kennen Sie Salomon de Caus, den Erfinder der Dampfkraft? Es war ein ausgezeichneter Mann, der hoch über seinem Zeitalter stand, und aus diesem Grunde sperrten sie ihn in das Irrenhaus! Schade, daß er jetzt nicht lebt, er wäre der Mann für die Leibrente gewesen. Ich nenne ihn, obgleich ich im Übrigen sein Gegner bin; ich verwerfe den Dampf mit den großen Mitteln, die er verlangt, ich gebrauche ihn nicht.«
»Sie meinen – –« begann Niels Bryde.
»Der Dampf nimmt zu seiner Erzeugung viel Geld in Anspruch,« fuhr der Mann fort, »der Dampf kostet Menschenleben; ich habe es leichter und bequemer, ohne Kosten, ohne Gefahr, nur daß die Maschine da ist, und ich kann sagen: Seien Sie so gütig, es kostet nichts, Sie bekommen noch Geld zu! – und nun geht es los.«
»Sie haben also ein billigeres und sichereres Mittel als den Dampf?«
»Ja, das habe ich! Sie kennen dem Namen nach Robert Fulton, den Erfinder des Dampfschiffes. Schon als Kind begann er mit einer Art Rad; trat er es mit dem Fuße, wurde das Boot in Bewegung gesetzt. Damit befand er sich bei dem Richtigen, bei dem Allereinfachsten. Alles ist einfach in dieser Welt. Ich will das Bein in die Höhe heben, und siehe, ich hebe es; ich will den Arm hoch heben und hebe ihn. Es kostet nichts, es ist kein Dampf, kein Kunststück, es ist nur die Kraft des menschlichen Willens, und unter seiner Anwendung kann das Schiff Bewegung erhalten, wenn es mit einer Tretmaschine in Verbindung gesetzt wird.«
Und nun erklärte er, wie das ganze Verdeck des Schiffes mit Leisten, Schwungbretern und Vorkehrungen zur Hervorrufung der Beweglichkeit nach seiner Construction versehen sein müßte. Die Passagiere brauchten also nur auf und ab zu spazieren, hierhin zu treten und dahin zu treten, dann käme die Bewegung von selbst, die Räder drehten sich, die Schaufeln kämen in Gang und es kostete gar nichts.
»Dampf ist ein Abweg,« fuhr er fort; »dreht die Erde sich etwa durch Dampf? Geht der Mond, gehen die Planeten durch Dampf? Nein, bleiben wir ruhig beim Einfachen und lassen die Maschine das Ganze sein; dann geht es. Hätte Napoleon die Tretmaschine gekannt, dann wäre er sicherlich nicht auf St. Helena geblieben; aber damals hatte ich die Idee noch nicht und kannte auch Napoleon nicht, und er kannte mich eben so wenig. Er verwarf die Dampfkraft und darin sind wir einander ähnlich.«
Niels Bryde wußte nicht recht, ob der Mann närrisch war oder nur das »Geniefieber« hatte. Was sollte er ihm antworten? Das Einfachste und gewiß das Richtigste war, ihm gerade heraus die Wahrheit zu sagen, daß sie beide durch einen Zeitungsscherz zusammengeführt wären, daß der ganze Artikel nur auf Erdichtung beruhte, er kein Legat zu vergeben hätte, und ein solches überhaupt nicht vorhanden wäre. Zu seiner Verwunderung bemerkte er, daß der Mann hierdurch weder heftig noch niedergeschlagen wurde, sondern ruhig sagte: »Ei, wirklich? Ich konnte es mir denken!« und dann kaltblütig fortfuhr, die Einfachheit und den außerordentlichen Nutzen seiner Tretmaschine auseinanderzusetzen und zu erklären. Der Mann schien fast mit seinem Gange hierher ganz zufrieden zu sein, indem er annehmen mochte, hier einen gebildeten Zuhörer für seinen Plan gefunden zu haben. Ehe er fortging, mußte Niels ihm versprechen, sich das Modell zu der Tretmaschine, eine Art Prahm, der im Kanale am Larsplatze lag, anzusehen. – Daß Niels nicht hinging, gehört nicht hierher; sie trafen sich erst später in einer der ernstesten Stunden des Lebens.
