Er hob den Kasten, in dem seine Kleidungsstücke aufbewahrt waren, auf, legte ihn über den Rücken und folgte dem Pfarrer unter lebhaftem Geplauder nach dem Pfarrhofe, wo er einige Wochen arbeiten sollte. Willkommen war er, das sah man allen Gesichtern an. Die Freude glich der gestrigen bei Vaters Rückkehr von Kopenhagen; aber der Flickschneider brachte ihnen auch ausführliche Neuigkeiten mit und war zudem, wie sie es nannten, »ein guter Leser«, das heißt er stand im Lesen eine Stufe höher als die übrigen; ja, wir müssen gestehen, daß er in dieser Beziehung eine Art Verschwendung trieb: er hielt die Aarhuuser Zeitung. Allerdings erhielt er sie nicht noch ganz naß mit der Post, denn sie machte erst vierzehn Tage lang die Runde bei sechs Familien in der Umgegend, die sie ebenfalls lasen; aber dafür bekam er jeden zweiten Sonntag eine desto größere Anzahl Nummern, und in ihnen stand alles, was in der ganzen Welt geschah, »sowohl das Inländische wie das Ausländische«, und er verstand, es vorzulesen und zu erklären; was ihm an Körperfülle abging, kam seiner Klugheit zu Gute, und er war in jeder Hinsicht »ein gereister Mann«. Seine Bekanntschaft sollte für Niels von Bedeutung werden. Wir werden gleich erfahren inwiefern.
Der Pfarrhof auf der Haide. Musikanten-Grethe.
Über Silkeborg, dessen schnelles Emporblühen damals noch niemand ahnte, führte die tiefe, nur ein langsames Fortkommen gestattende, sandige Straße nach Niels an der Westküste liegenden neuen Heimat, dem alten Pfarrhofe am Fuße der Windingedalhügel, die durch den »Langsee« von umfangreichen Waldungen abgeschnitten und von der einem Meere gleich sich weithin ausdehnenden Haide begrenzt werden. Es war schon spät am Abend und dunkles Wetter; müde waren die Reisenden, müde die Pferde, und langsam ging es durch die Einsamkeit in lautloser Stille vorwärts. Plötzlich vernahm man Hundegebell.
»Das ist unser Kettenhund.« sagte der Pfarrer; »jeder Laut ist weit vernehmbar.«
Der Gruß des Hundes war der erste in der neuen Heimat. Wie sah es hier aus? Ja, schon seit einigen Stunden ließ sich in der dichten Finsternis nichts wahrnehmen und erkennen. Bereits den Abend vorher waren Wagen und Pferde nach Aarhuus gesandt, damit sich letztere ausruhen und frische Kräfte für die Rückreise sammeln könnten; allein jetzt waren die Kräfte erlahmt, langsam schlichen die Pferde die Straße entlang; Gott behüte, daß jetzt keines der Räder bricht! Der Sand wurde tiefer, die Nacht finsterer. Lange unterschied man das Brausen des Wassers durch die Schleusen am Gudenaa; bald wieder ertönte ein seltsamer Vogelschrei, bei dem Niels in die Höhe fuhr; aber selbst an dieses Fremdartige gewöhnte er sich allmählich, und seine müden Augen schlossen sich. Die einförmig langsame Bewegung des Wagens, das Scharren des Sandes gegen die Räder wiegten ihn in Schlaf, und die vielen Sagen und Erscheinungen dieser Gegend kannte er damals noch nicht, sonst würde der dunkle Abend sowohl sie wie ihn belebt haben.
Niels erwachte erst, als der Wagen im Pfarrhofe anhielt. Alles war in Bewegung, alles auf den Beinen; sogar die Lichter schienen in den Stuben umherzulaufen und zu rufen: »Jetzt kommen sie! Jetzt kommen sie!« Der Kettenhund bellte, der Hahn auf seiner Stange krähte und die Hühner gackerten; die Holzschuhe der Mägde klapperten über den Hof, und Mutter stand mit lächelndem Antlitz da und bekam einen Kuß. Dicht neben ihr stand ein nicht mehr ganz junges Mädchen mit ernst sinnenden, aber sanften Zügen. Es war achtundzwanzig Jahre alt und das einzige Kind der Pfarrersleute, es war Bodil. Lichter waren in die Fenster gestellt, eine ganze Illumination, und in der Wohnstube war der Tisch wie zu einem Feste gedeckt. Vater konnte heute nichts Ordentliches gegessen haben, denn Wirthshausessen ist doch nur halbes Essen, und deshalb bekam er jetzt eine warme Suppe, Hasenbraten und Bohnen.
