Es gab nur eine einzige Straße in östlicher Richtung - die, nach Irkutsk. Nadja führte Michael Strogoff so schnell sie konnte, weil sie Angst hatte, entdeckt zu werden.
Wie Nadja die Anstrengungen dieser Nacht vom 16. auf den 17. August ertragen konnte, woher sie die Kräfte nahm, ist unbegreiflich. Ihr Füße waren von den vorangegangenen Märschen blutig, ihr Magen leer, und geschlafen hatte sie schon lange nicht mehr.
Nach zwölf Stunden machten sie in einem verlassenen Dorf Rast. Sie setzten sich, und dabei sah Nadja ihrem blinden Freund zum ersten Mal, seit er geblendet wurde, wieder ins Gesicht. Seine Lider waren blutrot unterlaufen, die Pupillen auffallend vergrößerst und Wimpern und Brauen zum Teil versengt.
Die glühende Klinge hatte seine Netzhaut zerstört. Michael Strogoff streckte die Hände aus.
"Du bist doch hier, Nadja?", fragte er.
"Natürlich bin ich bei dir - ich gehe auch nie wieder von dir weg, Michael!"
Der Kurier des Zaren zitterte, als ihn Nadja zum ersten Mal mit seinem richtigen Namen ansprach. Ihm wurde klar, dass das Mädchen inzwischen alles wusste.
"Wir können nicht zusammenbleiben, Nadja. Ohne mich kommst du viel schneller zu deinem Vater."
"Aber du brauchst mich jetzt doch viel dringender, als mein Vater! Oder willst du nicht mehr nach Irkutsk?"
"Doch, jetzt er recht!", rief Michael Strogoff spontan und voller Entschlossenheit.
"Dir haben sie alles genommen. Ich habe noch ein paar Rubel und meine gesunden Augen. Gott wird uns beistehen. Komm, Michael."
"Ich komme, Nadja."
Die beiden nannten sich nicht mehr Bruder und Schwester, das gemeinsame Unglück hatte sie mit einem neuen noch festeren Band zusammengeknüpft.
Sie standen auf und machten sich zu Fuß auf den langen Weg. Unterwegs klopfte Nadja an Türen und erbettelte Essen und Trinken. Michael gab sie das meiste davon und begnügte sich selbst mit den Krümeln.
"Isst du auch?", fragte er sie immer.
"Aber natürlich!", schwindelte sie ihm vor.
Mit aller Kraft kämpfte das Mädchen seine Erschöpfung nieder. Und da Michael Strogoff nicht den leisesten Seufzer hörte, marschierte er mit seiner ihm gewohnten Hast Richtung Osten. Aber warum? Glaubte er tatsächlich, er konnte gegen die Tataren etwas ausrichten? Blind und ohne Geld?
Einen Lichtblick gab es: Sollten sie es irgendwie bis Krasnojarsk schaffen, dann konnte er zum dortigen Gouverneur gehen und ihm Bericht erstatten. Der würde ihm zweifelslos die Weiterreise nach Irkutsk ermöglichen.
Als Nadja ihre letzten Kräfte zu verlassen drohten, kam ihnen der Zufall zu Hilfe. Ein klappriger Wagen fuhr von hinten heran. Dieses Fuhrwerk wurde Kibitka genannt und war für höchstens drei Personen konstruiert worden. Gewöhnlich spannte man drei Pferde vor eine Kibitka.
Hier war jedoch nur ein Pferd zu sehen. Auf dem Kutschbock saß ein junger Mann, daneben guckte ein neugieriger Hund in die Gegend. Nadja sah gleich, dass der Mann Russe war. Er hatte ein freundliches Gesicht und schien es nicht besonders eilig zu haben.
Die Kibitka hielt. Der Mann lächelte und sah sich das junge Mädchen an.
"Wo wollt ihr den hin?", fragte er ein wenig mitleidig.
Michael Strogoff war es, als hätte er die Stimme schon einmal irgendwo gehört. Sein anfängliches Misstrauen verschwand und er antwortete.
"Wir wollen nach Irkutsk."
"Wisst ihr eigentlich, wie weit das noch bis dorthin ist?"
"Ja, das wissen wir."
"Das schafft ihr niemals zu Fuß. Ich fahre nach Krasnojarsk. Kommt doch auf meinen Wagen. Nur fahre ich nicht besonders schnell. Ich möchte mein Pferd schonen.
"Wie heißt du?", fragte Michael Strogoff.
"Nikolaus Pigassof."
"Den Namen werde ich niemals vergessen."
Nadja und Michael stiegen auf und machten es sich so bequem, wie möglich. Nadja war so erschöpft, dass sie vom gleichmäßigen Schwanken des Wagens sehr bald einschlief.
Die beiden Männer begannen ein Gespräch und Michael erzählte, wie er geblendet wurde.
"Du Ärmster, das hat sicher sehr weh getan."
"Ja, schon."
"Hast du dabei nicht geweint?"
"Doch. Der Gedanke, dass ich all meine Lieben nicht mehr sehen kann, hat mich sehr traurig gemacht. Aber sag mal - kennst du mich eigentlich nicht mehr?"
"Dich?", fragte Nikolaus erstaunt.
"Ich erinnere mich genau an deine Stimme. Bist du aus Kolywan?"
"In der Tat. Ich war Beamter in der Telegrafenstation."
"Und bist geblieben, bis zum letzten Augenblick. Es war der Tag, als die Tataren Kolywan eroberten. Als der verrückte Franzose und der Engländer ihre Nachrichten telegrafiert haben, war ich auch im Raum."
"Ja, jetzt erinnere ich mich."
Inzwischen hoppelte die Kibitka weiter - in dem gemütlichen Tempo, das Michael Strogoff so gern ein bisschen verschärft hätte. Drei Stunden lang wurde gefahren, dann eine Stunde Rast gemacht. So ging das Tag und Nacht.
Nikolaus teilte seine Vorräte mit der größten Selbstverständlichkeit mit seinen Gästen. Nachdem Nadja einen Tag und eine Nacht geschlafen hatte, war sie wieder einigermaßen frisch. So kam man, wenn auch langsam, immer ein Stückchen vorwärts.
Manchmal schlief Nikolaus ein, die Zügel in der Hand. Dann konnte man beobachten, wie ihm Michael Strogoff vorsichtig, damit er nicht aufwachte, die Zügel wegnahm und das Pferd zu etwas schnellerem Trab ermunterte. Bis Nikolaus erwachte, war das Pferd jedoch längst wieder in seine gewohnte Gangart gewechselt.
Am 22. August erreichte die Kibitka das Dorf Atschinsk. Von hier waren es noch hundertzwanzig Kilometer bis Krasnojarsk. Seit sechs Tagen waren sie gemeinsam ohne Zwischenfall unterwegs.
Eines Tages fragte Michael Strogoff nach dem Wetter.
"Schön ist es, aber vermutlich sind es die letzten warmen Sommertage. Der Herbst in Sibirien ist kurz und bald kommen die ersten Fröste. Vielleicht müssen die Tataren über den Winter feste Quartiere beziehen."
"Nein, ihr Ziel ist Irkutsk. Da bin ich mir ganz sicher."
"Man sagt, sie haben diesen Verräter Iwan Ogareff bei sich. Hast du schon von ihm gehört? Er hat unser Vaterland verraten. Wenn ich an ihn denke, kenne ich mich selbst nicht mehr. Da werde ich so wütend, dass ich ihn umbringen könnte, wenn er mir begegnen würde."
"Ich auch - da kannst du dir sicher sein", erklärte Michael Strogoff ruhig.