Aus den einlaufenden Briefen wollen wir, wie gesagt, auch nur einen einzigen hervorheben, der Niels besonders ansprach; er nahm an, daß es sich nur um einen Scherz handelte, aber Herr Schwan, der ihn gelesen, war entgegengesetzter Ansicht; nach ihm war er ganz ernsthaft gemeint. Die Unterschrift lautete: Kein Genie, nur ein Herz.
»Verzeihung! – ich bin ein Weib, sonst käme ich zu Ihnen, nun aber muß ich schreiben. – Ein Genie bin ich nicht, aber ich habe Herz und Gedanken für alles was Genie heißt, und deshalb gestatten Sie, daß ich Ihrer Aufforderung nachkomme. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Ihre kostbare Zeit zu rauben, und deshalb will ich hier kurz und klar und nach meiner vollen Überzeugung ehrlich niederschreiben, was ich auf dem Herzen habe. Ein verkanntes Genie hat die Glorie seiner Zukunft eben in seiner Verkennung; nehmen Sie ihm nicht den größten Theil dieser Glorie durch Ihre Leibrente von zweitausend Thalern! Ich glaube Ihnen einen andern Vorschlag für die Verwendung des Legates machen zu können und bitte Sie, denselben auf das gründlichste überlegen zu wollen. Man kann unsere Zeit die Zeit der Monumente nennen; allen Großen sollen jetzt Monumente errichtet werden. Aber, frage ich, haben die Großen denn nicht genug Monument in sich selbst? Ja, ich glaube es, ich bin davon überzeugt, und es würde sicherlich weit richtiger sein, wenn man an Monumente für die Kleinen dächte, die derselben weit mehr bedürfen. Unter den »Kleinen« verstehe ich die Genies, die es nicht dahin brachten, groß zu werden, und doch gethan haben, was sie konnten. Es würde schön sein und vielen das Leben verschönern, errichtete man den wirklichen kleinen Genies Monumente, wie etwa dem Erfinder der geruchlosen chemischen Streichhölzer. Das ist eine Erfindung, die in das Leben hineingreift und in ihrer Art im Kleinen eben so viel zu bedeuten hat wie der Dampf im Großen. Meines Bedünkens verdiente auch der Erfinder der Kräuselmaschine ein Monument. Wie manche Mutter lebt nicht mit ihren Kindern blos durch die Kräuselmaschine! Die Erfindung ist ein Segen, aber der Erfinder selbst ist so »verkannt«, daß sein Name in keinem Buche zu finden ist. Vielleicht ist der Erfinder eine »Sie«; nach meiner Überzeugung war es ein Weib; errichten wir ihm ein Monument! ›Wie groß kann doch der Kleine sein!‹ hat ein großer Dichter gesagt. Lassen Sie uns an die verkannten Kleinen denken, die, wie wir wissen, wirkliche Genies waren, und für sie die Leibrente verwenden. Dies ist meine Überzeugung, mein Gedanke, machen Sie ihn zu dem Ihrigen. Ich bin, wie ich mich unterschreibe
Kein Genie, nur ein Herz.«
Nachschrift.
»Ich könnte noch vieles sagen, aber in dem, was ich geschrieben, ist es so ziemlich gesagt, und ich will Sie Ihrer kostbaren Zeit nicht berauben.« Diesen Brief, ja das ganze gesammelte Briefpaket steckte Niels Bryde in die Tasche und begab sich damit zu seinem Pathen, Herrn Schwan, von dem der Scherz ausgegangen war. Über die Besuche wurde Bericht erstattet, die Briefe wurden vorgelesen. »Nun, war es nicht ein guter Einfall?« fragte Herr Schwan. »Darüber ließe sich ein ganzes Lustspiel unter dem Titel ›Genie und blinder Lärm‹ schreiben; der blinde Lärm würde von denen ausgehen, die sich meldeten, und das Genie müßte der Dichter selbst liefern.«
»Schreibe das Lustspiel!« entgegnete Niels Bryde.