Die Pfarrerfrau hatte viel zu erzählen, viel mehr als Vater, der doch so weit her kam: der Marder hatte fünf Enten geraubt, und von den Bildern war eines herabgefallen und hatte sie erschreckt; sie hatte geglaubt, es wäre ein böses Vorzeichen. Der Amtsrichter hatte mit seiner jungen Frau schon in dem westlichen Theile seines Bezirks Besuche abgestattet. Ja, es hatte sich viel in den vierzehn Tagen zugetragen, während deren sich Japetus Mollerup, ihr Väterchen, in Kopenhagen aufgehalten hatte.
Bodil trug besonders für Niels Sorge; freundlich und herzlich hieß sie ihn willkommen; selbst Mutter, die gottesfürchtige, wackre Pfarrerfrau, hieß ihn mit wohlthuenden Worten im Hause willkommen; aber sie konnte sich doch nicht verhehlen, daß sie lieber ein etwas moralisch verdorbenes Kind aufgenommen hätte, welches sie zum Guten führen, anleiten und erziehen durfte, das ihr Freude auf Erden und Lohn im Himmel gewähren konnte; ein solches würde sie mit größerer Herzlichkeit aufgenommen haben. So sind wir armen Menschen in unseren guten Vorsätzen!
Bodil führte Niels in sein Kämmerlein hinauf; Mutter legte ihm sehr ans Herz, ja das Licht auszulöschen; später kam Bodil selbst und sah nach, ob es geschehen war. Weich und schön lag er im Bette in dem reinen frischen Leinen und betete sein Vaterunser; aber wie müde er auch war, fühlte er sich doch außer Stande, sofort einzuschlafen.
Noch waren kaum vierundzwanzig Stunden verflossen, seitdem er Kopenhagen und seine alte Heimat, den »Runden Thurm« verlassen hatte. In dieser kurzen Zeit hatte er so unendlich viel erlebt, wie sonst in Jahren nicht. Er war auf dem Dampfschiffe gewesen und auf diesem segellosen Schiffe in herrlichem Wetter an mehr als hundert Schiffen vorübergeflogen, die alle ihre Segel beisetzten und ihnen doch nicht zu folgen vermochten. Er hatte die ganze Küste Seelands, Helsingör nebst Kronburg gesehen, ja sie waren der schwedischen Küste so nahe gekommen, daß man auf ihr Menschen zu Fuß und zu Pferde gewahrte. In Jütland war er in einer ganz fremden Stadt an das Land gestiegen und von dort über bedeutende Anhöhen, von denen man eine weite Aussicht hatte, eine große Strecke gefahren. Er war an Sandhügeln, so hoch erhaben, wie er sich die Berge vorstellte, vorübergekommen und in große Wälder hinein- und wieder hinausgefahren, immer in stiller Einsamkeit. In dem Wirthshause, in dem sie Rast hielten, war ihm alles, sogar die Sprache, vollkommen fremd, und jetzt war dieses Land, diese Stätte hier, von der er nichts wußte, wo ihm alle Menschen fremd waren, seine Heimat. Diese Gedanken erfüllten sein Gemüth und hielten seine Augen offen.
Durch das Fenster schien ein großer Stern zu ihm hinein; er kannte ihn; gerade derselbe hatte, wie es ihm schien, von derselben Stelle aus und in gleicher Höhe, dort oben auf dem Thurme manchen Abend zu ihm hereingestrahlt; er war ihm hier herüber gefolgt. Er freute sich darüber wie über den Anblick eines alten Freundes, sprach sein Abendgebet noch einmal und schlief dann ein.
Als er am nächsten Morgen zum Thee gerufen wurde, klang ihm Musik entgegen, lange, getragene Töne, wie von einer Schalmei oder Harmonika; von letzterer rührten sie her. In der Wohnstube saß eine Bauerfrau, die dem Instrumente mit großem Ernste Melodien entlockte, die wie ein altes Bardenlied klangen. Aus wunderbar großen, blauen Augen blickte ihn die Alte an.
