Ein wenig zu spät kam Mary zum Mittagessen. Martha wartete bereits auf sie.
"Ich habe Dickon getroffen", erzählte Mary.
"Das habe ich mir schon gedacht. Er ist also wirklich gekommen", freute Martha sich. "Und? wie findest du ihn?"
"Er ist schön", antwortete Mary aus tiefer Überzeugung. Etwas verwundert, aber trotzdem zufrieden sah Martha Mary an.
"Was feststeht, ist, dass er der beste Junge auf der ganzen Welt ist. Dass er besonders hübsch ist, ist mir nie aufgefallen. Er hat eine Stupsnase."
"Ich mag seine Nase und auch seine runden Augen. Sie sind so blau wie der Himmel über dem Moor", sagte Mary.
Martha grinste in sich hinein.
Mary hatte ein wenig Angst, dass Martha schwierige Fragen stellen würde, aber sie tat es nicht, denn sie interessierte sich nicht für Gartenarbeit. Sie sagte nur, Mary solle Ben Weatherstaff nach einem Stück Garten fragen, auf dem Mary die Blumen pflanzen könne. Ben wäre gar nicht so schlimm, wie er aussähe und vor allem könne er tun und lassen was er wolle, weil er schon lange hier arbeite und Mr. Craven ihm vertraue.
Nach dem Mittagessen hatte Mary es sehr eilig, denn sie wollte zurück in den Garten. Aber Martha hielt sie fest. "Ich muss dir etwas sagen. Mr. Craven möchte dich sehen." Mary wurde blass. "Ich dachte, er wolle mich niemals sehen. Das sagte Pitcher doch, als ich hier ankam."
"Mrs. Medlock meint, dass er dich sehen will, weil meine Mutter ihm in der Stadt begegnet ist und mit ihm gesprochen hat. Ich glaube, sie hat ihm gesagt, dass er dich unbedingt kennen lernen müsse, bevor er morgen wieder für eine Weile wegfährt", erklärte Martha.
Mary war froh, dass ihr Onkel ab Morgen wieder fort sein würde. Vielleicht würde er bis zum Herbst oder Winter nicht wieder da sein. Dann hätte sie genug Zeit, um den verbotenen Garten zu beobachten, wie er wieder zum Leben erwachte. Wenn er es dann herausfinde und ihr den Garten wegnehmen würde, hätte sie zumindest diese Zeit für sich gehabt.
Mrs. Medlock kam ins Zimmer, gerade als Mary von Martha wissen wollte, warum Mr. Craven sie wohl sehen wollte.
"Martha, zieh Mary ihr bestes Kleid an. Du musst dich dringend noch kämmen, Mary. Du siehst ganz zersaust aus", wies Mrs. Medlock an. "Mr. Craven möchte, dass ich Mary jetzt zu ihm bringe."
Mary bekam ein flaues Gefühl im Magen, sie wurde schlagartig ganz blass. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie merkte, dass sie steif und trotzig wurde, denn sie fühlte sich hilflos. Sie ließ sich wortlos anziehen und bürsten und folgte Mrs. Medlock schweigend durch die Flure.
Mary war sich sicher, dass Mr. Craven und sie sich gegenseitig nicht ausstehen können würden und deswegen gab es auch nichts, was sie hätte noch sagen können.
Mrs.Medlock führte Mary in einen Teil des Hauses, den Mary nicht kannte. Dann klopfte sie an eine der Türen und als in diesem Zimmer ein "Herein" gesagt wurde,gingen sie hinein.
Mary sah den Mann vor dem Kamin sitzen. "Das ist Miss Mary, Sir", stellte Mrs. Medlock Mary vor. "Sie können gehen. Lassen Sie sie hier. Ich werde klingeln, wenn ich Sie brauche", sagte Mr. Craven.
Nun stand Mary allein und hilflos vor Mr. Craven und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Verlegen rieb sie sich die Hände und blieb einfach stehen. Er hatte gar keinen Buckel, stellte Mary fest. Seine schwarzen Haare waren durchzogen von weißen Strähnen.
Mr. Craven wandte sein Gesicht jetzt Mary zu.
"Komm näher", sagte er.
Als Mary zu ihm trat, sah sie, dass er nicht hässlich war. Aber er hatte einen unendlich traurigen Ausdruck im Gesicht, der verhinderte, dass es hübsch war. Er sah sie an und Mary konnte in seinem Gesicht sehen, dass er nicht wusste, was er mit Mary anfangen sollte.
"Wie geht es dir?", fragte er unbeholfen.
"Gut", antwortete Mary.
"Passt du gut auf dich auf?"
"Ja!"
Bekümmert rieb er sich die Stirn und stellte fest:"Du bist zu dünn."