»Nein,« rief Herr Schwan, »jetzt habe ich schon wieder eine ganz andere Idee, die ich ebenfalls nicht ausführe, obgleich ich wirklich glaube, es würde mir ungleich gemächlicher und behaglicher sein als Correcturlesen, Auctionen besuchen und an all diesen andren kleinen Knochen zu nagen, aus denen ich meinen Unterhalt gewinne. Ich könnte ein Blatt oder auch gleich zwei herausgeben, ein zahmes und ein Gift sprühendes. Das zahme müßte regelmäßig mit dem lyrischen Ergusse eines jungen Dichters beginnen; als Einleitung muß natürlich etwas Zahmes vorausgehen. Darauf kämen Leitartikel, die allem das Zeugnis »sehr gut«, »höchst achtungswerth«, »recht wacker« ertheilten; zu dergleichen erhält man Beiträge von rechts und links. Unten im Feuilleton müßte dann ein langer, wenn auch nicht allzu langer französischer Roman erscheinen. Das Gift sprühende Blatt nenne ich »Das Halseisen«. In diesem kann jeder Aufnahme finden, und einige Auserwählte, die man beständig packen kann, wird man sich immer auf Lager halten. Liebe Bekannte zu sehen, macht Spaß. Kunst und Theater müßten ihr Theil gleichfalls abbekommen; auch dürfte es nicht an humoristischen Kraftanstrengungen fehlen, die Straßenlaternen zu putzen und die Sterne anzuspeien!« Herr Schwan lachte, und dabei blieb es.
Niels erzählte von der neuen Bekanntschaft mit der Familie des Kammerherrn, theilte mit, er hätte bereits eine Einladung zum Thee, zum großen Rout erhalten und wäre, wie sich die gnädige Frau auszudrücken beliebt hätte, von Zemire eingeführt worden. Er erzählte, wie es zugegangen, und Herr Schwan erkundigte sich besonders nach der gnädigen Frau, wie sie aussähe und welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte. Niels hatte sich indessen noch keine rechte Ansicht über sie gebildet, da er sie bei Zemirens Ankunft nur in einer förmlichen Verzückung, in Lächeln und Thränen erblickt hatte. »Sie muß gewiß einmal schön gewesen sein.«
»Sehr schön,« versetzte Herr Schwan mit einer eigenthümlichen Betonung, die großen Ernst verrieth.
»Aber gewiß unbedeutend!« erwiderte Niels Bryde. »Sie machte den Eindruck auf mich, was ich freilich nicht von vornherein annehmen darf, als könnte auch sie mit zu jener Reihe von Originalen gehören, die Sie mir heute zusandten.«
»Als geistvoll, ich meine mit Sinn für das Schöne begabt, galt sie einst in ihrer Jugend, wurde sie doch zu den hervorragendsten Schönheiten Kopenhagens gerechnet. Ein Lächeln von ihr hat Manchen glücklich gemacht, ein Tanz mit ihr manch unerfahrenes Herz in Rausch versetzt. Sie sah einst aus, wie man sich eine Feenkönigin denkt, fein, anmuthig und hatte reizende Augen.«
»Augen, o ja,« rief Niels Bryde, »aber der übrige Zauber ist freilich verschwunden. Sie haben sie jedenfalls gekannt, als sie noch jung war.«
»Natürlich,« sagte Herr Schwan, »wer kannte und beachtete nicht diejenige, die für das schönste Mädchen gehalten wurde! Deshalb wurde sie auch Kammerherrin!« Nach dieser Bemerkung lenkte er das Gespräch auf einen andren Gegenstand über. Wäre Niels mit der Entwickelung und Verwickelung des erotischen Elements besser vertraut gewesen und hätte er besser gewußt, wie dergleichen zu enden pflegt, so würde er das, was Herr Schwan tief in seinem Herzen verbarg, einigermaßen geahnt haben.
Der Abend, an dem die Soirée stattfinden sollte, kam heran; ein Theil der Gesellschaft stellte sich um neun Uhr ein, andere erschienen um zehn und halb elf Uhr. Die Stuben waren klein, der Geladenen zu viel; da waren Diplomaten, schöne Frauen, große Künstler und vor allen nicht zu vergessen: Thorwaldsen. Eng zusammengepreßt stand man da; es war schrecklich heiß und entsetzlich langweilig. Wie es hieß, sollte die Italienische Operngesellschaft singen; der Tenorist Ciaffri würde kommen. Die Lichter strahlten, die Augen der Kammerherrin strahlten. Niels Bryde wurde das freundlichste Lächeln zu Theil. Mit der Anrede »monsieur l'étudiant« wurde er willkommen geheißen. »Zemire läßt grüßen«, war auch das Einzige, was von der Conversation an ihn verschwendet wurde, und danach war er ja außer Stande, sich über die Geistreichheit ein Urtheil zu bilden. Gesang gab es nicht, dafür aber allerlei Salate und schlechten Rothwein. Erst einige Tage später sollte sich die gnädige Frau Bryde gegenüber vollkommen enthüllen.
