Eine Woche mussten sich Mary, Dickon und Colin noch gedulden. Das Wetter war nicht sehr gut und Colin war ein wenig erkältet.
Aber sie trafen sich jeden Tag und plante genau, wie sie unbemerkt in den geheimen Garten kommen würden. Außerdem vertrieb Dickon mit seinen aufregenden Geschichten über die Tiere im Moor die Zeit.
An einem Tag ließ Colin den Obergärtner Mr. Roach in sein Zimmer kommen. Er teilte ihm mit, ganz wie immer in seiner Rayah-Art, dass er gedenke, heute Nachmittag im Rollstuhl in die Gärten zu fahren und er nicht wünsche, dass die Gärtner dann arbeiteten. Er wollte damit verhindern, dass jemand sie sehen und ihr Geheimnis lüften würde.
Als er Mr. Roach wieder weggeschickt hatte, war er zufrieden. "Heute Nachmittag werde ich ihn sehen. Wir sind jetzt sicher, niemand wird uns stören."
Dickon ging mit seinen Tieren in den Garten, als Mittagszeit war. Mary und Colin aßen zusammen. Colin war beim Essen sehr still und nachdenklich. "Du bekommst Augen wie Untertassen, wenn du nachdenkst, Colin", sagte Mary. "An was denkst du?"
"An den Frühling. Ich habe ihn noch nie erlebt, weil ich so selten draußen war. Und wenn ich doch mal hinausfuhr, habe ich nicht auf ihn geachtet", sagte er.
"Ich habe den Frühling auch erst hier kennen gelernt. In Indien gibt es nämlich keinen", bemerkte Mary.
Kurze Zeit später kam die Krankenschwester und zog Colin an. Heute half er sogar dabei und lag nicht, wie sonst, einfach nur da und ließ es geschehen. Die ganze Zeit lachte er und redete mit Mary.
Doktor Craven, der nach seinem Patient sehen wollte, erfuhr von der Krankenschwester, dass Colin einen guten Tag habe. "Er hat so gute Laune, dass er sich gesünder fühlt als sonst."
Der Doktor beschloss am frühen Abend wiederzukommen, um zu sehen, wie Colin der Ausflug bekommen war. Er bedauerte es ein wenig, dass die Krankenschwester nicht auch mitgehen würde, aber er vertraute Dickon.
Colin wurde von dem stärksten Diener in den Rollstuhl getragen, neben dem Dickon schon wartete. Nachdem der Rollstuhl mit Decken und Kissen ausgestattet worden war, entließ Colin die Diener.
Mary ging neben Dickon und Colin. Langsam schob Dickon den Rollstuhl nach draußen.
"Alles summt und singt", stellte Colin fest. "Und die Luft riecht so gut. Was ist das für ein Duft?" Colin atmete tief in seine schwache Brust ein.
"Das ist der Ginster, den du riechst. Er blüht gerade. Die Bienen werde sich heute darüber freuen", sagte Dickon.
Auf den Gartenwegen war kein Mensch zu sehen. Anscheinend hatte jeder Gärtner und Gärtnerbursche Colins Befehl bekommen, sich nicht zu zeigen.
Sie gingen nicht direkt zum geheimen Garten. Sie hatten Angst, es könnte sie doch jemand beobachten und so gingen sie ein paar Umwege, ehe sie in den großen Weg einbogen, an dem die mit Efeu behangene Mauer zu sehen war.
"Wir sind da." Mary wagte nur noch zu flüstern. "Hier habe ich nach dem Eingang gesucht und gesucht."
Colin sah an der Wand aus Efeu hoch. "Wir sind da? Ich sehe kein Tor", sagte Colin.
"Ich dachte auch, hier wäre kein Tor", antwortete Mary. "Aber sieh mal: Hier ist die Stelle, an der der Wind die Efeuranke zur Seite fegte." Sie hob die Ranke hoch.
Colin staunte. Tatsächlich, dort war eine Klinke zu sehen und ein Tor.
Mary öffnete das Tor und Dickon schob mit festem, sicherem Griff den Rollstuhl in den geheimen Garten. Das Tor fiel hinter ihnen zu.
Die Sonne fiel auf Colins Gesicht. Er schaute und schaute, wie Mary und Dickon es auch getan hatten.
Mary und Dickon sahen Colin erwartungsvoll an. Colin schien wie verzaubert. Sein Gesicht hatte einen ganz anderen Ausdruck und es hatte eine rosige Farbe.
"Ich fühle, dass ich leben werde. Leben!", rief er. "Mary, Dickon, ich werde für immer leben!"