Der Pfarrer saß im Lehnstuhle und sagte, als der letzte Ton verhallt war, mit freundlichem Lächeln: »Besten Dank, Grethe! Das war also der Gruß zum Willkommen! Ich wußte wohl, daß Euch euer Herz treiben würde, ihn mir zu bringen.«
»Ja,« erwiederte sie, »ich wußte, daß Ihr gestern Abend heimkehren würdet, und blieb lange über meine Schlafzeit auf, um Euch mein Willkommen bei der Rückkehr von der Königsstadt Kopenhagen, dieser langen, langen Reise zu bringen. Ich stand in meiner Thür und wartete; aber als es sich allzu lange über die Zeit hinauszog, kroch ich in das Bett und bin deshalb erst heute Morgen hierher gekommen.« Dabei küßte sie die Hand des Pfarrers.
Es war »Musikanten-Grethe«, wie sie genannt wurde. Sie wohnte in einem aus Torf gebauten Hause am Fuße des Hügels. Sie hatte sich hier mit dem Besten, was sie hatte, mit ihrem Schatze in dieser Welt eingefunden, und noch dazu mit einem Schatze, der sich gut verzinste. Viele Jahre besaß sie bereits diese Harmonika, und in Folge ihres merkwürdig guten Gehörs hatte sie sie spielen gelernt, ohne eine Note zu kennen. Jede alte Melodie, die sie singen konnte, jedes neue Lied, das sie hörte, konnte sie, einzig und allein von ihrem musikalischen Gehör geleitet, gar bald auf dem Instrumente spielen. Es wurde ihr zu einer kleinen Erwerbsquelle, indem sie bei Bauernhochzeiten bisweilen zum Tanze aufspielte. Dafür liebte sie diese Harmonika auch so innig, als wäre sie ein lebendes Wesen und freute sich über ihre Töne. Musik war nun einmal ihres Lebens Seligkeit. Eine aufrichtige Freude war es für sie, wenn sie einmal nach dem etwas entfernteren Kirchspiele kam, wo die jungen Pfarrerleute ein Klavier besaßen, welches die Frau wunderbar schön spielte. Oft hatte Musikanten-Grethe draußen auf dem Gange gestanden und der himmlischen Musik zugelauscht. Einige Male war sie hereingerufen worden, und als sie einmal mit der Pfarrerfrau allein gewesen und ihre Schüchternheit besiegt hatte, war es ihr zuletzt nach einigen Versuchen gelungen, die Melodie nachzuspielen. Wäre Musikanten-Grethe in anderen Lebensverhältnissen und in einer anderen Umgebung geboren, so wäre sie bei ihrem musikalischen Genie vielleicht eine europäische Größe in der Welt der Töne geworden; jetzt war sie nur die Musikanten-Grethe.
Sie war Niels erste Bekanntschaft in seiner neuen Heimat; bald kamen aber noch andere Persönlichkeiten zum Vorschein, Knechte und Mägde, Geflügel und Vierfüßler, kurz alles, was zum Hause gehörte, und alles war lustig anzusehen und bildete den vollkommenen Gegensatz zu dem, was Kopenhagen und die Stube auf dem »Runden Thurme« darbot. Einen Hund gab es zwar hier im Pfarrhofe ebenfalls, aber er lag an der Kette, bellte allerdings, kannte jedoch das Haus und wußte folglich, wer dazu gehörte. Die Schweine grunzten, die Enten schnatterten, Tauben und Sperlinge gingen friedlich umher, die Mägde nickten, die Knechte sangen; aber die Sprache war für Niels nicht leicht zu verstehen, sie schien ihm der Kopenhagener Sprechweise gar nicht zu ähneln.
Es war ein wahrhaft christliches Haus, in welches Niels eingetreten; es waren gute Menschen, mit dem besten Willen zum Guten beseelt. Hier herrschte viel Herzlichkeit und nur ein wenig zu viel Tabaksrauch. Daran war Vater Schuld, und trotzdem gönnten ihm alle das Vergnügen, welches er dabei empfand. Mutter und Bodil hatten sich ja ebenfalls an den Tabaksrauch gewöhnt.
Vierzehn Tage lang hatte Vater seine Pfeife nicht zu Hause geraucht, allein ihr Duft hatte sich gleichwohl, nicht verloren, der erfüllte alles, wie ja auch das russische Juchtenleder, die englischen Bücher und die Hobelspäne an dem Arbeitsrocke des Schreiners stets ihren eigentümlichen Duft behalten.