Zufälligerweise begegnete Niels dem Kammerherrn gerade vor dem Hause desselben. Die gnädige Frau, die am Fenster saß, erwiderte seinen Gruß, und als der Herr Gemahl unsern jungen Studenten fragte, ob er nicht mit hinauf kommen wollte, begleitete er, da er doch, wie er wußte, einen Dankbesuch schuldig war, den Kammerherrn in seine Wohnung und sah und lernte die gnädige Frau recht kennen, sie, die einmal im Zauber der Jugend durch ihr liebenswürdiges Wesen die Herzen in Flammen gesetzt hatte, ja einst Herrn Schwans »steter Gedanke« gewesen war. Um sie zu gewinnen, wollte auch er sich auf Flügeln des Geistes emporschwingen, wollte Erfindungen machen und nicht die gewöhnliche Straße ziehen, denn diese konnte ihn nicht zum Besitz der feenhaften Schönheit führen. Der ganze Zauber lag bei ihr jedoch nur im Äußern; dieses hatte seinen Glanz verloren, das Innere war geblieben. Das Lächeln, welches sie in ihrer Jugend so gut gekleidet, hatte nicht mehr die frühere Anmuth, die Wangen zeigten keine Grübchen mehr; die herabwallenden Cendrillon-Locken standen der Matrone nicht mehr so gut wie dem Mädchen, und der Wortschwall, der ihr eigen war, und den sie für Beredtsamkeit hielt, zerriß jeden Gedankenfaden. Sie gehörte zu jener Klasse von Menschen, die so reich an Redestoff sind, daß ihre Rede eigentlich nur aus Kapitelüberschriften und kurzen Sätzen besteht, die nicht weiter ausgeführt werden.
Ein guter Kupferstich der Sixtinischen Madonna in Dresden hing an der Wand und wurde der erste Gesprächsgegenstand. Herr Bryde hatte, wie die gnädige Frau vernahm, das Original gesehen, war also gereist.
»Das ist allerliebst,« sagte sie, – »und die Hotels – Eleganz! – Sammet-Sophas – wie man es gewöhnt ist! – – Berlin! – Dresden! – – ach, aber nun erst Venedig! Das ist meine Stadt! – Wasser! – Mondschein! – Paläste! – Marmor bis auf die Kellertreppe! – Die alten Dogen! – man fühlt sie! – – und dann die Schweiz! die ist wieder ganz anders – waren voriges Jahr dort – oben in den Wolken – gute Landstraßen – Schwindel erregend! – ich fiel auf meine Knie! – und doch bin ich nicht mehr ein schwärmerisches junges Mädchen! – Gottes Allmacht! – man muß reisen! – selbst reisen! – sonst ist man gar nicht auf Reisen gewesen!«
Es war Niels Bryde nicht möglich, auch nur ein einziges Wort zu erwidern; es wurde erst eine Pause, als Zemire den Kopf aus ihrem Körbchen erhob und Herrn Bryde zu erkennen schien.
»Ihr Schützling!« sagte die gnädige Frau. »Zemire! – intelligent! – Menschenverstand! – die Soirée!«
So ging es über eine halbe Stunde in einem fort; und Zemire lag auf dem Schooße ihrer Herrin und drehte sich und Herr Bryde wandte und drehte sich ebenfalls; ihm war, als bekäme er ein Conversations-Douchebad. Es wurde von allem geredet, aber es war wie ein Strom von Häckerling. Es sauste Niels im Kopfe, als wäre er im Sturmwind auf brausender Locomotive dahingefahren. Dankbar küßte er der gnädigen Frau die Hand, als er endlich Erlaubnis erhielt, sich zurückzuziehen.