"Ich habe aber schon zugenommen", erwiderte Mary steif.
Es kam Mary so vor, als ob Mr. Craven sie mit seinen traurigen schwarzen Augen gar nicht wirklich sehen konnte. Er schien etwas anderes vor Augen zu haben und über etwas anderes nachzudenken.
"Ich habe dich ganz vergessen. Eigentlich wollte ich eine Kinderfrau oder eine Erzieherin für dich anstellen, aber ich habe mich gar nicht mehr an dich erinnert", sprach er.
"Bitte", Mary hatte einen dicken Kloß im Hals, der es ihr schwer machte zu sprechen. "Bitte! Ich bin schon zu groß für eine Kinderfrau. Und eine Erzieherin möchte ich auch nicht."
Er sah Mary mit starrem Blick an.
"Das hat Mrs. Sowerby auch gemeint", sagte er teilnahmslos.
Mary fasste sich ein Herz. "Ist das Marthas Mutter?" stotterte sie.
"Ja, ich glaube schon."
"Sie muss es wissen, denn sie weiß alles über Kinder. Sie hat nämlich zwölf Stück."
"Was möchtest du denn tun?", fragte Mr. Craven.
Mary versuchte ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen und erwiderte, dass sie gerne draußen spielen würde. Wenn sie draußen wäre und den Wind vom Moor spüre, fühle sie sich kräftig.
Mr. Craven sah, dass Mary sich vor ihm fürchtete und wurde umso betrübter. Er sagte ihr, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Er sei doch ihr Beschützer, auch wenn er diese Aufgabe nicht besonders gut mache. Er versprach ihr, dass sie draußen spielen könnte, wann immer und wo immer sie wollte.
Mary konnte es nicht fassen. Sie war so aufgeregt, dass sie alle Vorsicht vergaß, als Mr. Craven sie fragte, ob sie noch irgendetwas haben wolle, vielleicht eine Puppe oder Bücher. Mary fragte in ihrem Eifer, ob sie wohl ein bisschen Erde haben dürfe.
Mr. Craven war tatsächlich ein wenig irritiert. "Was meinst du damit?", fragte er.
"Ich könnte Samen aussäen und den Blumen beim Wachsen zusehen", antwortete Mary und stockte, als sie sah, wie Mr. Craven sie anstarrte. Er wischte sich schnell über die Augen, stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab.
"Erde", sagte er zu sich selbst. Er schien sich an irgendetwas zu erinnern. Dann blieb er vor Mary stehen und blickte sie fast freundlich an. "Du kannst so viel Erde haben, wie du willst. Du erinnerst mich an jemanden, der die Erde liebte und alles, was auf ihr wächst. Wenn du einen Garten siehst, den du haben möchtest, kannst du ihn dir einfach nehmen", sagte er.
Als er dies zu ihr gesagt hatte, griff er nach der Glocke und läutete nach Mrs. Medlock. "Du musst jetzt gehen, ich bin müde. Auf Wiedersehen. Ich werde den ganzen Sommer fort sein."
Zu Mrs. Medlock sagte Mr. Craven, dass Mary, bevor sie Unterricht bekommen würde, erst noch kräftiger werden sollte. Sie solle Mary, so oft wie möglich draußen herumlaufen und sie dabei in Ruhe lassen. "Sie braucht frische Luft und Freiheit und viel Bewegung. Wenn es geht, soll Mrs. Sowerby dann und wann kommen und nach Mary sehen. Mary soll auch zwischendurch einmal zu der Hütte fahren", wies er Mrs. Medlock an.
Insgeheim war Mrs. Medlock froh, dass sie sich nicht allzu viel um Mary zu kümmern brauchte.
Mary rannte glücklich in ihr Zimmer zurück und überbrachte Martha freudig die guten Nachrichten. Sie konnte es kaum glauben. Sie durfte ihren Garten haben, bekam noch keine Erzieherin und durfte zum Häuschen der Sowerbys fahren. Feierlich sagte sie zu Martha: "Mr. Craven ist wirklich ein netter Mann, aber sein Gesicht ist sehr traurig und seine Stirn ist voll von tiefen Falten."
Mary beeilte sich nun, in den Garten zu laufen. Sie hoffte, Dickon würde noch da sein. Aber als sie ankam, fand sie alle Gartengeräte ordentlich zusammengepackt vor. Dickon war nirgends zu sehen. Dafür fand sie ein Stück Papier, das an einem Rosenbusch befestigt war. Dickon hatte es für sie hiergelassen. So gut er konnte, hatte er etwas darauf geschrieben. Außerdem war eine Zeichnung zu sehen.
Mary erkannte nach einer Weile, dass Dickon einen Vogel in seinem Nest gezeichnet hatte. Darunter stand: "Ich kumme widder."