Der alte Japetus Mollerup war in seinem Herzen, wie es ja auch Christi Lehre ist, die Liebe selbst; seine Predigt war derselbe Erguß, obgleich in anderer Form. Wie in den Bildern, die uns die großen Meister des Mittelalters geschenkt haben, es nicht das Gräßliche, das triefende Blut, sondern das fromme tiefe Gefühl ist, die schöne Einfalt des Glaubens, was uns rührt und erhebt, so wurden des Pfarrers Zuhörer nicht sowohl von seinen Mahnungen an die Hölle, an einen strengen Gott und das Verderben der Sünde ergriffen, sondern vielmehr von der Innigkeit, die seine Predigt athmete, und von der Überzeugung, mit der er sprach. Zwischen Pfarrer und Gemeinde fand eine Art patriarchalischen Verhältnisses statt; die Worte des Greises waren die des Glaubens und der Wahrheit, auf die man sich getrost verließ, und diejenige, die ihm von allen am nächsten stand, seine brave christliche Hausfrau, blickte am vertrauensvollsten zu ihm auf und gab ihm ihr Ich, ihre Persönlichkeit ganz hin. Sein Gedanke und seine Meinung galten ihr als die einzig richtigen, sein Wort war ihr Gesetz, sein Verstand ein leuchtendes Licht. Daß ihr Mann nicht Probst geworden, galt ihr als das unzweideutigste Zeichen von der Ungerechtigkeit dieser Welt. Oft sann sie über die Herrlichkeit des jüngsten Gerichtes und das Feuer der Hölle in seiner ganzen Gräßlichkeit nach und dann trat bei ihr die sündige Menschennatur hervor. Sie konnte sich nicht des Gedankens erwehren, wie Einer oder der Andere aus ihrer Bekanntschaft würde brennen müssen, wenn nicht ewig, so doch einige Zeit, und es war einer ihrer höchsten Wünsche, Gott möchte sie das Ende der Welt erleben lassen, damit sie das jüngste Gericht zu sehen bekäme und erführe, wer verdammt würde. Sie wünschte sich doch zu vergewissern, daß sie sich in ihren Urtheilen nicht geirrt hätte.
Das dritte Blatt des häuslichen Kleeblattes war die Tochter Bodil, nicht nach einer Ritterfrau aus dem Mittelalter so genannt, sondern nach einer verstorbenen Tante, die die Frau eines Holzdrechslers gewesen war. Sie war von tiefem, innigem Gemüthe wie wenige. Das klare Licht des Verstandes leuchtete ihr in der kleinen Welt ihrer Umgebung und das des Glaubens in dem großen Reiche des Geistes. Der schöne Brauch alter Tage, daß die Dienstleute gleichsam mit zur Familie gehörten, hatte sich hier sein Recht gewahrt; selbst die Thiere waren in den Kreis des Zusammenlebens ein wenig näher hineingerückt. Sogar der Kettenhund schwänzelte freundlich, als Niels in gehöriger Entfernung Bodil folgte, die ihm sein Futter brachte; der Hahn blähte sein röthlich glänzendes Gefieder auf und ging stolz auf dem Misthaufen umher; die Enten watschelten behaglich einher und scheuten sich nicht, gierig aus dem Troge des Hundes zu naschen; Sperlinge und Tauben hüpften zwischen den Schweinen umher, die gemächlich auf dem Stroh faulenzten und, die milde Luft einathmend, grunzend im Sonnenscheine dalagen.
Die Windingedaler Hügel und die ganze Gegend um Silkeborg konnte man damals wie eine Art Wüstenei betrachten, die gleichsam außerhalb der civilisirten Welt lag; niemand dachte damals daran, daß sich hier an den Ufern des »Langsees« eine Stadt erheben würde, ja, nicht einmal von dem Anfange dazu, von der Fabrik, ließ man sich etwas träumen; diese entstand erst sieben Jahre nach Niels Ankunft. Zu jener Zeit wurde hier nur Tauschhandel getrieben; mit Ausnahme eines einzigen Fünfthalerscheines, von dem sämmtliche Bewohner der ganzen Gegend stets wußten, wer sich augenblicklich in seinem Besitze befand, gab es hier gar kein Geld. Das ist Thatsache!
Der erste Tag in der neuen Heimat war für Niels ein Ruhetag und sollte es auch sein; später sollte es ihm nicht an Arbeit fehlen, und er wahrlich nicht faulenzen; Müßiggang ist ja aller Laster Anfang.
Gegen Abend stopfte sich der Pfarrer sein Pfeifchen; von den Mahlzeiten abgesehen war es ihm, offen gestanden, eigentlich gar nicht aus dem Munde gekommen, aber um diese Zeit bereitete es ihm doch den größten Genuß. Darauf trat er, wie er seit Jahren zu thun pflegte, eine kleine Wanderung über die Felder die Haide entlang an. Niels, der den ganzen Tag noch nicht vom Hofe herunter gekommen war, nahm er zur Begleitung mit.
Sie schritten über einen mageren, röthlichen Boden; die Maulwurfshügel sahen wie Ziegelmehl aus; rings herum wuchsen Blumen, kleine und feine, rothe und gelbe. Sie stiegen auf die nächste Anhöhe hinauf, und in weiter Ausdehnung lag die Haide mit ihrem blühenden Haidekraut vor ihren Blicken; von der untergehenden Sonne beleuchtet, nahm sie sich wie das rothe Meer mit hochgehenden, aber erstarrten Wogen aus. Gegen Nordwesten lag Silkeborg mit seinen Wäldern und Seen, die Sümpfe mit den schwarzen Störchen, die Wälder, in denen der Königsadler und der Uhu horsten; hoch ragte der Himmelsberg empor mit seinem rothbraunen Gipfel; die Stille ringsum war so groß, daß auch der geringste Ton zu den Ohren drang; man vernahm das Schwirren einer Fliege, das Rauschen einer fernen Quelle und durch alle diese Töne hindurch gleichsam die Klänge einer Äolsharfe. Sie rührten von einer Harmonika her; Musikanten-Grethe machte Musik. Unmittelbar am Fuße des Hügels lag gegen Nordwesten ihr Haus, von Torfsteinen erbaut und mit Haidekraut gedeckt, welches in seinem Übergange zur Erde von Moos überzogen war und grüne Pflanzen, Hauslauch, ja sogar einen wilden Rosenstrauch trug. Musikanten-Grethe stand in der halbgeöffneten Thür, die Sonne schien ihr die Wangen zu röthen. Sie spielte, man hätte glauben sollen um ihres eigenen Vergnügens oder ihrer Andacht willen, aber es geschah zum Tanze; vor ihr bewegte sich in hüpfenden Tanzschritten eine höchst seltsame Gestalt. Wer die Geschichte von Peter Schlemihl gelesen hat, der seinen Schatten verkaufte und in der Welt umherwandeln ließ, hätte fürwahr glauben können, diesen leibhaftig hier vor sich zu sehen. Ein wirklicher Mensch konnte es unmöglich sein, so schlank, so schmächtig, so zart gebaut war diese Verkörperung eines menschlichen Wesens. Ein großer, blauangestrichener Kasten mit rothen Buchstaben und einem ledernen Riemen, an dem er getragen werden konnte, stand dicht daneben. Er glich einem Souffleurkasten, den man vor Beginn des Ballets fortzunehmen vergessen hatte.
»Das ist ja der Schneider,« rief plötzlich der Pfarrer und schaute lächelnd den hohen Sprüngen zu, ohne daß der Tänzer oder Musikanten-Grethe bemerkten, daß sie Zuschauer hatten. Der Tänzer endete seine Kunstleistung mit einem lautem »Hui, hui!« worauf Japetus Mollerup seinen Beifall durch Händeklatschen zu erkennen gab und rief: »Laudabilis, ein Tanzlehrer hätte es nicht besser machen können!«
Es war der »Flickschneider«, die »Nähnadel«, wie ihn Witzlinge seiner dürren Gestalt wegen aus Spott nannten. Der Spott nimmt, wie die Schatten, zu, je nördlicher man kommt; bei den Grönländern bildet er in allen Streitigkeiten die höchste Instanz und hat dieselbe entscheidende Bedeutung wie in civilisirten Ländern das Duell. – Der Flickschneider wanderte von Haus zu Haus, zu Gutsbesitzern wie zu Bauern, blieb Tage und Wochen lang da, setzte die Kleider in Stand, nähte das Aufgetrennte, flickte und wendete. Er war die lebendige Zeitung, wobei er aber in Folge seiner Gutmüthigkeit oder, wenn man will, seiner Vorsichtigkeit, sehr diplomatisch zu Werke ging; er wußte zu erzählen, ohne jemandem zu schaden, ohne Stachel, und trotzdem lebhaft. Der Schauplatz seiner Geschichten oder die Personen selbst nannte er häufig gar nicht, oder umschrieb sie wenigstens und fügte hinzu: »Etwas Lüge ist zwar dabei, aber die gehört dazu wie die Flunderhaut zum Kaffee; beide bedürfen der Klärung.«